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Wahlen und Wahrheiten

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Während der vergangenen Monate hat Wladimir Putin zum ersten Mal in seiner langen Karriere öffentlichen Gegenwind bekommen. Vor allem die Massenproteste, zu denen es nach der Parlamentswahl im Dezember 2011 kommt, machen ihm zu schaffen. Zehntausende demonstrieren in russischen Städten gegen Wahlfälschungen – und das, obwohl die Ergebnisse die Macht der Regierungspartei Einiges Russland einschränken. Zwar erreicht sie offiziell über 49 Prozent der Stimmen, muss aber einen herben Verlust von 77 Sitzen hinnehmen. Statt der einstigen Zweidrittelmehrheit, die der Partei bislang jede Verfassungsänderung erlaubte, bleibt ihr nur noch die absolute Mehrheit.

»Tatsache (…) ist, dass Putin die Leute großgezogen hat, die jetzt gegen ihn auf der Straße protestieren«, räumt der Schriftsteller Wiktor Jerofejew, ein Vertreter der gehobenen Moskauer Mittelschicht und Putin-Gegner, 2011 in einem Interview ein. »Wir haben in den vergangenen zehn Jahren eine sehr wichtige Strecke zurückgelegt. Putin wird sich mit den Leuten nicht einigen. Ich sag das mal so: Putin ist mit seinen moralischen Werten überholt. Er hat den Staat etwas gestärkt, Freiheit gewährt. Wir sind ihm dafür dankbar, aber wir müssen weitergehen.«[45]

Die Mobilisierung über soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter beunruhigt die Kreml-Strategen, die gerade die heiße Phase der Präsidentenwahl in zehn Wochen einleiten. Nur der Pressesprecher nimmt fürs Erste mit ungewohnt sanften Worten Stellung zu der Demonstration unmittelbar nach der Wahl. Jeder habe das Recht, seine Meinung kundzutun, erklärt Dmitri Peskow zurückhaltend. »Wir respektieren die Ansichten der Demonstranten, wir hören, was gesagt wird, und werden ihnen weiter zuhören.«[46]

Die Reaktion von Alexej Kudrin fällt deutlicher aus. Der langjährige Finanzminister und Vertraute Putins tritt öffentlich auf, verurteilt Wahlmanipulationen und verlangt Neuwahlen. »Ich teile Ihre negativen Gefühle, was die Ergebnisse der Parlamentswahl in unserem Land angeht«, schreibt er in einem offenen Brief an die Demonstranten.[47] Wladimir Putin hält sich erst einmal zurück, reagiert nur auf eine öffentliche Erklärung der amerikanischen Außenministerin, die am Tag nach der Wahl den Verlauf kritisiert.

»Erste Berichte werfen Zweifel auf«, sagt Hillary Clinton, die auf Deutschland-Besuch ist. Sie sei »ernsthaft besorgt« über die Durchführung des Urnengangs, fährt sie auf einer improvisierten Pressekonferenz fort und fordert eine »umfassende Untersuchung aller glaubwürdigen Berichte über Wahlbetrug und -manipulation in Russland«.[48] Die USA finanzierten seit etlichen Jahren unter dem Stichwort Zivilgesellschaft die russische Nichtregierungsorganisation Golos, die Hunderte von Wahlbeobachtern in die Wahllokale geschickt hat. Golos ist gut organisiert und fester Bestandteil der Opposition.[49]

Putin reagiert allergisch, seine Antwort kommt postwendend. »Ich habe mir die erste Reaktion unserer amerikanischen Partner angesehen«, sagt er scheinbar beiläufig im Fernsehen am Rande einer Sitzung. »Das Erste, was die Außenministerin tat, war, die Wahlen zu charakterisieren und einzuschätzen, und sie sagte, dass diese unfair und ungerecht gewesen seien, obwohl die Unterlagen von den ODIHR-Beobachtern [der OSZE] noch gar nicht vorlagen.« Dann legt er nach. Clinton habe den »Ton für bestimmte Aktivisten in unserem Land vorgegeben. Sie haben diese Signale gehört und mit Unterstützung des amerikanischen Außenministeriums die aktive Arbeit begonnen.«[50] Und er betont, die russische Regierung plädiere im Gegensatz zu den USA dafür, »dass ausländische Wahlbeobachter unsere Politik, unsere Vorgänge überwachen. Wir sind dafür und nicht dagegen.«

Für Putin sind die Bemerkungen Hillary Clintons ein taktisches Manöver, ein weiterer Beweis, dass Amerika ihn von der Macht verdrängen will, und zwar mit den gleichen Mitteln, wie die USA die Orange Revolution in der Ukraine 2004 initiiert hätten. Die Demonstrationen jener Tage in Kiew haben sich bei ihm eingebrannt und sind für ihn das Strickmuster, um auch Russland zu destabilisieren. »Glauben Sie, dass dies alles Zufall ist?«, fragt er rhetorisch, als wir ihn in diesen Tagen zu weiteren Filmaufnahmen begleiten. »Ich glaube das nicht.« Im Kreml wird schon seit langem diskutiert, was man gegen ausländische Einflussnahme über die Finanzierung Oppositioneller unternehmen könne. Die Ereignisse im Dezember bestärken Putin und seine Mannschaft darin, dass in absehbarer Zeit drastische Schritte nötig sind.

Dass die USA die Opposition unterstützen, daraus macht Hillary Clintons Sprecher im Außenministerium keinen Hehl: »Die Vereinigten Staaten haben vor der Wahl mehr als neun Millionen Dollar zu finanzieller Unterstützung und technischem Training für Gruppen der Zivilgesellschaft ausgegeben und werden dieses weiter tun, um freie, faire und transparente Wahlen zu ermöglichen.«[51]

In den nächsten Tagen studiert Putin noch aufmerksamer als sonst die täglichen Stimmungsberichte in den Mappen, die jeden Morgen auf seinem Schreibtisch liegen. Die Meinungsumfragen signalisieren keine Gefahr für die Präsidentenwahlen, die anderen Kandidaten können trotz des Unmuts nicht profitieren. Die Taktik, dass er den Vorsitz der Regierungspartei, in der er selbst nie offiziell Mitglied war, an Medwedew abgegeben hat, geht auf. Ihn selbst bringt außer der Opposition kaum jemand mit der angeschlagenen Regierungspartei Einiges Russland in Verbindung. Weder die in staatlichem Auftrag arbeitenden Institute noch das Lewada-Zentrum, das der Opposition nahesteht, sehen einen ernsthaften Konkurrenten für den Präsidentenposten. Es geht lediglich um die Frage, wie hoch der Sieg ausfallen wird. Die Meinungsforscher kommen zu ähnlichen Werten, schwanken zwischen 55 und 63 Prozent, je nach Zeitpunkt der Umfragen. Selbst nach den größten Gegenkundgebungen der Bolotniki, wie die Demonstranten auf dem Bolotnaja-Platz genannt werden, stimmen nur 18 Prozent der Bevölkerung dem Slogan »Russland ohne Putin« zu, ermitteln die Demoskopen. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Forderung rundweg ab.[52]

Wladimir Putin ist dennoch angefasst. Einige Tage später schlägt er zum Entsetzen seiner Berater während der jährlichen vorweihnachtlichen Fernsehkonferenz wenig diplomatisch zu. Bürger fragen, Wladimir Wladimirowitsch antwortet in einer Marathon-Sendung, die live über vier Stunden geht. Erst übt sich der Präsidentschaftskandidat in Ironie und dann in beißendem Sarkasmus. Wenn die vielen jungen Leute, die er beim Demonstrieren da gesehen habe, »das Produkt des Regimes Putin« seien, dann sei »das alles doch prima«, sagt er und legt nach: Er habe die weißen Schleifen, die sich die Demonstranten als Zeichen des Protestes ans Revers geheftet hatten, tatsächlich »erst für Kondome gehalten«. »Kondome« wird in Russland gern als Schimpfwort für Verlierer verwendet. Und dass Putin die Opposition auf der Verliererseite sieht, daran lässt er keinen Zweifel. Sie habe »kein einheitliches Programm, keinen Weg, wie sie ihre Ziele erreichen können«.[53]

Die Diskussion am Abend nach der Sendung im übersichtlichen Beraterstab ist fast ebenso heftig, wie es Putin während seines Auftritts war. Die Kritik der Berater ist deutlich. Er habe die Stimmungslage falsch eingeschätzt und den Ton unnötig verschärft. Der Kandidat ist nicht weniger gereizt, er fühlt sich angegriffen und nimmt für das verlängerte Wochenende eine seit längerem geplante Auszeit in Sibirien. Dort wird er jagen und mit seinem Freund und politischen Weggefährten Sergej Schoigu, dem langjährigen Minister für Zivilschutz, die Lage erörtern. Putin kennt die Analysen und Studien über die wachsende Mittelschicht in den Metropolen durchaus. Den Vorschlag seines Freundes Kudrin, mit der Opposition zu reden, hört er sich an. Er wolle darüber nachdenken, sagt er und lehnt ein paar Tage später ab. »Mit wem soll ich denn reden, und über was konkret?«, fragt er Kudrin rhetorisch, als der noch einmal nachhakt.[54]

Er hält die Opposition in den Metropolen bei diesem Wahlgang für irrelevant. Die Wahlen, sagt er, würden auf dem Land gewonnen. Und er wird recht behalten. Der Schriftsteller Wiktor Jerofejew hat den Zwiespalt der Mittelschicht in den russischen Metropolen kurz vor dem Urnengang zusammengefasst. »Trotz der Korruption, trotz Morden an Journalisten, Putins Missachtung seiner Gegner und vieler anderer Fehler war Russland noch nie so frei wie jetzt, und noch nie hat es so viel Freizügigkeit genossen. Die Leute wollen mitunter Putins Errungenschaften und Putin zusammen entsorgen. Wenn die Nationalisten kommen, wird es schrecklich.«[55]

Am 4. März 2012 gewinnt er offiziell mit knapp 64 Prozent der Stimmen. Den zweiten Platz belegt der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Gennadi Sjuganow, mit 17 Prozent weit abgeschlagen. Milliardär Michail Prochorow, einer der reichsten Männer des Landes und Kandidat der Mittelschicht, erreicht 8 Prozent. Doch der Wahlkampf hat Putin zum ersten Mal an seine Grenzen gebracht.

Als sich der neue und alte Präsident am Sonntagabend nach der Schließung der Wahllokale seinen jubelnden Anhängern auf dem Manege-Platz im Zentrum Moskaus zeigt, entlädt sich die emotionale Spannung. »Ich habe euch versprochen, wir würden gewinnen – und wir haben gewonnen«, ruft er der Menschenmenge zu, während ihm Tränen über das Gesicht laufen.[56] Die Rückkehr ins Amt hat Wladimir Putin mehr zugesetzt, als er öffentlich zugeben würde. Er hat sehr wohl registriert, wie sich der Westen in diesem Wahlkampf engagiert hat, und er wird daraus Konsequenzen ziehen.

In den deutschen Medien ist während des Wahlkampfes über die konkreten Machtverhältnisse wenig zu lesen. Kommentare suggerieren einen »Aufstand der Mittelschicht«. Berichte nehmen den smarten Slogan vom »Marsch der Millionen« als mögliches Anzeichen für einen Regimewechsel auf. Wenn nicht gleich, dann doch immerhin in absehbarer Zukunft. Die Ära Putin, so scheint es, ist offenkundig nur noch eine Frage der Zeit, möglicherweise weniger Monate. Uneindeutigkeiten auszuhalten ist im aktuellen Geschäft kaum möglich. Der Klebstoff, der Demonstranten und Journalisten in diesen Wochen zusammenschweißt, ist der angenehme Gedanke, gemeinsam für eine gerechte Sache zu kämpfen.

Gegen Korruption, mehr Rechtssicherheit, Demokratie – jetzt auch für Russland. Die Vorstellung, als Journalist in einer gerechten Mission unterwegs zu sein, statt zu berichten, was ist und wie ich was belegen kann, ist verlockend. Die Sehnsucht nach einer Art von Arabischem Frühling oder der nächsten Orangen Revolution wächst während des Wahlkampfs im Live-Ticker-Takt fast ins Uferlose. Die Atemlosigkeit der Reportagen verdeckt, dass es meistens nur Bilder und Eindrücke aus den Metropolen Moskau oder St. Petersburg sind, die das Wunschszenario eines möglichen Aufstands unterstützen sollen.

Und wie das politische Programm der Opposition konkret aussieht, was die handelnden Akteure wollen, darüber ist kaum etwas zu erfahren. Was Alexej Anatoljewitsch Nawalny, die wohl bekannteste Figur der Opposition, für ein konkretes Programm hat, darüber steht nichts in den Artikeln. Außer, dass er ein berühmter Blogger ist, gut aussieht und gegen Korruption zu Felde zieht. Was so unterschiedliche Oppositionelle wie Sergej Udalzow, den Koordinator der Linken, mit dem einstigen stellvertretenden Ministerpräsidenten Boris Nemzov verbindet oder auch nicht, darüber ist nicht viel zu lesen.

Und natürlich besteht kein Zweifel daran, wer dem demokratischen Aufbruch im Weg steht: Wladimir Wladimirowitsch Putin, und je nach Vorliebe der Berichterstatter ist er Diktator, Macho oder bestenfalls nur Goldkettchenträger der Politik. Die üblen Umstände in Russland, so die Logik der öffentlichen Klageschriften, sind das direkte Ergebnis des Willens des Präsidenten – und keineswegs das Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung.

Die Wunschvorstellung, dass der russische Präsident bald Geschichte wäre, löst der Wahltag nicht ein. Der Umgang mit der Realität erfordert dialektische Fähigkeiten. Die Diagnose, warum kein politischer Umbruch stattgefunden hat, konzentriert sich nicht auf die eigene Fehleinschätzung. Sondern darauf, dass der russische Wähler offenkundig unreif ist.

Die Rückkehr in den Kreml sei zwar fraglos auch Ausweis dunkler Machenschaften, schreibt Spiegel online sinngemäß, da auch »die heutigen Präsidentenwahlen manipuliert« seien, um dem Kreml-Chef trotz alledem zuzugestehen, dass er doch irgendwie irgendeine Mehrheit bekommen habe. Es sei allerdings »die falsche Mehrheit«, beschwört die Überschrift kurz nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse. »Putins Mehrheit ist eine quantitative, aber keine qualitative.« Nicht die Stimmen der jungen hoffnungsvollen Großstädter aus den Starbucks-Cafés von Moskau und St. Petersburg, sondern nur die von weniger prickelnden Rentnern, Ärzten, Lehrern, Professoren, Soldaten und Geheimdienstlern zählt der Artikel auf.[57] Demokratie als Castingshow. Politische Krisen, schrieb einst Lenin sinngemäß in seinem Aufsatz Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationalen, entstehen nicht nur, wenn die da unten nicht mehr wollen, sondern die da oben auch nicht mehr können. Das war bei den Präsidentschaftswahlen wohl nicht der Fall, weder unten noch oben.

Die Bereitschaft, einen Ausschnitt für das Ganze zu nehmen, ist nach der Wahl geblieben. Ein Russland der unterschiedlichen Geschwindigkeiten in den Städten und auf dem Land auszuhalten – inklusive der lästigen Uneindeutigkeiten und journalistischen Pflicht, sich an Überprüfbares zu halten –, das steht nach wie vor nicht hoch im Kurs. Die Vorstellung zahlreicher westlicher Politiker und Journalisten, in Moskau als Entwicklungshelfer unterwegs sein zu müssen, ist bei weitem stärker ausgeprägt als die unvoreingenommene Beobachtung. Auch wenn die russische Gesellschaft durchaus über sehr eigene Stützen der Gesellschaft verfügt.

Putin

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