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1 Der übliche Verdächtige

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Die Frage der Schuld nach dem Abschuss der Passagiermaschine MH17

Das monotone Fluggeräusch der Präsidentenmaschine vom Typ Iljuschin II-96 hat die meisten der Passagiere eingeschläfert. Der Flug von Rio de Janeiro nach Moskau dauert über zwölf Stunden. Die vergangenen Tage waren der übliche Parforce-Ritt, den ein sechs Tage dauernder Staatsbesuch in vier Ländern mit sich bringt.

Aber Wladimir Wladimirowitsch Putin ist an diesem 17. Juli 2014 alles in allem zufrieden mit dem Trip nach Südamerika. Der Empfang in Kuba, Nicaragua, Argentinien oder Brasilien war ausgesprochen freundlich, und die Verträge für künftige Kooperationen in Sachen Energie und Rüstung sind unter Dach und Fach. Auch das Treffen der BRICS-Staaten – so nennt sich das Wirtschaftsbündnis von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika –, das dieses Jahr wegen der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien stattfand, hat die Erwartungen erfüllt.

Zwei Jahre lang hat sich der russische Präsident dafür stark gemacht, zusammen mit dem chinesischen Staatschef Xi Jinping, der brasilianischen Gastgeberin Dilma Rousseff, dem indischen Premierminister Narendra Modi und dem südafrikanischen Präsidenten Jacob Zuma einen Plan für zwei Banken Wirklichkeit werden zu lassen. Jetzt haben alle unterschrieben und für den Start 100 Milliarden Dollar bereitgestellt. Das Ziel: Die BRICS wollen damit in Zukunft der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds Paroli bieten. Denn dort haben vorrangig Industriestaaten wie die USA und die EU das Sagen. Das angloamerikanische Finanzmodell ist den Vertretern von drei Milliarden Menschen – immerhin rund 40 Prozent der Weltbevölkerung – ein Dorn im Auge. Die Bankengründung soll für mehr politische Beinfreiheit sorgen.

Kurzum, eigentlich ist alles gut gelaufen, wenn Wladimir Putin einmal von dem Tête-à-Tête mit der deutschen Bundeskanzlerin in Rio de Janeiro absieht. Das Gespräch mit Angela Merkel – am 13. Juli auf der Ehrentribüne im Stadion von Maracanã vor dem Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft – hat wenig gebracht. Die kurze Begegnung hat die angespannten deutsch-russischen Beziehungen im Zeichen der Ukrainekrise nicht verbessert. Bundeskanzlerin Merkel und Putin hatten schon vorher vereinbart, dass die prorussischen Separatisten und die ukrainische Regierung Gespräche aufnehmen sollten. Angela Merkel hat zugesagt, mit dem ukrainischen Präsidenten darüber zu reden.

Sie tue dies, beteuert sie Putin gegenüber, doch immer wieder. Nur geändert habe sich bislang nicht viel. Der Konflikt steckt fest. Bislang ist jede Vereinbarung, die von den vier Außenministern Deutschlands, Frankreichs, der Ukraine und Russlands getroffen wurde, um die Lage zu entschärfen, binnen 48 Stunden wieder gebrochen worden. Immerhin, das Endspiel war spannend. Die Deutschen siegten erst in der Verlängerung gegen Argentinien.

Die verbleibende Flugzeit nach Moskau beträgt noch 40 Minuten. Putins Pressesprecher Dmitri Peskow bringt die Unterlagen für anstehende Termine. Nichts Besonderes, Routine. Bis auf das Telefongespräch mit dem amerikanischen Präsidenten nach der Landung. Es ist schon seit längerem vereinbart. Nicht, dass Wladimir Putin gesteigerten Wert auf Unterredungen mit Barack Obama legen würde. Die beiderseitige Abneigung ist über die Jahre gewachsen. Die Pose der moralischen Überlegenheit, die der US-Präsident in öffentlichen Auftritten zum Thema Russland an den Tag legt, nervt Putin. Wie zuletzt jene Attacke, als Obama Russland als Regionalmacht und den russischen Präsidenten als unkonzentrierten Schuljungen in der letzten Schulbank verspottete.[7] Wladimir Putin hat sich bislang mit persönlichen Angriffen zurückgehalten. Er attackiert dafür regelmäßig den alleinigen Großmachtanspruch der USA.

Die öffentlichen Statements aus Washington vor Putins Wiederwahl 2012 – Obama ziehe den abgehenden Präsidenten Medwedew einem Präsidenten Putin vor – haben ebenfalls nicht dazu beigetragen, den angekündigten Reset amerikanisch-russischer Beziehungen in eine entspannte Arbeitsatmosphäre zu verwandeln. Seit dem Umsturz auf dem Majdan in Kiew herrscht politischer Dauerfrost mit guten Aussichten auf eine neue Ost-West-Eiszeit.

Den Inhalt des anstehenden Telefongespräches kann Putin sich ausmalen. Sein außenpolitischer Berater Juri Uschakow hat ihn über die neuen Strafmaßnahmen aus Washington bereits informiert. Die USA wollen große russische Kreditinstitute wie Gazprombank oder VEB gezielt vom internationalen Finanzmarkt abschneiden.

Die russische Präsidentenmaschine ist nicht das einzige Flugzeug, das in dem osteuropäischen Luftraum in gut 11000 Metern Höhe unterwegs ist. Er ist trotz der heftigen Bodenkämpfe in der Ostukraine nicht gesperrt. Viele Fluggesellschaften benutzen die traditionelle Flugroute nach Fernost nach wie vor, um teure Umwege zu vermeiden. Minuten später wird die ukrainische Luftüberwachung Dnipropetrowsk mit ihren russischen Kollegen in Rostow Kontakt aufnehmen. Dnipro Control kann das Passagierflugzeug MH17 nicht mehr auf dem Radarschirm finden. Der Linienflug der Malaysia Air mit 298 Menschen an Bord auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur meldet sich nicht mehr. Der letzte Kontakt liegt zwei Minuten zurück.

Der lakonische Dialog der ukrainischen und russischen Fluglotsen um 16.22 Uhr Lokalzeit ist das nüchterne Dokument der schwersten Krise zwischen Ost und West seit dem Ende des Kalten Krieges.[8]

Flugüberwachung Dnipro an Rostow »Rostow, sehen Sie Malaysian auf dem Radar?«

Flugüberwachung Rostow an Dnipro »Nein, es sah aus, als ob sie auseinanderbrach.«

Dnipro an Rostow »Sie antwortet auch nicht auf unseren Ruf. Sie erhielten eine Weisung zur Kursänderung, sie bestätigten und …«

Rostow an Dnipro »Und das ist alles, oder?«

Dnipro an Rostow »Ja, sie ist verschwunden. Sehen Sie nicht irgendetwas?«

Rostow an Dnipro »Wir sehen nichts.«

Der Absturz des Flugzeugs MH17 ist die erste Nachricht, die der Chef der russischen Air Traffic Control Wladimir Putin gleich nach der Landung in Wnukowo, Moskaus ältestem Flughafen, vorträgt. Der abgeschirmte Bereich Wnukowo 3 ist für Regierungsmaschinen reserviert. Dann greift der Kreml-Chef zum Hörer.

Das Gespräch mit Barack Obama verläuft wie erwartet. Die neuen Maßnahmen seien die Quittung dafür, dass Russland die Rebellen in der Ostukraine mit Waffen versorgt, argumentiert der amerikanische Präsident. Vier große russische Banken haben von nun an keinen Zugang mehr zu langfristigen Krediten auf dem internationalen Finanzmarkt, anderen Firmen würden ebenfalls Geschäfte im Westen untersagt. Wladimir Putins Antwort ist gleichfalls nicht neu. Sanktionen dieser Art würden die USA selbst treffen und langfristig nur den nationalen Interessen der Amerikaner schaden. Dann berichtet Putin Obama vom Absturz der malaysischen Passagiermaschine in der Ukraine, über den dieser offenbar noch nicht informiert ist. Der Vorfall wird kein Thema. Es sei schnell wieder um die Sanktionen gegangen, erinnert sich Putin, als wir kurze Zeit später die tragischen Ereignisse dieses Tages durchgehen.

Wenig später unterrichtet Obamas Berater Dan Pfeiffer den Präsidenten auf dem Flug zum Luftwaffenstützpunkt Andrews Air Force Base von den neuesten Nachrichten, die der ukrainische Präsident Petro Poroschenko als Schuldzuweisung weltweit auf allen Kanälen verbreiten lässt. Eine russische Rakete sei für den Abschuss verantwortlich. Binnen Minuten überschlagen sich die Meldungen. Washington schaltet auf Alarmbereitschaft. Im Weißen Haus entwerfen Redenschreiber Texte für die anstehende Medienschlacht der nächsten Tage. Josh Earnest, Obamas Pressesprecher, koordiniert die Kampagne, hält den Präsidenten auf dem laufenden. Vizepräsident Joe Biden lässt sich telefonisch vom ukrainischen Präsidenten Poroschenko auf den aktuellen Stand der Erkenntnisse bringen, die Kiew vorliegen.

Auch die Maschinerie des Kreml läuft auf Hochtouren. Dmitri Peskow überfliegt noch einmal den Text für das Statement, das seine Kollegen in den Büros der Präsidialverwaltung am Alten Platz, gleich gegenüber dem Roten Platz, geschrieben haben, bevor der russische Präsident kurz nach Mitternacht in seiner Regierungsdatscha Nowo-Ogarjowo vor den Toren Moskaus in die Fernsehkameras spricht.[9] Nach ein paar Worten des Beileids und einer Schweigeminute verspricht Wladimir Putin, alles für eine Aufklärung der Tragödie zu tun. Er macht allerdings auch klar, was für ihn die eigentliche Ursache des Unglücks ist. Dies wäre nicht passiert, sagt er, »wenn es die Feindseligkeiten in der Ostukraine nicht geben würde. Und zweifellos trägt der Staat, auf dessen Hoheitsgebiet dies passiert ist, die Verantwortung für diese schreckliche Tragödie.« Die Antwort aus Washington lässt nicht lange auf sich warten. Stunden später erklärt Barack Obama im Weißen Haus: »Beweise belegen, dass das Flugzeug mit einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen wurde, die aus dem Gebiet kam, das von den von Russland unterstützten Separatisten kontrolliert wird.«

Die Wucht der Explosion hat die Trümmer der Boeing 777-200ER nahe der Stadt Tores in der Ostukraine über 35 Quadratkilometer verstreut. Die ersten Bilder zeigen rauchende Wrackteile, verstümmelte Leichen, bewaffnete bärtige Kämpfer. Ein Bild, das um die Welt geht, zeigt einen prorussischen Milizionär, der vermeintlich triumphierend das Stofftier eines toten Kindes in die Luft reckt. Die Geste wird als Beleg für die Skrupellosigkeit der Separatisten Schlagzeilen machen. Es ist in Wirklichkeit nicht mehr als ein Standbild einer längeren Videoszene, die tatsächlich das Gegenteil belegt. Nachdem der Mann das Kuscheltier der Presse gezeigt hat, legt er es behutsam nieder und bekreuzigt sich.[10]

Einen Ausschnitt wie diesen als die ganze Wahrheit zu präsentieren ist symptomatisch für den Konflikt um die Ukraine. Seit Beginn der Auseinandersetzung geht es darum, den eigenen Blickwinkel als den allein richtigen zu präsentieren, ohne Rücksicht auf Geschichte, Ereignisse und Interessen. Sowohl die ukrainische Armee als auch die prorussischen Separatisten verfügen in der Nähe zur Absturzstelle über Flugabwehrraketen Made in Russia vom Typ Buk-M1, die Flugzeuge wie die MH17 in großer Höhe treffen können.

Dass es eine solche Boden-Luft-Rakete gewesen ist, die auf dieser hochfrequenten Flugstrecke zwischen Ost und West das Leben von 298 unbeteiligten Menschen auf einen Schlag auslöschte, hält auch Fred Westerbeke für die bislang plausibelste Arbeitshypothese. Der niederländische Staatsanwalt leitet ein internationales Team, das die Tragödie untersucht und auch russischen Hinweisen nachgeht, denen zufolge möglicherweise ein ukrainischer Kampfjet die Passagiermaschine abgeschossen habe. Westerbeke weiß um die Brisanz seiner Untersuchungen.[11] Er und sein Team werden noch Monate brauchen, um sich durch die Tausende von Fotos, Videos und Zeugenaussagen zu arbeiten. Die USA haben auch ein Jahr nach der Katastrophe noch keine Bilder ihrer Weltraumsatelliten zur Verfügung gestellt, die helfen könnten, den Abschuss eindeutig zuzuordnen.

Als Schuldiger für den Abschuss gilt wieder einmal jener Mann, der seit Jahren die Phantasie beflügelt: Wladimir Wladimirowitsch Putin, Jahrgang 1952 und zum dritten Mal Präsident Russlands. »Stoppt Putin jetzt!«, titelte Der Spiegel nach dem Crash und suggerierte, der Mann im Kreml habe gleichsam selbst die Rakete gezündet. »Hier, in der ostukrainischen Einöde, hat sich Putins wahres Gesicht gezeigt. Der russische Präsident steht enttarnt da, nicht mehr als Staatsmann, sondern als Paria der Weltgemeinschaft.«[12]

Ein verunglückter Titel, räumt der heutige Chefredakteur des Blattes Klaus Brinkbäumer Monate später selbstkritisch ein. »Russlands Schuld«, kommentiert die Süddeutsche Zeitung ohne den Anflug eines Zweifels bis heute.[13] »Stärke zeigen«, kommentiert die FAZ und fordert Aufrüstung. »Der Westen muss seine wirtschaftliche, politische und militärische Abwehrbereitschaft stärken und auch demonstrieren.«[14] Diese Sätze, befindet Gabor Steingart, der Herausgeber des Handelsblatts, einen Tag später, »lesen sich wie geistige Einberufungsbescheide«.[15]

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