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3 Neue Regeln oder keine Regeln

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Putin und der Weltmachtanspruch der USA

Das Titelthema der Waldai-Konferenz ist prägnant, der Kreis der Teilnehmer überschaubar. Die meisten der Russland-Experten, Exdiplomaten, Politiker, Journalisten und Historiker aus den USA, Europa, Russland und China, die am Flughafen in Sotschi in die bereitgestellten Minibusse steigen, um die nächsten drei Tage in einem abgelegenen Hotel zu diskutieren, kennen sich. Die Runde trifft sich einmal im Jahr, seitdem der Kreml den Debattierclub 2004 aus der Taufe gehoben hat.

»New rules or no rules« – »Neue Regeln oder keine Regeln« heißt das Motto für die Tagung im Oktober 2014. Auf der Tagesordnung stehen die Themen des Jahres: Der Konflikt in der Ostukraine, die Annexion der Krim, die Sanktionen des Westens und die Folgen für Russland. Und die zentrale Frage, wer denn wann und wo die Spielregeln für eine internationale Straßenverkehrsordnung der Politik bestimmt. Dafür reisen auch die politischen Schwergewichte aus Moskau nach Krasnaja Poljana, dem Skigebiet in den kaukasischen Bergen oberhalb der Olympiastadt Sotschi. Außenminister Sergej Lawrow und Sergej Iwanow, der einstige Verteidigungsminister und starke Mann der Kreml-Administration. Oder einflussreiche Technokraten wie Igor Schuwalow, in der Regierung für Haushalt und Wirtschaftspolitik zuständig.

Im Konferenzsaal des üppigen Glaspalastes mit Blick auf das neue Biathlonstadion, wo im Februar 2014 Skifahrer ihre Runden drehten und auf Scheiben schossen, um olympisches Gold oder Silber zu gewinnen, müht sich jetzt die Politprominenz, eine angemessene Haltung für die gegenwärtig kritische Lage zu finden. Die Stimmung ist betont entspannt, die versammelte Führung demonstriert Geschlossenheit und Optimismus. Allgemein wird zugegeben, die Sanktionen, die der Westen verhängt hat, seien durchaus schmerzlich. Aber sie böten auch die Möglichkeit, dass Russland sich endlich daransetze, die fälligen Hausaufgaben zu machen und wirtschaftliche Reformen durchzuziehen.

Die abgestimmte Devise der Regierungsmannschaft heißt: Verdrängung als Programm. Die Krise als unerwartete Chance mit viel Luft nach oben. Vor allem staatliche Konzerne wie der Gigant Gazprom hätten noch immer nicht das vorhandene Potential ausgeschöpft. Mit anderen Worten: Die Lage ist unter Kontrolle und bei weitem noch nicht so schlimm wie 1998 – jenem wirtschaftlichen Katastrophenjahr, das sich im kollektiven Gedächtnis Russlands als eines der schlimmsten in der jüngeren Geschichte des Landes eingebrannt hat. Der gegenwärtige Haushalt, keine Frage, sei Makulatur und müsse massiv gekürzt werden. Aber ansonsten ist Russland ein starkes Land und Wladimir Putin sein Präsident.

Der Auftritt des politischen Personals ist nur der Auftakt für die zentrale Botschaft, die Wladimir Putin zum Abschluss der Veranstaltung dem Westen schickt. Acht Monate nach den Ereignissen auf dem Majdan in Kiew benutzt der russische Präsident die Konferenz als Bühne für eine Grundsatzrede. Und es wird die bislang härteste, die er öffentlich vor der übersichtlichen Schar von Konferenzbesuchern hält. Eine Mischung aus politischer Abrechnung und persönlicher Enttäuschung. Wem die Warnung gilt, daran lässt er gleichfalls keinen Zweifel. »Die USA haben ihren Verbündeten immer gesagt: Wir haben einen gemeinsamen Feind, einen fürchterlichen Widersacher, das Reich des Bösen. Aber wir, die USA, verteidigen euch dagegen. Und deswegen haben wir auch das Recht, euch herumzukommandieren, von euch politische und wirtschaftliche Opfer zu verlangen und euren Anteil für diese gemeinsame Verteidigung zu fordern. Aber wir haben natürlich die Oberaufsicht.«[25]

Zwar sei der Kalte Krieg vor Jahrzehnten offiziell zu Ende gegangen, aber bedauerlicherweise ohne Friedensvertrag und die klaren Regeln, die längst nötig seien, so der erste Mann Russlands weiter. Die Folgen für den Rest der Welt seien mehr als problematisch und ein Risiko für den Frieden: Die USA als selbsternannte Sieger handelten nur nach eigenen Interessen. Sie versuchten wie Neureiche, die plötzlich ein riesiges Vermögen gemacht haben, die Welt ohne Rücksicht auf Verluste zu beherrschen.

»Vielleicht ist ja die Art und Weise, wie Amerika Führung praktiziert – mit dieser ganz besonderen Selbsteinschätzung –, tatsächlich ein Segen für uns«, merkt Putin sarkastisch an und fährt fort: »Vielleicht bringt ja diese weltweite Einmischung Frieden, Fortschritt, Wachstum und Demokratie, und wir sollten uns einfach entspannen?« Er beantwortet die Frage gleich im nächsten Satz. »Ein einseitiges Diktat, das Bestreben, jemandem sein Modell aufzuzwingen, bewirkt das Gegenteil.«

Für Russland, so viel wird unmissverständlich klar, geht es nicht mehr um völkerrechtliche Feinheiten. Die Sanktionen des Westens sieht die politische Klasse in Moskau nicht bloß als ein politisches Rechenexempel zur Disziplinierung des Landes, sondern als den strategischen Teil eines offiziell nicht erklärten Krieges. Das Ziel: die weitere Ausdehnung von EU und NATO an die Grenze Russlands. Was offiziell als moralischer Kreuzzug des Westens im Namen von Selbstbestimmung und mehr Demokratie verkündet wurde, ist für Putins Wirklichkeit der fortgesetzte Versuch, den Einfluss Russlands zu kappen. Ein Beweis für jene Doppelmoral, die im selben Atemzug dem russischen Präsidenten vorwirft, die alte Sowjetunion wiederherzustellen zu wollen.

Wladimir Putin wird weiter dagegen angehen. »Sie kennen sicher das alte Sprichwort: Was Jupiter darf, darf ein Ochse noch lange nicht. Wir teilen diese Vorstellung nicht. Sie mag für einen Ochsen gelten. Aber ein Bär wird sich nicht danach richten. Für uns ist er der Herr der Taiga. Und er wird nicht in eine andere Klimazone wandern. Das bekommt ihm nicht. Aber er wird die Taiga auch nicht anderen überlassen.« Die Ansage ist deutlich. Die versammelte Mannschaft der Experten hat kaum Fragen. Lediglich die Lobbyistin einer großen Washingtoner Anwaltsfirma, die früher im Sicherheitsbereich der Vereinigten Staaten arbeitete, bemüht noch kurz und heftig das Völkerrecht und das, was sie unter Demokratie aus amerikanischer Sicht versteht. Es ist mehr ein Beleg für ihre protokollarische Anwesenheit als eine wirkliche Entgegnung.

Später, im kleinen Kreis beim Abendessen mit ein paar westlichen Expremierministern und einer Handvoll Akademikern, präsentiert Wladimir Putin für diesen Tag noch einmal zentrale Punkte einer Sündenliste des Westens, die sich tief in sein Bewusstsein eingegraben haben. »Sie haben im UN-Sicherheitsrat beantragt, Libyen zu bombardieren, um Gaddafi davon abzuhalten, das Gleiche mit Teilen der Bevölkerung zu tun, und wir haben dem zugestimmt. Aber am Ende nutzte der Westen die Intervention nur, um Gaddafi zu stürzen. Und was habt ihr erreicht? Gar nichts. Chaos. Das Gleiche im Irak. Ihr seid damals einmarschiert. Was habt ihr dort erreicht? Auch nichts Gutes. Jetzt versuchen dort die Islamisten des IS zusammen mit Tausenden von frustrierten Exsoldaten des einstigen Saddam-Regimes, einen Gottesstaat zu errichten.«

Dann, auf einen Wodka zum Abschied, ein kurzer Rekurs zum Thema des Tages, der Ukraine. Die zentrale Frage der Tagung: new rules or no rules – neue Regeln oder keine Regeln.

»Wir haben nicht angefangen. Wir haben den Europäern sehr früh gesagt, dass dieses Abkommen der EU mit der Ukraine, entweder kommt ihr zu uns oder geht nach Russland, für uns oder gegen uns, riskant ist. Dieser Schritt berührt direkt unsere Interessen«, fasst der Gastgeber seine Sicht der Dinge zusammen. »Aber die haben uns in Brüssel einfach gesagt, das geht euch nichts an. Punkt. Ende der Diskussion. Das Ergebnis ist ein Umsturz. Der wirtschaftliche und soziale Kollaps eines Landes. Und ein Bürgerkrieg mit Tausenden von Toten.«

Über die Krim redet Wladimir Wladimirowitsch an diesem späten Oktoberabend in den kaukasischen Bergen nicht mehr. Die Krim ist seit dem 18. März 2014 wieder russisch, und sie wird es wohl bleiben, solange er im Amt ist. Daran lässt er keinen Zweifel.

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