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Macht und Meinung
ОглавлениеDer Fall Wladimir Putin und die Ukraine hat auch eine Debatte um die Glaubwürdigkeit der Medien losgetreten. Nicht alle teilen die Meinung gestandener Zeitungsmacher und Fernsehkorrespondenten, Russland trage die alleinige Schuld an dem Konflikt. ZDF und ARD werden seit Beginn der Krise mit Programmbeschwerden überschwemmt, die über eine einseitige Berichterstattung in Sachen Putin und der Ukraine klagen. Nicht ohne Grund. Der Programmbeirat der ARD etwa kritisierte den eigenen Sender wegen der Berichterstattung heftig. Wegen der Klagen hatten die Programmwächter selbst eine Reihe von Sendungen unter die Lupe genommen und waren zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Die ARD habe undifferenziert und »tendenziös« berichtet, monierten sie im Juni 2014 und präsentierten eine lange Liste von eklatanten Fehlleistungen. Weder seien die »strategischen Absichten der NATO bei der Osterweiterung« beleuchtet worden, noch hätten die Berichterstatter bei dem Umsturz in Kiew die Rolle des Majdanrats oder der »radikal nationalistischen Kräfte, insbesondere Swoboda« genauer betrachtet. Das offizielle Resümee des ARD-Gremiums: »Der Programmbeirat kam aufgrund seiner Beobachtungen zu dem Schluss, dass die Berichterstattung im Ersten über die Krise in der Ukraine teilweise den Eindruck der Voreingenommenheit erweckt hat und tendenziell gegen Russland und die russischen Positionen gerichtet war.«[1]
Den großen Tageszeitungen ging es ähnlich. Bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Zeit oder der Süddeutschen Zeitung trafen Tausende von Beschwerden mit kritischen Kommentaren ein. Leser erklären, sie hielten die Sicht der Blätter für voreingenommen, drohen damit, ihre Abonnements abzubestellen. Allerdings zweifeln viele Journalisten seither noch weniger an der eigenen Berichterstattung als am Urteilsvermögen ihrer Kundschaft. Sie sehen in der schwindenden Interpretationshoheit nur einen weiteren Beleg dafür, wie effektiv in Deutschland russische Propaganda wirkt.
Die Vorstellung, dass bei dieser Debatte nicht nur Putin-Trolle am Werk sind, setzt sich bei den etablierten Medien nur langsam durch. Die Deutungshoheit von Journalisten ist schon seit längerem gebrochen. Daran ändern die »täglichen Abrechnungen mit dummen ignoranten Politikern« wenig, wie Frank-Walter Steinmeier im November 2014 in einer Grundsatzrede das Verhältnis von Politik und Journalismus süffisant kritisierte. Die Distanz müsse gewahrt werden, und das gehe nur, »wenn auch Journalisten sich vor der Versuchung schützen, Politiker zu sein. (…) Das sind sie nicht. Politiker sind keine Journalisten, und Jornalisten sind keine Politiker.« Der eher bedächtige Außenminister schrieb den Medien noch ein paar weitere Sätze ins Stammbuch: »Wenn ich morgens manchmal durch den Pressespiegel meines Hauses blättere, habe ich das Gefühl: Der Meinungskorridor war schon mal breiter«, so Steinmeier. »Der Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten scheint mir ziemlich hoch.«[2]
Die lautstarke Diskussion über Wladimir Putin stützt sich nicht zuletzt überwiegend auf Argumente der political correctness. Diese politische Korrektheit hat allerdings mit vielem, aber nur wenig mit analytischer Betrachtung von Außenpolitik zu tun. Es geht um den Versuch, die persönliche Überzeugung für alle überall verbindlich zu machen. Ohne Rücksicht auf lästige Rangfolgen und Prioritäten. Sondern jetzt, sofort. Vornehmlich nach dem Lifestyle-Rezept der persönlichen Befindlichkeit: Wo esse ich heute Abend am besten vegetarisch? Was ziehe ich an, und warum setzt Wladimir Putin in Russland nicht endlich die Homo-Ehe durch?
Unsere journalistischen Beziehungen zum neuen Russland sind ein emotionaler Cocktail aus Sympathie und eigener Größenvorstellung. Bereits nach dem Kollaps der Sowjetunion produzierten deutsche Journalisten im neuen Wir-Gefühl Tausende von Artikeln mit gutgemeinten Ratschlägen und strengen Warnungen vor Irrwegen. Wir haben nie damit aufgehört, Kopfnoten für korrektes Verhalten zu verteilen, und glauben stets genau zu wissen, wie der »failed state« Russland auf dem Weg in den Westen weiter vorankommen könnte. Die russische Politik zeigt sich für das Engagement deutscher Reformpädagogik allerdings nur bedingt empfänglich. Auch die Richtung der Marschroute war keineswegs abgesprochen. Und so endete die Beziehung bald dort, wo unerwiderte Leidenschaft in der Regel immer endet: im gegenseitigen Frust.
Die Chronik der Erwartungen in Deutschland über Putins Russland ist die Folge einer lange gepflegten Illusion. »Nach dem Ende des Kommunismus herrschte die Annahme, Russland und Europa seien gleichen Werten verpflichtet«, schrieb nicht nur ein Leitartikler der Wochenzeitung Die Zeit enttäuscht.[3] Nur hatte diese selbst gesetzte Annahme gleicher Werte, die da »herrschte« und als unstrittig vorausgesetzt wurde und wird, wenig mit der gesellschaftlichen Realität jener Zeit zu tun.
Das Ende der Sowjetunion beruhte nicht auf einer gemeinsamen Vereinbarung von Ost und West mit dem Ziel, anschließend auf der Grundlage westlicher Menschenrechte den neuen russischen Menschen zu schaffen. Der Kollaps der früheren Sowjetunion war das Ergebnis einer gigantischen wirtschaftlichen Pleite und der Unfähigkeit einer politisch-bürokratischen Machtelite, das vorauszusehen und abzuwenden. Es war Gorbatschow, der den Anfang vom Ende der Sowjetunion einleitete – und nicht die deutschen Leitartikler. Schon 2008 beschwerte sich Michail Gorbatschow in einem offenen Brief an die deutschen Journalisten über das Russland-Bashing: »Beim aufmerksamen Blick auf die Flut von Veröffentlichungen in Deutschland wird man jedoch schwer den Eindruck wieder los, als ob man es mit einer gezielten Kampagne zu tun hat, als ob alle aus einer einzigen Quelle schöpften, die eine Handvoll Thesen enthält (in Russland gebe es keine Demokratie; die Meinungsfreiheit werde unterdrückt; eine arglistige Energiepolitik werde durchgesetzt; die Machthaber drifteten immer weiter in Richtung Diktatur ab – und so weiter und so fort.)«[4]
»Der Russe als solcher« kommt dagegen bei uns besser weg. Immerhin, so die Hoffnung, sei die russische Bevölkerung irgendwie lernwillig. Auch wenn die Menschen nach der Einschätzung vieler Berichterstatter bedauerlicherweise nicht wissen, wie sie ihren Präsidenten Wladimir Putin loswerden können. Sie wählen ihn einfach immer wieder.
Wer also ist Wladimir Putin? Was bewegt ihn, hat ihn geprägt? Dieses Buch ist eine Annäherung an die Welt des Wladimir Wladimirowitsch Putin. Es ist weder eine wissenschaftliche Habilitation, noch erhebt es den Anspruch auf Vollständigkeit. Ich habe den russischen Präsidenten zum ersten Mal im Januar 2010 in Moskau zu einem Interview über Energiefragen getroffen. Damals absolvierte er gerade eine politische Abklingphase als Ministerpräsident zwischen seiner zweiten und dritten Präsidentenzeit, weil die russische Verfassung nur zwei Amtsperioden hintereinander als Präsident erlaubt. Wir sprachen über eine Fernsehdokumentation. Er akzeptierte die Bedingungen, dass er weder den Film noch die Interviews, die wir im Laufe der monatelangen Dreharbeiten geführt haben, vor der Ausstrahlung im Deutschen Fernsehen 2012 zu sehen bekam, um sie zu autorisieren. Eine Regelung, die auch für dieses Buch gilt. Der Film Ich, Putin – ein Porträt für die ARD[5] war der Auftakt zu einer Reihe weiterer Begegnungen und Gespräche, die wir seither regelmäßig in Moskau, Sotschi, Petersburg, Wladiwostok oder auch auf Auslandsreisen geführt haben. Der Film war der Beginn meiner Beziehung zum russischen Präsidenten. Die Währung zwischen Politikern und Journalisten setzt sich zusammen aus Information und Vertrauen. Sie funktioniert nur, wenn beide ihr Gegenüber ernst nehmen. Politiker-Bashing ist populär, bringt allerdings wenige Erkenntnisse. Die Methoden der Politik und der Medien sind durchaus ähnlich. Politiker versuchen, Journalisten zu instrumentalisieren, und Journalisten instrumentalisieren Politiker. Das ist in Berlin genauso wie in Washington und Moskau, ob die Politiker nun Merkel, Obama oder Putin heißen. Es geht um Öffentlichkeit, die Geschäftsgrundlage für beide Professionen.
Nähe ist die Voraussetzung für Informationen, die über die Inszenierung hinausgehen. Den Rest regelt das Handwerk. Ich habe neben den Gesprächen mit Putin zahlreiche seiner Weggefährten in Moskau gesprochen, und auch mit Politikern in Berlin, Brüssel oder Washington. Manche haben kein Problem damit, zitiert zu werden, andere wollen nicht namentlich genannt werden. Auch das gehört zum Gewerbe.
Wladimir Putin nimmt als Politiker wie seine Kollegen im Westen fast jedes Rollenspiel an, das ihm nützt. Er pocht allerdings auf den Unterschied zwischen Amt und Privatleben. Zum Selbstschutz wie auch zum Schutz seiner Familie. Keine Homestories, keine Geschichten à la Gala oder Bunte über die Familie oder andere private Beziehungen. »Ich bin für Medien interessant, weil ich Politiker bin und russischer Präsident«, erklärt er. »Meine Töchter haben kein politisches Amt, und meine persönlichen Beziehungen sind keine Frage der Politik, sondern meine private Angelegenheit.« Daran habe ich mich gehalten. Auch deswegen, weil ich die Ansicht teile.
Es geht um Politik. Politik wird von der Geschichte bestimmt, von konkreten Interessen und der kollektiven Erfahrung eines Landes – und sie wird natürlich von aktuellen Ereignissen getrieben. Was nicht zuletzt der Abschuss der malaysischen Passagiermaschine MH17 im Osten der Ukraine 2014 zeigte, der die Temperatur zwischen West und Ost gänzlich unter null sinken ließ. Bei Wladimir Putin ist dies nicht anders als bei Barack Obama oder Angela Merkel. Und jedes Land kultiviert seine eigene Erzählung über die eigene Geschichte. Der russische Präsident hätte sich nicht über 15 Jahre in höchsten politischen Ämtern gehalten, würde er seine Entscheidungen nach persönlichen Vorlieben fällen, isoliert von russischer Geschichte, internen Konflikten und globalen Machtkämpfen.
Wichtige Stationen seines Lebens verlaufen parallel zu den Bruchlinien seines Landes. Seine Kindheit verbrachte er in der Ära einer stabilen sowjetischen Normalität in St. Petersburg. Der Zusammenbruch des Landes erreicht ihn, als der einstige Auslandsspion nach fünfjähriger Dienstzeit in Dresden gerade wieder im zivilen Leben als Jurist in der Verwaltung seiner Heimatstadt Fuß fasst. Als Beamter in der Administration des Kreml beobachtet er ein paar Jahre später den Verfall der staatlichen Ordnung und lernt sehr schnell, wie die Mechanismen der Macht während der chaotischen Jelzin-Jahre funktionieren.
Seither versucht er als Präsident das strapazierte Selbstbewusstsein seiner Nation wieder aufzubauen und greift auf die eigene Geschichte und Erfahrung zurück, vom Zarenreich über die Verhältnisse in der einstigen Sowjetunion bis hin zur orthodoxen Kirche – ob es dem Westen gefällt oder nicht. Für Putin ist die NATO-Erweiterung in Richtung russischer Grenze seit 1999 – gepaart mit den ständigen Ratschlägen aus Washington und Berlin, deren politische Vorstellungen doch gefälligst auch für Russland zu übernehmen – eine bewusste Ausweitung der Kampfzone aus dem Kalten Krieg. Mit Einschätzungen, die oft genug Fehleinschätzungen sind und auch das Verhältnis zwischen der ostdeutschen Kanzlerin Angela Merkel und Wladimir Putin belasten.
In diesem Buch geht es um die Zusammenhänge der konkurrierenden Interessen und um den genuinen Blickwinkel Wladimir Putins, wie er ihn bei unseren Treffen geschildert hat. Es ist die Chronik einer angekündigten Konfrontation, die 2014 einen vorläufig letzten Höhepunkt erreicht. Während Russland im Februar 2014 die Olympischen Winterspiele in Sotschi als nationales Großereignis feiert, stürzen in Kiew Demonstranten nach einem jahrelangen Tauziehen des Westens mit Russland vom Majdan aus die Regierung in der Ukraine. Wladimir Putins Antwort ist die Annexion der Krim. »Die Dämonisierung von Wladimir Putin ist keine Strategie; sie ist ein Alibi für die Abwesenheit einer Strategie«, diagnostizierte der einstige Machtpolitiker Henry Kissinger.[6] Aber dieses Alibi ist zugleich auch eine Waffe, und auch darum geht es in diesem Buch.