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6 Die Macht und ihr Preis – oder: Kirche und Staat

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Die Renaissance der russisch-orthodoxen Kirche als politische Kraft

Es ist bereits nach Mitternacht, als mich der Hausherr noch zu einer kleinen Rundfahrt über das weitläufige Gelände der Regierungsdatscha Nowo-Ogarjowo bittet. Nach einigen Hundert Metern stoppt der Wagen vor einem kleinen dunklen Bau. Wladimir Putin öffnet die Tür, knipst das Licht an und bekreuzigt sich. Es ist die Privatkapelle des Präsidenten mit einer kleinen Apsis und einem Altar. An einigen Wänden hängen goldfarbene Ikonen, andere sind bemalt mit bekannten Motiven aus der Bibel. Als der neue Präsident Putin im Jahr 2000 in sein staatliches Domizil vor den Toren Moskaus einzog, ließ er die damals halbverfallene Kirchenruine auf seinem Terrain renovieren.

Während der nächtlichen Führung outet sich Wladimir Putin als russisch-orthodoxer Gläubiger, er spricht von seinem Vater Wladimir Spiridonowitsch, der Fabrikarbeiter und strikter Kommunist gewesen sei – im Gegensatz zu seiner Mutter Marija Iwanowna, die ihn einige Wochen nach seiner Geburt in einer Kirche in St. Petersburg heimlich taufen ließ. Da an jenem Tag gerade der Namenstag des Heiligen Michail war und obendrein der Priester auch so hieß, schlug der Geistliche diesen Namen für den Säugling vor. Die Mutter widersprach – der Kleine heiße schon Wladimir wie der Vater –, und so durfte Wladimir Wladimirowitsch seinen Namen behalten.

Dann macht Putin mich auf ein besonderes Bild an der Wand aufmerksam. Die Frau in Nonnentracht verkörpert die Heilige Elisabeth oder Jelisaweta Fjodorowna, wie die Großfürstin auf Russisch genannt wird. Auf Deutsch heißt die adelige Dame Elisabeth Alexandra Luise Alice Prinzessin von Hessen-Darmstadt und bei Rhein. Sie war eine Cousine des Deutschen Kaisers Wilhelm II. und hatte, wie schon zuvor ihre Schwester Alexandra, die letzte russische Zarin, in die Romanow-Familie eingeheiratet. Nachdem ihr Mann Großfürst Sergej Alexandrowitsch 1905 einem Attentat zum Opfer gefallen war, gründete Elisabeth das Martha-Maria-Kloster in Moskau und wurde dessen Äbtissin. Einen Tag nach der Ermordung der Zarenfamilie wurde auch Jelisaweta umgebracht. Die russisch-orthodoxe Kirche sprach die deutsche Prinzessin 1992 heilig.

Das Bild ist ein Geschenk der orthodoxen Kirche im Exil für Putins jahrelange Bemühungen um die Wiedervereinigung des russisch-orthodoxen Patriarchats in Moskau mit der Kirche im Exil. Überreicht wurde es ihm vom einstigen Oberhaupt der Exilkirche, Bischof Laurus in New York. Es hat Jahre gedauert, bis sich das gegenseitige Misstrauen zwischen der Mutterkirche und ihrem abgespalteten Flügel nach dem Ende der Sowjetunion halbwegs legte. »Ein mühsamer Prozess«, erzählt Putin. »Die Spaltung der Kirche war ein Riss, der sich durch die ganze Gesellschaft zog. Ich wollte von Anfang an die Wiedervereinigung. Sie ist wichtig für unser Selbstverständnis.«

Die Termine, die für den Besuch in New York an einem Wochenende im September 2003 im Kalender des russischen Präsidenten stehen, sind auf den ersten Blick nichts anderes als die übliche Politroutine. Ein kurzes Treffen mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder. Dann der Besuch bei der UNO, die alljährliche Vollversammlung der Vereinten Nationen mit den üblichen Grundsatzreden. Zusammen mit dem Vorstandsvorsitzenden des russischen Ölkonzerns Lukoil wird Wladimir Putin außerdem die erste Tankstelle des Unternehmens auf amerikanischem Boden an der Ecke 24. Straße / 10. Avenue in Manhattan eröffnen. Der Konzern hat vor kurzem in einem spektakulären Deal die Tankstellenkette von der US-Firma Getty Oil übernommen, um international Flagge zu zeigen. Außerdem steht noch ein Treffen in der Wall Street mit amerikanischen Wirtschaftsgrößen an. Anschließend wird er zu George W. Bush junior in dessen Anwesen im Bundesstaat Maine nahe der Stadt Kennebunkport fliegen.[58]

Das wichtigste Treffen an diesem Tag ist allerdings ein Termin im russischen Generalkonsulat. Dort wartet die Führung der russisch-orthodoxen Auslandskirche auf den Kreml-Chef. Neben dem Oberhaupt in der Diaspora, dem Metropoliten Laurus Schkurla, der in New York residiert, sind die wichtigsten Statthalter angereist. Aus München Erzbischof Mark Arndt, zuständig für Deutschland und Großbritannien, und Bischof Kyrill aus San Francisco, der Sekretär der Bischofskonferenz der Exilgemeinde. Der geistliche Beistand aus den Reihen des Patriarchats in Russland, der Putin begleitet, heißt Tichon Schewkunow und ist Abt des Klosters Sretenski in Moskau.

Die Kirchenspaltung in einen russischen Teil und einen im Exil war eine Folge der Oktoberrevolution von 1917. Anfangs wehrte sich die Kirche noch gegen die Repressionen der neuen Machthaber. Zehn Jahre später sicherte der Metropolit Sergius Stragorodski der neuen Regierung aus der Gefängniszelle heraus die Loyalität der Amtskirche zu. Seine Erklärung war der Grund des Schismas und der jahrzehntelangen Feindschaft der beiden Organisationen. Die Kirche geriet in das klassische Dilemma jedes Umsturzes: den Zwiespalt zwischen dem Bestreben, die eigene Identität zu wahren, und dem Preis der Anpassung an die neue Wirklichkeit. Für die Exilgemeinde und viele Gläubige, die ins Ausland flohen, bedeutete der Schritt von Patriarch Sergius die unverzeihliche Kooperation mit einem atheistischen Regime. Und aus der Sicht der damaligen Amtskirche in Moskau war die Flucht vieler Priester ein Akt der Feigheit vor dem Feind und die Unterwerfung der einzige Weg, die Institution Kirche vor der vollständigen Vernichtung zu bewahren.

Wladimir Putin übergibt an diesem Septembernachmittag in New York die offizielle Einladung des Moskauer Patriarchen Alexej II. an Bischof Laurus, eine Einladung zu weiteren Versöhnungsgesprächen in der russischen Hauptstadt. Die Botschaft des Treffens, die einige Monate später in San Francisco auf der internationalen Diasporakonferenz der 250 Kirchengemeinden im Exil die Runde macht und die Wiedervereinigung wesentlich beschleunigt, besteht aus einem einzigen Satz: »Präsident Putin spricht sich für die Gebote Gottes aus.«[59] Trotzdem wird es fast vier weitere Jahre dauern bis zur offiziellen Wiedervereinigung im Mai 2007. Die Diskussion über die Sünden der Vergangenheit ist heikel, verläuft zäh und schmerzhaft. Die Exilgemeinde stellt eine zentrale Forderung. Sie besteht auf einer öffentlichen Verurteilung der offiziellen Politik der Mutterkirche in den Zeiten der Sowjetunion.

Die Würdenträger in Moskau argumentieren anders, schon aus Gründen der Selbsterhaltung: Wir verurteilen den Verrat unserer Ideale, lautet die Verteidigungslinie, aber wir mussten Kompromisse mit dem Staat eingehen. Es gab keine andere Wahl. Der Rest der Argumente ist Stoff für Scholastiker. Die Balance zwischen notwendiger Anpassung und offener Kollaboration ist kein Privileg der russischen Kirche. Auch nach der Wiedervereinigung Deutschlands tobte über Jahre der Streit, ob und wieweit und wann sich die katholische und die evangelische Kirche der DDR-Führung unterworfen und mit der Staatssicherheit Hand in Hand gearbeitet hatte.

Es ist Wladimir Putin, der beharrlich den Ausgleich zwischen den Brüdern im Glauben sucht. Er spricht mit dem Patriarchen Alexej in Moskau und dem einflussreichen Bischof Mark in München und übermittelt als weltlicher Unterhändler Vorschläge zur Konfliktlösung. Im Mai 2007 findet schließlich die feierliche Vereinigung der russisch-orthodoxen Kirche in der Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz statt.

Die Einheit hat ihren Preis. Die Niederlassungen im Ausland behalten ihre administrative Unabhängigkeit. Als öffentliche Bekundung der Abkehr von den damaligen Machenschaften hatte die Kirche im Exil bereits 1990 die ermordete Zarenfamilie heiliggesprochen und von der Mutterkirche das Gleiche vor einer möglichen Wiedervereinigung verlangt. Und so wird aus der deutschen Prinzessin Elisabeth Alexandra Luise Alice von Hessen-Darmstadt am Ende die Heilige Elisabeth.

Das Potential für die Neuauflage des alten Bündnisses von Thron und Altar in Russland ist beträchtlich. Die Mehrheit der Bevölkerung, so die Umfragen, sind Anhänger der russisch-orthodoxen Kirche, auch wenn sie meistens nur an traditionellen Feiertagen zum Gottesdienst gehen. Nach achtzig Jahren Säkularisierung ist die Sehnsucht nach religiösen Erlösungsversprechen groß. »Die Kirche ist ein Teil unserer gemeinsamen Geschichte«, beschreibt Putin während der nächtlichen Führung in der Privatkapelle sein Motiv, sich für die Einheit der russischen Institution einzusetzen. Für ihn ist das Bild, das er damals geschenkt bekam, ein weiteres Zeichen, wie wichtig die Zusammenführung war. Politisch wie persönlich.

Wladimir Putin wäre nicht Wladimir Putin, wenn er in dieser Nacht den symbolischen Zusammenhang nicht noch einmal unterstreichen würde. »Die Heilige Elisabeth ist heimgekehrt. Sie und ihr Mann lebten vor der Revolution auf dem Gelände des heutigen Präsidentensitzes.« Er knipst das Licht wieder aus und zieht die Tür zu. »Ohne die Verbindung der geschichtlichen und religiösen Erfahrungen«, fasst Putin sein Credo zum Abschied zusammen, »gibt es für uns in Russland keine nationale Identität. Die Einheit der Kirche hilft uns.«

Er hat dafür gesorgt, dass die Kirche nicht nur ein moralisches, sondern auch ein wirtschaftliches Schwergewicht ist. 2010 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, nach dem alle Religionsgemeinschaften in Russland fast ein Jahrhundert nach der Oktoberrevolution den Großteil ihres Eigentums wieder zurückbekommen. Mit Ausnahme besonders wertvoller Heiligtümer, die auf der Weltkulturerbe-Liste der UNESCO stehen – wie etwa die Basilius-Kathedrale. Damit stieg die orthodoxe Kirche zu einem der größten Immobilienbesitzer des Landes auf.

Seither läuft das politische Experiment, mit Hilfe der Religion eine stärkere russische Identität zu schaffen. Die Mittel der neuen Seelsorge sind die klassischen aus dem traditionellen Werkzeugkasten vor der Einheit: Der Verweis auf das Jenseits als Trost oder Drohung. Die oberste Regel, das Wort der Heiligen Schrift als ehernes Gesetz in unsicheren Zeiten wechselnder Moralvorstellungen zu befolgen. Respekt vor der Obrigkeit. Wie damals in den sechziger Jahren, als auch in der alten Bundesrepublik und nicht nur in Bayern Homosexualität noch unter Strafe stand und der Pfarrer in der Predigt am Wahlsonntag gern den Stimmzettel erklärte und klarmachte, bei welcher Partei die Gläubigen ihr Kreuz machen sollten.

Ob die Allianz auf Dauer in Russland funktioniert, ist noch nicht ausgemacht. Zum einen steigt der islamische Anteil der Bevölkerung in der russischen Gesellschaft, zum anderen wächst in den großen Städten eine neue Generation heran, für deren Gefühlslage die Wiederentdeckung der Religion mehr Folklore denn Bedürfnis ist.

Putin

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