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2 Herkunft und Handlung

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Wie die Vergangenheit das Verhältnis von Putin und Merkel bestimmt

Die Stimmung auf dem Roten Platz vor dem Kreml ist entspannt, auch wenn es die größte Militärparade der russischen Nachkriegsgeschichte ist, die an diesem Morgen des 9. Mai 2015 auffährt. Der Himmel ist strahlend blau, das Lenin-Mausoleum aus dunkelrotem Granit ist gleichfalls mit blauen Stellwänden verhüllt. Die Demonstration aus historischer Erinnerung und präsenter militärischer Macht, die nach dem Glockenschlag des Erlöserturms Punkt 10.00 Uhr beginnt, ist exakt choreographiert. 16000 Soldaten, Panzer und Raketen paradieren an ordensgeschmückten Veteranen und Ehrengästen vorbei, bevor die neuesten Maschinen der Luftwaffe traditionsgemäß die russischen Nationalfarben in den Himmel malen.

Die Gesichter auf der Ehrentribüne sind andere als in den Jahren zuvor. Der Westen hat seine Teilnahme an der Feier des 70. Jahrestages des Sieges über Hitler-Deutschland wegen der Auseinandersetzung um die Ukraine abgesagt. Dafür hat Wladimir Putin neue Freunde eingeladen, die sich das Spektakel anschauen. Chinas Staatschef Xi Jinping und Indiens Präsident Pranab Mukherjee, Präsidenten ehemaliger Sowjetrepubliken und aus Ägypten und Südafrika sind gekommen. Auch UN-Generalsekretär Ban Ki-moon ist mit von der Partie.

Die Tonlage, die der russische Präsident in der Eröffnungsrede anschlägt, ist mild. Er würdigt den »grandiosen Sieg« der Roten Armee 1945 und erinnert daran, dass die Sowjetunion mit 27 Millionen Toten die meisten Opfer des Zweiten Weltkriegs zu beklagen hatte. Putin vergisst die abwesenden Verbündeten nicht, dankt den Alliierten von einst ausdrücklich. »Wir sind den Menschen in England, Frankreich und den USA dankbar für ihren Beitrag zu dem Sieg. Wir danken den Antifaschisten aus unterschiedlichen Ländern, die selbstlos im Untergrund gekämpft haben, auch in Deutschland.«[16]

Weder den Namen Lenin noch den des obersten Kriegsherrn der damaligen Zeit, Josef Stalin, erwähnt er. Den homöopathischen Teil zur Aufarbeitung dieser Geschichte übernimmt an diesem Tag ein Reporter des russischen Fernsehens, der in der Live-Übertragung darauf hinweist, man dürfe nicht vergessen, dass der Name Josef Stalin untrennbar mit dem Gulag, den Straflagern, verbunden sei. Im übrigen sei Patriotismus nicht die Liebe zur Macht, sondern die »Liebe zur Heimat«.

Und dann marschiert Wladimir Putin mit mehreren Hunderttausend Menschen ein Stück durch Moskau mit, viele tragen Bilder ihrer Eltern oder Großeltern bei sich, die vom »Großen Vaterländischen Krieg« betroffen waren. Auch er trägt das Bild seines Vaters. Es geht um die eigene Identität und Geschichtsschreibung, mit oder ohne den Westen. Die Stimmung ist gelassen. Dass Russland die Krim einverleibt hat, kümmert die meisten wenig. Dass die weltpolitische Lage bei aller unterschiedlichen Auffassung nun keine gemeinsame Feier des Sieges über Nazideutschland mehr zulässt, löst nur mildes Kopfschütteln aus.

Zum Eklat kommt es am Tag darauf. Angela Merkel legt zusammen mit dem russischen Präsidenten an der Kreml-Mauer Blumen am Grab des unbekannten Soldaten nieder. Die Trauerroutine der Kanzlerin ist als politische Kompensation gedacht, da sie wegen der Annexion der Krim ihre Teilnahme an der Siegesparade abgesagt hat. Am Anfang läuft noch alles wie geplant. Militärmusik und Kinder, die ein Foto mit der Bundeskanzlerin und dem Präsidenten wollen. Der Besuch, der als öffentliche Inszenierung und Zeichen des guten deutschen Willens in schwierigen Zeiten gedacht ist, um Gesprächsbereitschaft zu signalisieren, entgleist Stunden später auf der gemeinsamen Pressekonferenz, die live im Fernsehen übertragen wird. Die Körpersprache der Kanzlerin signalisiert größtmögliche Distanz zum Gastgeber. Angela Merkel blickt mit besorgter Miene routiniert in die Kameras und demonstriert nach der Kranzniederlegung verbal Abscheu vor den Taten des Gastgebers.

»Durch die verbrecherische und völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die militärischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine hat die Zusammenarbeit einen schweren Rückschlag erlitten.« Das Wort Verbrechen hat sie in Moskau nur noch in einem anderen Zusammenhang auf ihrem Sprechzettel stehen: als sie auf das »Verbrechen des Holocaust« eingeht. Wladimir Putin hat die Gleichsetzung an diesem nationalen Feiertag registriert. Er übergeht die undiplomatische Breitseite unkommentiert. Die Situation ist schwierig. Er hat diesen Vergleich gerade an diesem Tag allerdings nicht vergessen.[17]

Er hat ihn getroffen, auch wenn er auf seine typische Art und Weise rationalisiert, den Eklat als gewöhnliches politisches Geschäftsmuster herunterspielt. »Sie war als die einzige Regierungschefin der G7-Runde da. Und alles, was mit Krieg zusammenhängt, sorgt natürlich für emotionale und politische Erregung«, formuliert er einen Monat später bei unserem Gespräch über die neue deutsch-russische Befindlichkeit zurückhaltend. Dass Merkel in der Situation eine Geste für die Ukraine setzen muss, betrachte er als kalkulierte Profibotschaft, mit der immer zu rechnen sei, und natürlich stimmt er ihrer Einschätzung nicht zu. Dann müsse man doch wohl zumindest auch den kriminellen Umsturz in Kiew mit seinen Toten erwähnen. Oder die Veränderung der Nachkriegsordnung in Jugoslawien oder im Irak, zählt er routiniert eine lange Liste westlicher Verstöße auf, um dann doch nach all den Relativierungen und Aufzählungen eher abrupt mit einer klaren Feststellung zu enden: »Die Bundeskanzlerin vertritt nicht irgendein europäisches Land, sondern Deutschland. Deswegen war das ein Übergriff von ihrer Seite. Aber sie war Gast, und deshalb habe ich es vorgezogen zu schweigen. Es wäre nicht angebracht gewesen, Streit anzufangen.«

Die Gleichsetzung zwischen der Annexion der Krim und dem Holocaust sei ein Versehen gewesen, sagt ein Vertrauter Merkels. Noch auf dem Flug nach Moskau sei man mit ihr den Sprechzettel für den heiklen Besuch durchgegangen. Während der Pressekonferenz sei die Kanzlerin dann bei ihrem Blick auf den Sprechzettel in die falsche Spalte geraten. In jenen Absatz, wo vom Verbrechen des Holocaust die Rede gewesen sei. Die Version ist nicht auszuschließen.

Das Problem von Angela Merkel ist nur, dass ihr Wladimir Putin den vermeintlichen Ausrutscher durchaus als gezielten Affront zugetraut hat. Für den russischen Präsidenten ist es im Kontext dieses nationalen Feiertags zu Ehren des Großen Vaterländischen Krieges schwieriger als sonst, zu schweigen, weil Merkels Fauxpas kein Einzelfall ist. Die kompromittierende Gleichsetzung schließt sich nahtlos an die Attacke des polnischen Außenministers Grzegorz Schetyna an, der in einem Radiointerview zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zuvor behauptete, es seien ukrainische, nicht sowjetische Soldaten gewesen, die Auschwitz befreit hätten. Polen hatte den russischen Präsidenten als Repräsentanten der Befreier nicht zu der Feier eingeladen, wohl aber den Vertreter der Täter, Bundespräsident Joachim Gauck.

»So viel steht fest«, kommentierte der renommierte Historiker Götz Aly das Geschehen in der Berliner Zeitung, »weder Polen noch ›der Westen‹, ›die Zivilgesellschaft‹ oder die Nato haben Auschwitz befreit, sondern allein die sowjetischen Streitkräfte. Deswegen ist es gedankenlos, gefühlsroh und politisch fahrlässig, den 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zu begehen, ohne die Vertreter Russlands einzuladen. Äußerlich ist die polnische Regierung für diesen Missgriff verantwortlich; die Bundeskanzlerin mimt die Unbeteiligte.« Götz Aly nennt auch die militärische Einheit: »Rotarmisten der 60. Armee der I. Ukrainischen Front. 213 ihrer Kameraden waren bei den Kämpfen um Auschwitz gefallen.«[18]

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