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4 Soll und Haben – eine vorläufige Rechnung

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Russland und die Geopolitik des Westens

Es ist kurz nach Mitternacht, als Putin in seinem Büro in Moskau eintrifft. Wir sind an diesem Abend im Dezember 2011 zu einem unserer ersten langen Interviews verabredet. Wladimir Putin ist wie immer spät dran – und dieses Mal besonders spät. Die junge Dame aus dem Stab telefoniert die vergangenen Stunden alle paar Minuten mit ihrem Smartphone, um ungefähre Schätzungen über die Ankunftszeit Wladimir Putins herauszubekommenn, vorrangig zu ihrer eigenen Beruhigung, und das Personal fragt zum wiederholten Mal nach, ob es denn Kaffee, Tee oder doch lieber ein Glas Wein sein dürfe.

Die Sitzungen hätten länger gedauert als gedacht, sagt er der Form halber und lacht erst einmal über die Frage, ob sich der Raketenschild, den die NATO an den Grenzen aufstellt, denn doch nicht nur gegen den Iran richtet, wie das Militärbündnis behauptet. Dann holt er zu einer längeren Antwort aus: »Diese Raketensysteme decken unser Territorium bis zum Ural ab. Sie neutralisieren einen Teil unserer landgestützten Nuklearwaffen, die wiederum die Grundlage unseres Abwehrpotentials ausmachen. Allen Fachleuten ist das klar. Dann kommen sie zu uns und sagen: Keine Angst, Jungs. Wir bauen das zwar auf, aber wir werden das nicht gegen euch einsetzen. Wir sind doch die Guten. Schaut uns in die ehrlichen Augen.«

Für Wladimir Putin ist der Raketenschild nur ein Beispiel dafür, dass der Westen die Leistung Russlands nicht gewürdigt hat, den Zusammenbruch der Sowjetunion mit weitgehend friedlichen Mitteln zu bewältigen. Dass die Geschichte ihr Urteil über den real existierenden Sozialismus gesprochen hatte, hat er früh akzeptiert. Nur nicht, dass der Konkurs vom eigenen Führungspersonal so unprofessionell abgewickelt wurde. Wie innerhalb von nur zwei Wochen im Dezember 1991 die Sowjetunion aufhörte zu existieren, als die Präsidenten Russlands, der Ukraine und Weißrusslands auf einer Regierungsdatscha im Wald von Belowesch bei Minsk ihr Ende verkündeten. Einige Tage später wurde im Kreml die Fahne mit den Symbolen Hammer und Sichel eingerollt und durch den doppelköpfigen Adler aus der Zarenzeit ersetzt.

Damit trat über Nacht Russland mit knapp 145 Millionen überwiegend russischen Menschen die Nachfolge des einstigen Riesenreiches an. Der andere Teil mit ebenso vielen Menschen, die einstigen Sowjetrepubliken, versuchte nach Jahrzehnten der Abhängigkeit plötzlich auf eigenen Beinen zu stehen. Und über Nacht fanden sich über 20 Millionen Russen in einem anderen Staat wieder, mussten versuchen, sich jetzt als Ausländer zurechtzufinden. Eine Auseinandersetzung, die bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Diese Umstände seien der Grund gewesen, warum er vor Jahren von »einer der großen geopolitischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts« gesprochen habe.[26]

In seiner Zeit als Dezernent für Wirtschaft in St. Petersburg hat er schnell gelernt, dass Kapital in Zeiten der Globalisierung vorrangig nur in die Gegenden reist, in denen sich Investoren wohlfühlen. Die besten Voraussetzungen finden sich dort, wo die Steuersätze so niedrig sind wie die Löhne und die Menschen trotz miserabler Umstände ruhig bleiben. Es ist ihm damals, bei dem Crashkurs in Kapitalismus, klar geworden, wie wichtig es ist, dass auch Milliardäre im eigenen Land Steuern zahlen und den Staat respektieren.

Nicht nur das Gefühl, über den Tisch gezogen worden zu sein, treibt Putin um. Der mangelnde Respekt gegenüber den nationalen Interessen Russlands, auch wenn es schwächelt, ist für ihn mindestens ebenso verletzend. Für die nächsten Stunden ist er nicht zu bremsen, holt kaum Atem und erklärt zwischen Pelmeni und Tee im Detail, wie sich die militärische Landschaft in Europa verändert hat, ohne auf Russlands Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Wie sich der Warschauer Pakt, das sowjetische Militärbündnis, mit dem Ende der Sowjetunion aufgelöst, die NATO sich aber rasant erweitert hat. Wie 1999 erst Polen, Tschechien und Ungarn dem Militärbündnis beigetreten sind. Dann, 2004, kamen die baltischen Staaten zusammen mit Rumänien und der Slowakei dazu. Und schließlich 2008 Kroatien und Albanien – »obwohl uns bei der Wiedervereinigung Deutschlands versprochen wurde, keine Erweiterung der NATO zu betreiben«.

Über das Versprechen gibt es seit Jahren heftigen Streit. Es ist eine Kernfrage des neuen Ost-West-Konfliktes. Sicher ist, dass es darüber keinen schriftlichen Vertrag gibt. Aber ebenso sicher ist auch, dass darüber detailliert geredet wurde. In einem Vermerk des Auswärtigen Amtes heißt es über ein Gespräch des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher mit seinem russischen Kollegen Eduard Schewardnadse vom 10. Februar 1990: »BM [Bundesminister]: Uns sei bewusst, dass die Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands zur NATO komplizierte Fragen aufwerfe. Für uns stehe aber fest: Die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen.«[27]

Unstrittig ist auch, dass die Amerikaner diesen Standpunkt teilten, zumindest für den Moment. Die NATO werde ihren Einflussbereich »nicht einen Inch weiter nach Osten ausdehnen«, erklärte der US-Außenminister James Baker am 9. Februar 1990 im Katharinensaal des Kreml.[28]

»Das wurde alles gesagt. Dass dies nicht in einem internationalen Abkommen schriftlich festgehalten wurde, geht auf das Konto der damaligen sowjetischen Führung«, sagt Wladimir Putin und macht damit die eigenen Politiker für den folgenschweren Fehler verantwortlich. »Sie haben es verschlafen, und es gibt nun mal das geflügelte Wort, Gespräche kann man nicht zu den Akten nehmen.« Für Putin, so viel wird in dieser Nacht klar, ist dies aber auch ohne unterzeichnete Dokumente Nachweis genug, dass der Westen von Anfang an nicht viel mit einer versprochenen Partnerschaft am Hut hatte. »Wie es dann weiterging, das können Sie alles nachlesen«, empfiehlt mir der russische Präsident zum Abschied in den frühen Morgenstunden. »Lesen Sie Zbigniew Brzezinski.«

Putin

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