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5 Wunsch und Wirklichkeit

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Der neue alte Präsident und die Protestbewegung 2012

Juni 2012, ein warmer Sommertag in Sotschi. Die Stadt liegt im Schatten hoher Berge des Kaukasus und auf demselben Breitengrad wie Nizza. Von hier zieht sich die Küste des Schwarzen Meeres 150 Kilometer weit Richtung Südosten bis zur georgischen Grenze und Richtung Nordwesten 300 Kilometer weit bis zur Krim. Die staatliche Sommerresidenz Botscharow Rutschej steht am Ende einer kurvenreichen Straße mitten im Ort, im Bezirk Nowy Sotschi. In der Residenz an der russischen Riviera haben die Hausherren des Kreml von jeher Urlaub gemacht. Josef Stalin, Nikita Chruschtschow, Leonid Breschnew, Boris Jelzin. Aber auch der amerikanische Präsident George Bush senior, Gerhard Schröder, Angela Merkel und der britische Premier David Cameron waren schon auf Staatsbesuch hier.

Draußen auf dem spiegelglatten Wasser dümpeln in der flirrenden Mittagshitze zwei russische Kriegsschiffe. Von der weitläufigen Terrasse des Regierungssitzes deutet der Hausherr zum Schwarzen Meer hin und gibt seinen Gästen kurz vor dem Mittagessen Nachhilfeunterricht in russischer Geschichte. »In dieser Richtung liegt die Krim«, sagt Wladimir Putin und setzt zu einem ausführlichen Vortrag an. Der russische Präsident liebt längere Exkurse. Dort liege die gemeinsame Wiege Russlands und der Ukrainer, sagt er. Außerdem sei auf der Halbinsel im Schwarzen Meer seit vielen Jahrzehnten die russische Schwarzmeerflotte stationiert – Russlands Sprungbrett in das Mittelmer. Diese Tradition gehe auf Katharina die Große zurück, die 1783 die Hafenstadt Sewastopol neu gegründet habe.

»Und Sie erinnern sich«, fügt Wladimir Putin in einem Nebensatz hinzu, »Katharina die Große kam aus Deutschland und hieß ursprünglich Prinzessin Sophie Auguste Friederike, bevor sie einen russischen Zaren heiratete.« Die Ehe war, milde ausgedrückt, alles andere als glücklich, aber die Startrampe für eine ungewöhnliche politische Karriere in Russland. 1762 unterschrieb ihr Ehemann Peter III. seine Abdankungsurkunde und kam unter nicht ganz geklärten Umständen einige Tage später ums Leben. Die Deutsche auf dem Zarenthron regierte Russland 34 Jahre lang.

Es war Nikita Chruschtschow, einst Parteichef in der Ukraine und ein Jahr zuvor zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees in Moskau gewählt, der 1954 die Halbinsel großzügig an die damalige sozialistische Sowjetrepublik Ukraine verschenkte, um 300 Jahre russisch-ukrainische Bruderschaft zu demonstrieren. Ein Schritt, den Putin wie viele seiner Landsleute kritisch sieht. Damals hatte niemand im Traum daran gedacht, dass die Sowjetunion ein paar Jahrzehnte später auseinanderfallen und damit die Krim aus Moskaus Machtbereich verschwinden könnte. Die Krim ist im kollektiven Bewusstsein der Russen schon seit Urzeiten Teil ihres Landes.

Immerhin seien dort rund 60 Prozent der Bewohner russisch, sagt Putin. Nach längeren Streitigkeiten infolge der Unabhängigkeitserklärung 1991 hatte dies selbst die Ukraine gewürdigt. Als Zugeständnis an die Bevölkerungsmehrheit heißt die Halbinsel danach offiziell Autonome Republik Krim. Sie hat ein eigenes Parlament, die Hauptstadt ist Simferopol. Nur die Befehle kommen seither aus Kiew und nicht mehr aus Moskau. Nach einer langen Pokerrunde haben Dmitri Medwedew und der damalige Präsident der Ukraine, Wiktor Janukowytsch, 2010 das Stationierungsabkommen für die Schwarzmeerflotte bis 2042 verlängert. Über sein Verhältnis zu dem seit seiner Absetzung im russischen Exil lebenden Kollegen Janukowytsch, das als schwierig gilt, lässt sich der Gastgeber an diesem Nachmittag nicht aus. Er ist zurückhaltend, lässt nur durchblicken, dass beide sich lange kennen, nicht gerade Freunde sind und es wohl auch in diesem Leben nicht mehr werden.

Die subtropische Stadt mit ihren 340000 Einwohnern hat sich um die Olympischen Winterspiele beworben und für 2014 den Zuschlag bekommen. Für den russischen Präsidenten ein Grund mehr, öfters nach Sotschi zu kommen. Die staatliche Sommerresidenz gehört zu seinen Lieblingsplätzen. In diesen Tagen im Juni 2012 genießt der gerade erst in sein altes Amt zurückgekehrte Regierungschef Russlands seinen Urlaub am Schwarzen Meer. Wladimir Putin hat vor vier Wochen seinen Eid für die dritte Präsidentschaft abgelegt. Die Interimsregentschaft seines politischen Weggefährten Dmitri Medwedew ist zu Ende.

Weil die russische Verfassung dem Präsidenten nur zwei aufeinanderfolgende Amtsperioden erlaubt, hatten Putin und Medwedew vier Jahre zuvor eine interne Vereinbarung getroffen, die nicht nur Russlands Opposition, sondern auch den Westen frustrierte: Medwedew sollte 2008 mit seiner Unterstützung für den Topjob kandidieren, Putin selbst Ministerpräsident werden. Wer vier Jahre später antreten würde, sollten dann die Demoskopen entscheiden. Der mit den höheren Umfragewerten, so ihr informelles Agreement, werde automatisch der Kandidat für die nächste Runde.

Wider Erwarten war Dmitri Medwedew nicht bereit, den Sessel der Macht freiwillig zu räumen. Der Kampf, der hinter den Kulissen ausgetragen wurde, dauerte über ein Jahr. Schon Ende 2010 ließ er seine Mitarbeiter verbreiten, dass er kandidieren würde. »Die BBC hat sehr deutliche Hinweise erhalten, dass Medwedew erwägt, für eine zweite Präsidentschaft zu kandidieren«, meldete der Korrespondent Steve Rosenberg im Dezember aus Moskau.[40] Der Financial Times erklärte Medwedew selbst ein halbes Jahr später: »Wenn jemand im Vorteil ist, tut er sich schwer damit, ihn aufzugeben. Politischer Wettbewerb ist wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung.«[41]

Für Putin werde sich schon ein Job finden, streuten seine Anhänger. Präsident des Olympischen Komitees möglicherweise oder, warum nicht, UNO-Generalsekretär.

Um seine Aussichten zu verbessern, verbündete sich Medwedew mit Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow. »Obwohl das Kabinett unter Putin eine Erhöhung des Militärhaushaltes für die nächsten zehn Jahre um 345 Milliarden Euro beschlossen hatte, sagte Medwedew dem Verteidigungsminister mehr als das Doppelte zu«, beschreibt der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin den Showdown der Rivalen bei einer Sitzung vor dem gesamten Kabinett. Kudrin ist einer der ältesten politischen Weggefährten Putins und ein erklärter Gegner Medwedews. »Ich war dagegen, weil wir dann Sozialleistungen kürzen mussten. Putin setzte einen Kompromiss durch. Mehr Geld ja, aber nicht mehr als 500 Milliarden.«

Im Januar 2011 kam es erneut zu Unstimmigkeiten. »Jetzt ging es darum, dass Medwedew auch die Gehälter von Armeeangehörigen, Polizisten, Geheimdiensten und des Presidential Security Service erhöhte«, beschreibt Kudrin den politischen Schachzug des widerspenstigen Statthalters und sein Werben um die Unterstützung beim Sicherheitsapparat. »Ich war dagegen und wollte zurücktreten. Putin bat mich, im Amt zu bleiben und das Programm auszuarbeiten. Er wollte sich in dem Punkt mit Medwedew nicht anlegen.«[42]

Medwedews Kalkül geht nicht auf. Im internen Machtzirkel setzt sich der einstige Präsident gegen den Amtsinhaber durch. Putin hat nicht nur das bessere öffentliche Rating, er hat auch die besseren Verbindungen.

Ministerpräsident Dmitri Medwedew lehnt sich auf dem roten Ledersofa in der Bibliothek seiner Regierungsdatscha am Stadtrand von Moskau zurück und bestreitet, dass es überhaupt zu der Auseinandersetzung gekommen sei, wer 2012 Präsident werden sollte. »Wir hatten uns bei meinem Amtsantritt abgesprochen, dass danach Wladimir Putin wieder antreten würde. Wir wollten Russland langfristig Sicherheit geben«, beschreibt er seine Version, als ich ihn zu den Ereignissen jener Zeit befrage. Dass sein Verhältnis zu Alexej Kudrin getrübt ist, daraus macht er kein Geheimnis. Er habe den Finanzminister damals gefeuert, weil dieser öffentlich erklärt hatte, er würde nach dem Ämtertausch nicht unter einem künftigen Ministerpräsidenten Medwedew arbeiten. »Jedes System hat eine Subordination«, drückt er sich leicht umständlich aus. Was übersetzt wohl bedeutet: Ober sticht Unter. Im Übrigen bleibt er bei seiner Version: Er und Putin hätten zwar gelegentlich durchaus unterschiedliche Vorstellungen, aber sie seien keine Rivalen. Dmitri Medwedew redet an diesem Abend viel, aber hauptsächlich von der gemeinsamen Arbeit, die es zu schultern galt, und bleibt ansonsten in Deckung.[43]

Die Aussicht, jetzt wieder mit Wladimir Putin und nicht mehr mit seinem pflegeleichteren Vorgänger verhandeln zu müssen, hat weder in Washington noch in Berlin Begeisterung hervorgerufen. Das Weiße Haus drückte sein Bedauern über den Abgang von Medwedew aus, was Wladimir Putin als persönlichen Affront abgespeichert hat, ebenso wie die Kritik daran, dass er nun zum dritten Mal kandidiere. Für ihn sind solche Äußerungen ein aggressiver Akt, eine provokante Einmischung in innere Angelegenheiten. Wer sich öffentlich im Ausland auf einen Politiker in Russland festlege, dem sei politisch nicht zu helfen. »Was ist daran denn illegal?«, fragt der Jurist Wladimir Putin. »Alles, was ich gemacht habe, entspricht im vollen Umfang der Verfassung. Wir hatten im Parlament eine Zweidrittelmehrheit und hätten die Einschränkung, nur zweimal hintereinander Präsident zu sein, ändern lassen können. Haben wir aber nicht. Wie lange war Adenauer oder Helmut Kohl bei Ihnen in Deutschland an der Macht?«, legt er rhetorisch nach. Es ist die einzige Schärfe, die an diesem Sommernachmittag mitschwingt. Schließlich hat er sein Ziel erreicht. Er hat gewonnen und vor vier Wochen im Kreml seinen Einstand gegeben.

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