Читать книгу Putin - Hubert Seipel - Страница 4

Das Reich des Bösen und die Guten

Оглавление

Ein Prolog

Anfang März 2015 beschäftigten sich die Medien weltweit und über Tage mit einer Frage, die aus nur drei Worten bestand: Wo ist Putin? Wladimir Wladimirowitsch Putin war seit Tagen nicht mehr öffentlich gesehen worden. Einen geplanten Kurztrip nach Kasachstan hatte er abgesagt. Und noch viel ungewöhnlicher: Er war nicht einmal auf der jährlichen Feier des FSB, des russischen Inlandsgeheimdienstes, in Moskau zu finden, die in jener Woche stattfand. Die Logik der öffentlichen Schlussfolgerungen kam nur zu einer Erklärung. Wenn der Präsident, der vor Jahrzehnten sein Berufsleben als Agent der Auslandsaufklärung begonnen hatte, bei einer solchen Familienfeier nicht auftrat, musste offenkundig etwas ziemlich Außergewöhnliches passiert sein. Die Frage war nur: was?

Zuerst machte eine harmlose Variante die Runde. Der Mann, hieß es, habe eine Erkältung oder Grippe, die derzeit in Moskau grassierte. Aber spätestens, als sein Pressesprecher Dmitri Peskow rund um die Uhr in jedes Mikrophon sprach, der Präsident habe wegen der Ukrainekrise einfach so viel und so viel Wichtiges zu tun, dass er nicht ständig im Fernsehen auftreten könne, lief die Gerüchteküche auf Hochtouren. Wladimir Putin trat nicht im Fernsehen auf, wo der Kreml doch sonst tagaus, tagein keine Gelegenheit ausließ, den ersten Mann des Landes ins rechte Bild zu rücken?

Und spätestens, als Peskow hinzufügte, Putin habe nach wie vor einen noch so kräftigen Händedruck, dass er einem die Finger brechen könnte, war nichts mehr ausgeschlossen. Die Wortwahl ist eine bekannte Floskel aus der Jelzin-Zeit, die immer dann zum Besten gegeben wurde, wenn der damalige Präsident zu krank oder sein Alkoholspiegel zu hoch war, um öffentlich gerade zu stehen. Eine Formel aus alten Zeiten, die nichts Gutes verriet.

Was war passiert? Ein Schlaganfall? Ein Coup d’État? Eine Palastrevolution? War Putin irgendwo im Keller des Kreml festgesetzt worden? Oder war das Ganze einfach nur ein raffinierter PR-Coup, um von den politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten abzulenken?

Ein früherer Präsidentenberater schrieb in seinem Blog, der Präsident sei von Hardlinern gestürzt worden und stehe unter Hausarrest. Drahtzieher sei die russisch-orthodoxe Kirche. Es werde bald eine Ankündigung im Fernsehen geben – bester Kreml speak –, dass Putin eine wohlverdiente Auszeit nehme, um sich von den Strapazen des vergangenen Jahres zu erholen. Ein eindeutiger Hinweis, dachten manche, dass die Diadochenkämpfe um die Nachfolge offenkundig noch nicht zugunsten eines Siegers ausgegangen waren.

Sogar der Sprecher des Weißen Hauses wurde von Journalisten gefragt, ob Washington denn wisse, wo Putin stecke, und ob Barack Obama von seinem Verschwinden in Kenntnis gesetzt worden sei, damit es nicht zu unkalkulierbaren Reaktionen komme. Der genervte Sprecher gab allerdings nur eine unbefriedigende Antwort. Er habe schon mehr als genug mit dem amerikanischen Präsidenten zu tun, um auf dem laufenden zu sein, wo dieser sich nun jeweils gerade befinde. Man möge bitte bei den einschlägigen russischen Stellen nachfragen.

Gleich, ob Facebook, Twitter oder welche Social Media auch immer – die Verschwörungstheorien wucherten von Stunde zu Stunde. Manche Vermutungen waren auch ausgesprochen einfacher Natur. Seine neue Freundin oder Frau habe ein Kind in der Schweiz bekommen, berichtete die Neue Zürcher Zeitung, und deswegen habe sich der Mann ein paar Tage freigenommen.

Die Aufregung, die uns im Frühjahr 2015 entgegenschlug, ist typisch, sobald es um Wladimir Putin geht. Kein Tag vergeht, ohne dass wir in der Zeitung nicht irgendetwas über ihn lesen, und es ist in der Regel nichts Positives. Und falls es ausnahmsweise nichts Böses ist, hat sich der Präsident zumindest wieder einmal maßlos überschätzt oder danebenbenommen. Einer, der die Zeichen der Zeit offenkundig nicht verstanden hat, aber doch irgendwie so bedeutend ist, dass man nicht umhin kann, über ihn zu schreiben, und unsere Politiker zähneknirschend mit ihm reden müssen. Kein anderer ausländischer Politiker wird so oft beschrieben wie Wladimir Wladimirowitsch Putin. Und dennoch ist es wie einst in der alten Sowjetunion: Extrem viel Kaffeesatzleserei. Kremlinologen, die jeden Tag neue Theorien aufstellen, ohne eigenen Zugang zum Machtzirkel zu haben. Was, zugegebenermaßen, auch nicht einfach ist.

Für sein plötzliches Verschwinden im März 2015 präsentierte Wladimir Putin eine banale Erklärung. »Ich hatte eine schwere Erkältung und Fieber. Deswegen bin ich ein paar Tage kürzer getreten«, antwortete er einige Wochen später im Gespräch auf die Frage nach der überraschenden Abwesenheit. »Ich hatte offenkundig das Interesse an meiner Person unterschätzt«, merkte er noch im nachhinein mit sichtlicher Freude spöttisch an. »Von all den Spekulationen, was denn mit mir sei, hat mir die mit der Schweiz und meinem neuen Sprössling am besten gefallen – ist doch nicht das Schlechteste für einen Mann in meinem Alter.« Er weiß um seine Wirkung. Und er bedient sie gern. Dass sich sein Image im Ausland noch einmal zu Lebzeiten verändern wird, hat er sich schon seit langem abgeschminkt.

Putin gehört nicht nur in Deutschland zu den ausländischen Politikern, die fast noch mehr im Visier der Journalisten sind als heimische Spitzenkräfte der Politik. Er steht im Westen unter Generalverdacht, nur Übles im Schilde zu führen. Die deutschen Leitmedien arbeiten sich seit Jahren an ihm ab, um gelegentlich einzuflechten, dass sein oder seine Nachfolger möglicherweise dann doch noch schlimmer sein könnten. Kurz, dass aus dieser Ecke der Welt kaum Gutes kommen wird. Sie vergessen dabei meistens, dass er durchaus von der Mehrheit der Russen mehrmals gewählt wurde. Und wenn nicht, dann oft nur mit dem Zusatz, die Wahlen in Russland würden regelmäßig gefälscht. Umfragen in Russland vermitteln ein anderes Bild: Putins Popularitätswerte haben zu Hause derzeit die Rekordhöhe von über 80 Prozent erklommen.

In anderen Worten: Wladimir Putin ist bei uns nicht nur im Gerede. Er ist seit über einem Jahrzehnt auch im Gespräch. Eine feste Größe, kontrovers und als Projektionsfläche unersetzlich. Ein alter Bekannter, den man sich gar nicht mehr wegdenken kann, auch wenn ständig sein Rücktritt gefordert wird.

Die Auseinandersetzung um die Ukraine hat das Phänomen Wladimir Putin noch weiter zur Inkarnation des Bösen gesteigert. Der Ukrainekonflikt ist von Beginn an die stilisierte Erzählung von Gut gegen Böse, von dem heroischen Kampf der demokratischen Weltgemeinschaft gegen die finsteren Machenschaften eines russischen Despoten. Es ist die Fortsetzung einer Vorstellung, deren populäres Copyright Ronald Reagan für sich in Anspruch nehmen kann, seit der US-Präsident die Sowjetunion erstmals 1983 vor einer Versammlung fundamentalistischer Evangelikaler publikumswirksam als »evil empire«, als »Reich des Bösen«, abstempelte.

Nach dem Abschuss der malaysischen Passagiermaschine MH17 über der Ostukraine verkörperte Wladimir Putin monatelang für viele Medien die Rolle des Alleinerben jener dunklen Ära, den es zu bekämpfen galt. Sinister, aber bedauerlicherweise auch gerissen und intelligent zugleich. Der einfach nicht aufhören will, Böses zu tun, obwohl Bundeskanzlerin Angela Merkel sich viel Mühe gibt und mit ihm redet. Und sie hat oft mit ihm geredet. So, als wäre der Konflikt auf der Ebene einer Gesprächstherapie zu lösen und nicht durch den handfesten Ausgleich politischer Interessen. In der westlichen Berichterstattung steht er da als einer, der nichts anderes will, als die ehemalige Sowjetunion wieder aufzubauen – auf Kosten des Baltikums und Polens. Dabei zählt nicht, dass dieses Szenario mehr als unwahrscheinlich ist, da diese Staaten längst NATO-Mitglieder sind und ein solcher Versuch nach dem NATO-Vertrag sofort den nächsten Weltkrieg auslösen würde.

Inzwischen hat sich die Hysterie etwas gelegt. Die Ukraine hat Mühe, auch nur annähernd die demokratischen Verhältnisse einzuführen, für deren Verwirklichung viele Medien auf die Barrikaden gegangen sind und viele Menschen ermordet wurden. Und die Wissenschaftler streiten sich zunehmend, ob die pathetische These des Westens stimmt, die Europäische Union als großartigen freiheitlichen Gegenentwurf zu dem Kolonialstaat Russland zu feiern, das als untergehendes Imperium die Ukraine nur nicht loslassen will.

Putin

Подняться наверх