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Political correctness statt Analyse

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»Ich muss so sein, wie mein Volk will«, war die knappe Antwort Putins in einem der ersten Interviews, als ich fragte, ob die Werte des Westens für ihn keine Rolle spielten. Was die Mehrheit seines Volks will, lässt Wladimir Putin penibel, wie andere Regierungschefs auch, durch Umfragen ermitteln – ähnlich wie die deutsche Bundeskanzlerin. Angela Merkels ausgeprägter Sinn für die Stimmungen der Deutschen ist keine prophetische Gabe, sondern angewandte Demoskopie. In der Legislaturperiode 2009 bis 2013 gab das Bundespresseamt rund 600 vertrauliche Umfragen in Auftrag – über die Beliebtheit einzelner Minister bis zur Akzeptanz möglicher Regierungsprojekte. Putin hält es ähnlich.

Glaubt man den regelmäßigen Umfragen der im Regierungsauftrag tätigen Institute und dem angesehenen Lewada-Zentrum in Moskau, das der Opposition nahesteht, besteht für die meisten Menschen in Russland die Welt aus vielen Feinden und wenigen Verbündeten. Die Rechte von Minderheiten und Menschenrechte stehen nicht besonders hoch im Kurs, und nur ein kleiner Teil der Jüngeren träumt von einem EU-Beitritt.

Viele fühlen sich nach dem Kollaps der einstigen Weltmacht Sowjetunion noch immer minderwertig. Und nach wie vor will der größte Teil einen vorrangig russisch-demokratischen Staat ohne Hilfe oder gute Ratschläge von außen – wie auch immer diese Demokratie genau aussehen mag. Der Wunsch nach Sicherheit ist groß, und die territoriale Integrität des Landes hat Vorrang. Gleichzeitig wächst die Angst vor Fremden und dem Islam. Daten wie diese sind die Blaupause, mit der Wladimir Putin und die politische Elite Russlands Politik machen.[19] Das Ergebnis der Studie kann man mögen oder ablehnen. Man muss es allerdings zur Kenntnis nehmen.

Wer, wie es auch oft Angela Merkel praktiziert, politische Korrektheit predigt, statt zu analysieren, wer welche Interessen hat, vergibt die Chance, konkret Politik zu machen und Kompromisse zu erreichen, und präsentiert bestenfalls eine Wunschliste für die persönliche Selbstverwirklichung. Das kann im Einzelfall durchaus glücklich machen. Als politisches Konzept funktioniert es auf Dauer genauso wenig wie als journalistisches Handwerksprinzip. Kein anderes Land oder Staatsoberhaupt wird bei uns derart nach Kriterien persönlicher Wellness betrachtet.

Dass nun ausgerechnet eine ehemalige FDJ-Funktionärin aus Ostdeutschland und ein einstiger russischer Geheimagent, der fünf Jahre in Dresden gelebt hat, über den Frieden in Europa verhandeln, ist ein ironischer Schlenker der Geschichte. Dass beide die Sprache des anderen sprechen, ein weiterer Zufall. Nur leichter wird es deswegen nicht unbedingt. Berichte über Angela Merkels DDR-Erfahrungen mit der russischen Besatzung gipfelten zu Beginn ihrer Politkarriere im Westen stets in der kolportierten Geschichte, russische Soldaten hätten ihr im einstigen Arbeiter-und-Bauern-Staat das Fahrrad geklaut. Und dass sie stattdessen heimlich für die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarność geschwärmt habe, die dem Land die Freiheit brachte, ist für jemanden mit ihrem Hintergrund offenkundig prägend.[20]

So setzt sie sich als Oppositionsführerin der Union im Bundestag selbstverständlich für den Irakkrieg an der Seite Amerikas ein und wirft dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder mangelndes Demokratieverständnis vor, als dieser zusammen mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac und Wladimir Putin den Einsatz ablehnt. Die angeblichen Belege für die Massenvernichtungsmittel Saddam Husseins, die Amerika der Weltöffentlichkeit in einer spektakulären Pressekonferenz als Kriegsgrund präsentierte, erwiesen sich als Kriegspropaganda. Sie waren gefälscht.

Trotzdem gilt die USA der pragmatischen Pfarrerstochter als der Garant für Freiheit und Frieden auf der Welt, Irakkrieg oder weltweiter Drohnenkrieg hin oder her. Die NSA-Affäre, die offenlegt, wie die USA ein weltweites Überwachungssystem etabliert haben und ohne Rücksicht auf Freunde oder Verbündete etwa Merkels Handy abhören oder systematisch Daten deutscher Unternehmen klauen lassen, ist kein Grund für sie, auf Distanz zu gehen. Dass der Bundesnachrichtendienst seit seiner Gründung durch die USA eine Außenstelle amerikanischer Geheimdienste war und es auch im souveränen Deutschland weiter bleibt, ist eben die andere Seite der Macht, ohne die nach der Merkel’schen Logik nichts geht. Das Leben hat Schattenseiten, und man muss auch mal fünf gerade sein lassen, wenn man auf der richtigen Seite steht. Angela Merkel steht wie kaum jemand anderes stets auf der richtigen Seite, auch wenn sie ständig nachjustieren muss.

»Freiheit, das ist für sie Amerika. Der Standfestigkeit dieses Landes verdankt sie am Ende auch ihre Freiheit«, schreibt ihr Biograph, der Auslandschef der Süddeutschen Zeitung Stefan Kornelius, gleichfalls bekennender Transatlantiker, in seinem Buch Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Welt. Kornelius’ Kommentare sind ziemlich deckungsgleich mit dem Dogma der Kanzlerin, wenn er Angela Merkel zitiert: »Was uns Europäer zusammenführt und zusammenhält, ist die gemeinsame Wertebasis (…) Es ist ein gemeinsames Verständnis von Freiheit in Verantwortung.« Niemals dürfe Deutschland Politik gegen die Interessen der USA machen, erklärt Kornelius ein wesentliches Prinzip der Kanzlerin.[21]

Es ist ein gesamtdeutsches Erbe, das in Angela Merkel seinen ganz speziellen Ausdruck findet. Ihre Vorliebe für Osteuropa, für das sich die ostdeutsche Kanzlerin in einer Art persönlicher Wiedergutmachung engagiert, schafft ein Problem. Merkels Bestrebung, als Leihmutter Europas die historischen Konflikte Polens und der baltischen Staaten mit Russland stellvertretend auszutragen, kann politisch nicht funktionieren. Nationale Traumata lassen sich nur mit der eigenen Identität und im direkten Kontakt der Betroffenen bewältigen, nicht durch Vermittlung einer gefühlten Vertreterin des Leids anderer. Zudem beschädigt der Versuch auf Dauer das Verhältnis von Deutschland und Russland.

Die Vorliebe für Macht und Taktik, die Putin und Merkel teilen, erleichtert die Kommunikation gleichfalls nicht. Beide treibt die gleiche Sorge um, der andere könnte ihr oder ihm jenseits öffentlicher Erklärungen in die Karten blicken und womöglich feststellen, dass es gar keinen Masterplan gibt.

Niemand aus der Riege der westlichen Politiker telefoniert mehr mit dem Mann im Kreml als Angela Merkel. Doch der Griff nach dem Hörer heißt nicht, automatisch die Interessen des anderen zu kennen, geschweige denn anzuerkennen. Für die deutsche Kanzlerin lebt »Putin in einer anderen Welt«, wie sie Barack Obama vertraulich erzählte, sie sei sich nicht sicher, ob er noch einen Bezug zur Realität habe. Die Aussage konnte Angela Merkel am nächsten Morgen in der New York Times nachlesen.[22] Dass diese andere Welt auch uns konkret betrifft, ist ein mühevoller Lernprozess, den nicht nur das Kanzleramt durchmacht.

Zu Merkels unerschütterlichem Vertrauen in die USA kommt die mangelnde Sensibilität für den richtigen Zeitpunkt und die Geschichte des anderen, die mehr als einmal nur schwer wieder einzufangende Irritationen ausgelöst hat. Von dem neuen Konzept der Cultural Intelligence, jener proklamierten Rücksichtnahme der deutschen Politik auf die Erfahrungen eines Landes, die die Außenpolitik der Bundesrepublik bestimmen soll, ist im Verhältnis zu Moskau wenig zu spüren.

Wie etwa im Juni 2013 in St. Petersburg. Der Termin ist Routine. Eine Delegation deutscher Vorstandsvorsitzender und Angela Merkel wollen mit dem Gastgeber über weitere Projekte der »Modernisierungspartnerschaft« sprechen, wie die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder heißt. Am Abend sollen Wladimir Putin und die deutsche Kanzlerin als öffentliches Zeichen guten Willens gemeinsam eine Ausstellung in der Eremitage eröffnen. Das Thema verlangt Fingerspitzengefühl, es geht um Beutekunst. Das renommierte Museum an der Newa hat mit deutschen und russischen Experten den Goldschatz von Eberswalde aufbereitet, den einst sowjetische Soldaten am Ende des Krieges mit nach Hause genommen hatten. Angela Merkel möchte bei dieser Gelegenheit eine Rede halten, streut das Kanzleramt. Der Tenor der Botschaft: Der Schatz solle doch wieder dahin, wo er hingehört, zurück nach Deutschland. Der Streit darüber geht schon lange. Russlands Argument, das Gold sei mit dem Tod von Millionen russischer Menschen bereits mehr als bezahlt, ist in Berlin bekannt und abgelehnt.

Die Differenzen sind exzellentes Material für das gängige Spiel zwischen Politik und Journalismus, ein Thema hochzukochen. Am Morgen des Abflugs in Berlin informiert der Pressesprecher die versammelten Journalisten über massive Unstimmigkeiten zwischen Kreml und Kanzleramt. Die Russen wollten nicht, dass Merkel redet, aber die deutsche Kanzlerin lasse sich nicht einfach den Mund verbieten. Der vermeintliche Skandal läuft schnell auf Hochtouren. »Beutekunst in Sankt Petersburg: Merkel lässt Ausstellungseröffnung mit Putin platzen«, steht Stunden später auf Spiegel online zu lesen.[23] Und nicht nur Die Welt titelt: »Merkel lässt Termin mit Putin platzen«.[24] Auch andere Medien ziehen nach.

Der angebliche Konflikt zwischen freier Rede und diktatorischem Gehabe à la Putin entwickelt sich zum Aufreger des Tages. Doch der Termin platzt dennoch nicht. Wladimir Putin führt in St. Petersburg an diesem Nachmittag des 21. Juni ein vertrauliches Gespräch mit Angela Merkel, erinnert an das Datum des nächsten Tages, an dem die Ausstellung für die Bevölkerung freigegeben werden soll.

Für Russland ist es ein ganz besonderes Datum: Am 22. Juni 1941 hat Deutschland die Sowjetunion überfallen. Als der deutsche Botschafter in Moskau Graf von der Schulenburg an diesem Morgen den sowjetischen Außenminister Molotow aus dem Bett klingelte, lief der Angriff unter dem Codenamen »Unternehmen Barbarossa« schon auf vollen Touren. Möglich, dass dies der Berater der Kanzlerin im Kanzleramt nicht wusste, für einen außenpolitischen Experten wie Christoph Heusgen allerdings nicht unbedingt wahrscheinlich. Für den russischen Präsidenten ist die Ansage, der Goldschatz solle zurück nach Deutschland, an diesem Tag ein innenpolitischer Affront. In der deutschen Presse war zu der geschichtsträchtigen Bedeutung des Tages nichts zu finden.

Für Wladimir Putin sind die vergangenen Jahre die Geschichte einer Entfremdung. Nicht so sehr von Amerika, sondern von Europa und Deutschland. Es ist eine Verbindung mit Bindungen. Seine beiden Töchter sprechen deutsch und gingen zeitweise hier zur Schule. Kein russischer Präsident ist von Deutschland so geprägt wie er. Anfang der neunziger Jahre war er als stellvertretender Bürgermeister seiner Heimatstadt St. Petersburg die treibende Kraft für die Städtepartnerschaft mit Hamburg. Während der ersten Amtsperiode als Präsident reiste Henning Voscherau, Jurist und einstiger Erster Bürgermeister Hamburgs, über Jahre mit einer kleinen Gruppe von Juristen regelmäßig nach Russland, um bei der Neufassung des Verfassungsrechtes zu beraten. Nicht zu reden von Gerhard Schröder, dem einstigen SPD-Kanzler, der sich zum Duzfreund wandelte, nachdem ihm sein außenpolitischer Berater noch vor dem ersten Treffen mit Wladimir Putin eindringlich geraten hatte, diesem nicht die Hand zu geben. Das besondere deutsch-russische Verhältnis auf der politischen Ebene hat sich heute erledigt. Im Bundeskanzleramt macht schon des längeren der Begriff regime change die Runde.

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