Читать книгу Putin - Hubert Seipel - Страница 11
Zufall oder Strategie
ОглавлениеDer einstige amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, geboren 1928 in Warschau, hat bereits die amerikanischen Präsidenten Lyndon B. Johnson und Jimmy Carter beraten, später auch Bill Clinton und Barack Obama. Er war, wie sein Gegenpart Henry Kissinger auf Seiten der Republikaner, einer der einflussreichsten Geopolitiker auf Seiten der Demokraten. Der Sohn eines polnischen Diplomaten, den es in den Wirren des Zweiten Weltkriegs über Kanada in die USA verschlagen hatte, beschrieb die geplante NATO-Erweiterung schon 1997 in seinem Buch Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft präzise – auch wenn er damals wohl selbst nicht glaubte, dass sich dieses Szenario eins zu eins durchsetzen würde. So heißt es bei Brzezinski: »Ein wirklich geeintes Europa ohne einen gemeinsamen Sicherheitspakt mit den USA ist in praxi schwer vorstellbar. Daraus folgt, dass Staaten, die Beitrittsgespräche mit der EU aufnehmen wollen, und dazu eingeladen werden, in Zukunft automatisch unter den Schutz der NATO gestellt werden sollten.«[29]
Auch der Zeitplan, den er für die künftige Geostrategie vorhersagt, stimmt ziemlich genau mit dem realen Geschehen überein. Was die US-Regierung der Demokraten unter Bill Clinton in den neunziger Jahren beginnt, setzt dessen republikanischer Nachfolger George W. Bush ebenso nahtlos fort wie Barack Obama. Brzezinski: »In der Zwischenzeit wird die EU Beitrittsverhandlungen mit den baltischen Republiken aufnehmen, und auch die NATO wird sich in der Frage einer Mitgliedschaft dieser Staaten sowie Rumäniens vorwärtsbewegen, deren Beitritt mutmaßlich 2005 abgeschlossen sein dürfte. Irgendwann in diesem Stadium werden wohl die anderen Balkanstaaten die für Beitrittskandidaten erforderlichen Voraussetzungen ebenfalls erfüllen. (…) Irgendwann zwischen 2005 und 2010 sollte die Ukraine für ernsthafte Verhandlungen sowohl mit der EU als auch mit der NATO bereit sein, insbesondere wenn das Land in der Zwischenzeit bedeutende Fortschritte bei seinen innenpolitischen Reformen vorzuweisen und sich deutlicher als ein mitteleuropäischer Staat ausgewiesen hat.«[30]
Frank-Walter Steinmeier weiß aus eigener Erfahrung, warum es zu diesem erneuten Showdown zwischen Ost und West gekommen ist. Schließlich war der Sozialdemokrat zu Beginn des Jahrhunderts zuerst Kanzleramtschef und dann Außenminister in der Ära der großen Koalition von 2005 bis 2009, als die Krise zu eskalieren begann. Sein Unbehagen über den Lauf der Dinge im Ukrainekonflikt ist deutlich zu spüren, auch wenn ein Diplomat wie er Kritik und Selbstkritik öffentlich gern in Frageform präsentiert wie in seiner Antrittsrede im Auswärtigen Amt, als er dort nach den Jahren der schwarz-gelben Koalition Ende 2013 wieder die Amtsgeschäfte übernimmt und die Fragen, die er stellt, längst beantwortet sind. »Wir müssen uns fragen, ob wir unterschätzt haben, wie zerrissen und schwach dieses Land [die Ukraine] ist; ob wir nicht gesehen haben, dass es dieses Land überfordert, wenn es sich zwischen Europa und Russland entscheiden muss; ob wir die Entschlossenheit Russlands unterschätzt haben, das mit der Ukraine wirtschaftlich, aber auch historisch emotional eng verbunden ist.«[31]
Die Ära Guido Westerwelle, Steinmeiers Vorgänger, war jene Zeit in der jüngeren deutschen Geschichte, in der das Außenministerium kaum eine Rolle spielte. Der einstige amerikanische Botschafter Philip Murphy in Deutschland schrieb seinen Kollegen zu Hause im State Department in Washington schon beim Amtsantritt Westerwelles, der neue Außenminister sei, eine »unbekannte Größe« und habe »ganz klar ein zwiespältiges Verhältnis zu den USA«. In wichtigen Fällen wendet sich das amerikanische Außenministerium deshalb lieber gleich an das Kanzleramt. Merkels außenpolitischer Berater Christoph Heusgen wird »zu einer Art Nebenaußenminister«, schreibt der Spiegel.[32]
Es war – wie sich noch zeigen wird – das Bundeskanzleramt, das selbstverständlich zustimmte, als die USA entschieden, was in der Ukraine geht und was nicht. Und es war nicht zuletzt die Bürokratie in Brüssel, vor allem der einstige Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Barroso, die mit ihrer Entweder-oder-Politik der Ukraine massiven Druck machte, sich zwischen Ost und West zu entscheiden. Die EU-Kommissare mischten »sich zu sehr in die Weltpolitik ein, obwohl die meisten Kommissare davon gar nichts verstehen«, wie bei dem »Versuch, die Ukraine anzugliedern«, zu sehen sei, attackierte Altkanzler Helmut Schmidt 2014 die Kommission. Der Konflikt erinnere ihn an die Situation 1914 vor dem Ersten Weltkrieg. Beides sei »zunehmend vergleichbar«. Er wolle keinen Dritten Weltkrieg herbeireden. »Aber die Gefahr, dass sich die Situation verschärft wie im August 1914, wächst von Tag zu Tag.«[33]
Die Scheidungsurkunde zwischen der Ukraine und Russland, die das offizielle Amtsblatt der Europäischen Union Ende Mai 2014 veröffentlichte, ist über tausend Seiten dick. Das Werk besteht aus einer Präambel, sieben Kapiteln, 486 Artikeln, 43 Anhängen und diversen Protokollen, die mit aberwitziger Pedanterie die Beziehungen Kiews zum neuen Partner, der Europäischen Union, reglementieren.[34] Dafür sind über Jahre Heerscharen von Beamten und Politikern von Kiew nach Brüssel und von Brüssel nach Kiew gereist, haben öffentliche Statements entworfen, gefordert, gedroht oder mit Versprechungen gelockt.
Jedes Detail ist genau aufgelistet. Es geht um Finanzen und verbindliche Industriestandards. Wie viel Zollaufschlag für was und wie lange in den nächsten Jahren zu bezahlen ist. Penibel regeln Hunderte von Seiten unter anderem den »Handel von lebenden Tieren und Waren tierischen Ursprungs«. Dass etwa »Sauen mit einem Gewicht von 160 Kilo oder mehr, die mindestens einmal geferkelt haben« im Falle des Exports nach Europa mit 8 Prozent Aufschlag belegt werden, »Hühner lebend« aber zollfrei nach Brüssel exportiert werden können. »Gerupft, ausgenommen, ohne Kopf, aber mit Hals, Herz und Leber« wird es teurer. Dann werden 15 Prozent Zoll fällig.
Das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Ukraine andererseits, wie der offizielle Namen der Vereinbarung lautet, schreibt genau vor, welche einzelnen Fischsorten mit einem Aufschlag rechnen müssen und welche nicht, sollten sie in den Westen exportiert werden. Was mit Miesmuscheln und unterschiedlichen Tintenfischarten passiert und dass auf ukrainischen Weizen pro Tonne 168 Euro aufgeschlagen werden, um EU-Bauern vor der Konkurrenz aus der Ukraine zu beschützen.
Über Regelungen, die Menschen betreffen, geben die Paragraphen weniger genau Auskunft. Irgendwann sollen die Ukrainer ohne Visum in die neue schöne Welt der EU einreisen dürfen. Vorausgesetzt allerdings, es sind bestimmte rechtliche, organisatorische und politische Bedingungen erfüllt. Der Zeitpunkt bleibt offen. Die Hoffnung vieler Demonstranten wird in einen Absatz des Vertrages aufgenommen: »In der Erkenntnis, wie wichtig es ist, dass zu gegebener Zeit eine Regelung für visumfreies Reisen für die Staatsbürger der Ukraine eingeführt wird, sofern die Voraussetzungen für eine gut gesteuerte und gesicherte Mobilität erfüllt sind«, werde darüber in den nächsten Jahren en détail verhandelt »im Rahmen regelmäßiger Treffen auf Ebene der hohen Beamten und der Experten der Vertragsparteien«.[35]
Die öffentliche Bilanz des Trennungsprozesses zwischen der Ukraine und Russland, dem Partner von einst, ist im Herbst 2015 katastrophal: Über 6000 Menschen sind gewaltsam ums Leben gekommen. Das Land ist bankrott und gespalten, und es wird über Jahre in diesem Zustand bleiben. In Europa herrscht seit dem Umsturz in Kiew im Februar 2014 wieder Eiszeit. Der Kalte Krieg hat offenkundig nur eine kurze Pause gemacht. Für die Europäische Union ist diese Form der osteuropäischen Partnerschaft extrem teuer. Experten schätzen die Folgekosten für den Waffengang auf mehrere Hundert Milliarden Euro, die weiträumige Zerstörung im Osten des Landes nicht mit eingerechnet. Auch Wladimir Putin zahlt einen hohen Preis. Der russische Nationalismus wächst. Die russische Wirtschaft steckt in ihrer tiefsten Krise seit 2008. Nicht nur wegen der Sanktionen, sondern auch wegen des Verfalls des Ölpreises. Allerdings ist der Kreml-Chef nach der Annexion der Krim zu Hause so populär wie noch nie.
»Alles auf der Krim ist von unserer gemeinsamen Geschichte, unserem gemeinsamen Stolz durchdrungen«, begründet Putin in der feierlichen Zeremonie, sichtlich gerührt von dem Moment und sich selbst, die nationalen Motive für den Anschluss der Halbinsel und der Stadt Sewastopol an Russland. Nicht nur die politische Spitze Russlands feiert die Rede Putins am 18. März 2014 im großen Georgssaal des Kreml als historischen Moment mit stehenden Ovationen. Der Präsident trifft auch den Nerv der russischen Bevölkerung, die ansonsten am Schwarzen Meer gewöhnlich gern Urlaub macht.
»Die Krim – das ist Sewastopol, eine Legende von einer Stadt, eine Stadt mit einem großartigen Schicksal und die Heimat der Schwarzmeerflotte.« Und natürlich sei er davon ausgegangen, »dass die Ukraine unser guter Nachbar« sein würde. »Allerdings begann sich die Lage anders zu entwickeln«, und die »Russen wie auch andere Bürger der Ukraine litten unter der permanenten politischen Krise, welche die Ukraine bereits seit mehr als zwanzig Jahren erschütterte«.[36]
Die Regierungen in Europa sind perplex. Sie haben mit der Reaktion nicht gerechnet und rätseln öffentlich, warum es nun so weit gekommen ist. Ihre Schuld, so der Tenor, sei es nicht. Sie hätten nur das Beste gewollt.
»Niemand hat vorhersehen können, wie schnell wir in die schwerste Krise seit dem Ende des Kalten Krieges geschlittert sind«, entschuldigt sich der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier im April 2014 für das Versagen seiner Berufsgruppe.[37] So klingen die klassischen Sätze von Politikern für die späteren Geschichtsbücher, um die eigene Ohnmacht und die Unvermeidlichkeit politischer Entwicklungen zu belegen. Auch die deutsche Bundeskanzlerin benutzt gern eine ähnliche Platitüde, um die unausweichliche Logik politischer Notwendigkeit zu beschwören, die sie, leider, trotz größten Bemühens nicht verhindern könne. »Dazu gibt es keine Alternative«, lautet der geflügelte Satz Angela Merkels immer dann, wenn sie fest entschlossen ist, ihre Vorstellungen durchzudrücken. So als wäre der Konflikt über Nacht entstanden, als wäre es nach zwei Weltkriegen nicht die grundsätzliche Aufgabe der Politik, Konfrontationen von diesem Kaliber schon im Vorfeld zu entschärfen.
Hundert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs ist die Ausrede, nichts machen zu können, nicht besser geworden. Sie war damals schon falsch. Politiker sind von Amts wegen automatisch an der Kreation von Konflikten aktiv beteiligt. »Kommt es zum großen Konflikt«, telegraphierte einst der deutsche Reichskanzler Moritz August von Bethmann-Hollweg am Vorabend des großen Krieges dem deutschen Botschafter in Wien, »dann muß Rußland als Angreifer abgestempelt sein«.[38] Das Deutsche Reich hatte die Habsburger zum Krieg gegen Serbien gedrängt, wohl wissend, dass dann Russland in den Krieg ziehen würde. Der Hamburger Historiker Fritz Fischer hat 1961 in seinem Buch Griff nach der Weltmacht die gängige Auffassung, Deutschland sei irgendwie ohne böse Absicht in den Ersten Weltkrieg geraten, als Mythos entlarvt und damit eine der heftigsten Historikerdebatten in der Geschichte der Bundesrepublik ausgelöst. Seither gilt die Standardausrede der Politiker nicht mehr. Der Versuch, dem jeweils anderen die Schuld bei der Eskalation eines Konfliktes in die Schuhe zu schieben, ist so alt wie der Beruf des Politikers.
Natürlich ist die aktuelle Krise eine andere als damals. Aber Deutschland war in den letzten Jahren nie unbeteiligter Vermittler zwischen dem Westen und Russland, sondern immer Partei in dem Konflikt zwischen Moskau und der Ukraine. Das Bestreben, die Grenzen von NATO und EU trotz vieler Proteste aus Moskau bis hin zur Krim zu verschieben, war eine Fehlentscheidung, die Angela Merkel gefördert und am Schluss abgesegnet hat. Dabei geht es weniger um die moralische Bewertung ihrer Politik, sondern um die fundamentale Frage, welchen Preis Politiker für die Durchsetzung eigener Vorstellungen in Kauf nehmen dürfen – unabhängig von der Idee, ob es sich beim Ukrainekonflikt um einen Kampf zweier Gesellschaftssysteme oder um eine geopolitische Auseinandersetzung oder beides handelt.
An Warnungen hat es Wladimir Putin nicht fehlen lassen. Ob bei seinem Auftritt im Deutschen Bundestag 2001 oder auf der Sicherheitskonferenz 2007 in München – stets zieht sich das gleiche Leitmotiv durch seine Beschwerden: mangelndes Vertrauen, Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als gleichwertigen Spieler zu respektieren und mit ihm gemeinsam Spielregeln zu finden und einzuhalten.
Schon bei seinem ersten und bislang letzten Auftritt vor den deutschen Abgeordneten im Berliner Reichstag, spricht der neue Präsident, gerade mal ein Jahr im Amt, wenig diplomatisch über sein Problem, das er mit den neuen Partnern im Westen und der offerierten NATO-Partnerschaft hat. »Heutzutage werden Entscheidungen manchmal überhaupt ohne uns getroffen. Wir werden dann nachdrücklich gebeten, sie zu bestätigen. (…) Es wird sogar gesagt, ohne Russland sei es unmöglich, diese Entscheidungen zu verwirklichen. – Wir sollten uns fragen, ob das normal ist, ob das eine echte Partnerschaft ist.« – »Wir leben weiterhin in dem alten Wertesystem. Wir sprechen von einer Partnerschaft. In Wirklichkeit haben wir immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen.«[39]
Mehr als ein Jahrzehnt später hat sich an seiner Einschätzung nichts geändert.