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Vorgeschichte
ОглавлениеErste Siedlungen nomadisierender Wildbeuter um 10.000 v. Chr. im Bereich des heutigen Rissen
Am Ende der letzten Eiszeit (10.000 v.) durchbrechen Schmelzwasser die Endmoränen im heutigen Elbgebiet. Die gewaltigen Wassermassen lassen den Meeresspiegel steigen und formen in jahrhunderte langer Arbeit das Elburstromtal. Stürme wehen das Tal aus, feine Sande fliegen landeinwärts, und in den Niederungen der Moränenlandschaften entstehen ausgedehnte Dünenflächen – die Holmer Sandberge, die Tinsdaler Düne, der Wittensand, die Sicheldüne im Klövensteen.
Wittenbergen: Dünen
Die Sande fressen sich in das Sumpfland und in die Moore hinein. Das ganze Land ist durchzogen von Wasseradern, die sich zu kleinen Auen vereinen, die vom Blankeneser Höhenrücken aus das Land nordwärts entwässern. Die Dünenflächen zwischen den Seen (heute: Schnaakenmoor) und das hohe Elbufer, durch die Vor- und Rückwärtsbewegungen des Eises zusätzlich hoch gestellt, bieten sich als trockene Siedlungsplätze an. Bewachsen von Kriecheichen und Krüppelkiefern stellen sie günstige Schutz- und Rückzugsgebiete dar. Das Hochufer bricht hinter Tinsdal und Schulau ab, und stromabwärts schließen sich die langen fruchtbaren Marschen an – ein winziges Stück Marsch liegt auch vor Wittenbergen.
In der Vorzeit durchziehen Großhirsche, Bären, Wölfe und Elche ganzjährig die norddeutschen Tundren und Wälder, im Winter wandern Rentiere aus Skandinavien ein, die ganze Region ist für nomadisierende Wildbeuter – ausgerüstet mit Harpune und Bogen – ein lohnendes Jagdgebiet. Und dann ist da noch die Elbe mit ihrem Fischreichtum an Schollen, Butten, Barschen, Karpfen und Hechten. Schon um 10.000 v. C. im Übergang von der Alt- zur Jungsteinzeit werden im heutigen Rissener Gebiet nomadisierende Wildbeuter zeitweilig sesshaft, wie viele Werkzeugfunde am Elbufer und auf der Sicheldüne (nahe Waldspielplatz) im Klövensteen bezeugen.
Die Schaber, Pfeilspitzen und Federmesser aus Flintsteinen machen die ersten „Rissener“ in Expertenkreisen berühmt, sind doch die einseitig scharfen Messer, Schaber und Pfeilspitzen von besonderer Art, und ihre spezielle Fundlage im Dünensand erlaubt eine relativ klare zeitliche Zuordnung, denn im Dünensand werden übereinander zwei Lagen von unterschiedlichen Artefakten aus den Jahren 10.000 und 8.000 vor C. gefunden. Die ältere Lage erhält den Beinamen „Rissener Stufe“ gefolgt von der „Ahrensburger Stufe“. Über Jahre war die Sicheldüne im Klövensteen das Übungsfeld für Grabungen und Vermessungen von Studenten der Vor- und Frühgeschichte der Hamburger Universität.
Federmesser
Grabung Sicheldüne: Karl Stülcken + 3 Rissener Jungen
Die Ausgrabungen begeistern aber auch die Rissener Jungen in den 1940er Jahren; mehrere haben sich freiwillig und mit Elan an den Arbeiten beteiligt. Von einem „großen“ Entdecker – vorne links – werden wir noch zu sprechen haben.
Siedlungen: Einzelgehöfte – Ackerbau – Viehzucht – Handel
In der jüngeren Steinzeit beginnt die Besiedlung der Elblandschaften. Bären, Rentiere und Elche ziehen sich in die kälteren Regionen zurück, das Standwild (Rot- und Schwarzwild, Hasen und Wildvögel) erleichtert die Jagd vor Ort und erlaubt die Zähmung der Wildtiere und den Übergang zur Viehzucht.
Der sich durchsetzende Ackerbau (ab 4.000 v. C.) auf Rodungsinseln mit Einzelgehöften steigert die lokale Ökonomie, und die Überschüsse eröffnen Chancen für weitreichende Tauschhandlungen. Vermutlich schon seit der Bronzezeit (2.000 v.) verbindet der Ochsenweg die Elbregion mit Jütland, mit dem Viehhandel steigert sich auch der Fernhandel mit Metallen, Metallprodukten (Werkzeuge, Waffen, Schmuck) und Bernstein.
Auch vor Ort entwickeln sich die technischen Fähigkeiten zur Produktion von Tonwaren und zur Verhüttung von Raseneisenerz, Lehmböden und große Lagerstätten von Raseneisenerz (Iserbarg, Iserbrook) in geringer Bodentiefe werden in den Niederungen von Hamburg bis hinauf nach Flensburg gefunden – Verhüttungsöfen in Wittenbergen. Die neuen Technologien produzieren aber auch Umweltschäden. Die Brandrodungen für den Siedlungs- und Ackerbau und die Erzeugung erheblicher Mengen Holzkohle für die Eisenverhüttung vernichten Waldbestände, und die Heideflächen breiten sich aus.
Hügelgrabkultur und Urnenfelder
Sesshaftigkeit führt auch zu neuen Kulturformen, in der Bronzezeit setzen sich die Bestattungen in Stein- und Hügelgräbern (Erd- und Feuerbestattung) durch und werden dann in der Eisenzeit von großen Urnenfeldern so auch bei Tinsdal (400 Grabstellen) und Sülldorf (250 Grabstellen) abgelöst.
Hünengrab Groß-Flottbek – zerstört (Helms Museum)
Viele der Stein- und Hügelgräber aus der Region sind verschwunden oder zerstört worden, so beim Bau des kaiserlichen Altonaer Exerzierplatzes in Groß-Flottbek (heute: Desy), in der Suurheide beim Bau der Kaserne in Rissen (heute: Krankenhaus) und beim Bau der Eisenbahn.
Bronzezeitliches Hügelgrab in Rissen: Ringbettung – zerstört
Gräber und Friedhöfe der Vorzeit im Bereich des heutigen Rissen
Rissen, Wittenbergen, Tinsdal und Sülldorf stellen ein lohnenswertes vorgeschichtliches Siedlungsgebiet dar, das – trotz vieler Plünderungen und Zerstörungen – auch heute noch unser Interesse verdient, denn wer weiß schon, was sich unter dem Dünensand, in den Feldern, an den Ufern der Au oder im abstürzenden Gemergel des Elbhochufers noch finden lässt.
Lilienberg
Zwei Grabhügel können in Rissen heute noch erkannt werden. Der Lilienberg – ein flacher kreisrunder Hügel mit schönem Baumbestand - liegt zwischen dem Marschweg und dem Feldweg 77 bei den Anlagen des Rissener Sportvereins; und unweit vom Lilienberg auf dem ehemaligen Grundstück Tannenhof an der Ecke Gudrunstraße / Grot Sahl liegt der Kaffeeberg.
Kaffeeberg
Der Kaffeeberg – einst im Dünengelände – befindet sich heute in einem Vorgarten von Bäumen umgeben, bei Sonnenschein bildschön – wenn man ihn bemerkt. H. Sch. aus der Nachbarschaft hat 1934 bei der Ausgrabung und Untersuchung des Hügels als Jugendlicher mitgeholfen. Er erzählt, dass zuerst von dem Gärtner in geringer Tiefe rund dreißig Meter vom Hügel entfernt 15 teils braune, teils tiefschwarze Urnen entdeckt und freigelegt wurden, die jeweils von einer Steinpackung umgeben waren. Es wurden auch eine Nadel und eine Spange aus Eisen gefunden.
In dem Hügelgrab hat vermutlich eine Familie über Generationen ihre Toten beerdigt. Diese Grabstelle verfügt neben dem Basisgrab über mehrere spätere Grabeintiefungen aus der Bronze- und Eisenzeit. An den Schäden der Steinpackungen war gut erkennbar, dass die Gräber schon vor langer Zeit geöffnet und geplündert worden waren: Gefunden wurden nur Feuersteinstücke und Tonscherben. An den Stempel-Ornamenten auf einer rotgelben Trinkbecherscherbe erkannten Experten spanische Einflüsse.
Urnen Tinsdal / Sülldorf
Die großen Urnenfelder von Tinsdal und Sülldorf aus der Eisenzeit (Nordeuropa: 100 – 400 n. Chr.) legen beredtes Zeugnis davon ab, wie die Besiedlungsdichte zunimmt. Der Dorfschullehrer Caspar Hinrichs Fuhlendorf (1844-1903) hat – mit Hilfe von Schülern – in Sülldorf einen ganzen Friedhof von Urnen mit und ohne Grabhügel ausgegraben.
Bronzenadeln aus Tinsdal und Sülldorf (aus: Beuche)
Er hat die Grabstätten kartographiert und die Urnen, Urnenscherben und Beigaben aus der Bronze- und Eisenzeit – Nadeln, Fibeln, Ketten, Schnallen – nach Kiel ins Museum verbracht. Fuhlendorf hat sich um die Entdeckung und Sicherung prähistorischer Funde aus den Elbgemeinden große Verdienste erworben.
Das Elbhochufer bei Tinsdal war vor seiner Befestigung in den 1960er Jahren eine wahre Fundgrube für Flintstein- und Feuersteinwerkzeuge: Klingen, Beile, Pfeilspitzen. Aber bearbeitete Feuersteine wurden auch an der Au, auf den Feldern, in den Dünen gefunden. Hier soll nun noch von Funden am Elbhochufer von Rissen erzählt werden.
Elbhang Wittenbergen 19. Jahrhundert
Bearbeitete Feuersteine – gefunden von Jürgen Zimmern an der Au in Rissen
Luusbarg in Wittenbergen
Der Luusbarg in Wittenbergen ist ein attraktiver baum- und heidebewachsener Abschnitt des Elbhochufers. Das Gelände gehörte Ende des 19. Jahrhunderts dem Bauern E. Ladiges aus Tinsdal. Auf diesem Gelände brach eines Tages unter dem Tinsdaler Schäfer die Erde ein, und er landete in einer Grabstelle mit Steinrahmung, Skelettknochen und kleinen Beilagen. An der Nordseite des Luusbargs wurde dann ein weiteres Grab, dieses Mal ein Kinder-Doppelgrab zusammen mit einem Tongefäß und den Resten eines bronzenen Vollgriffmessers: „beidseitig verziert, mit rhombischen, glatt abschließendem Knauf“ (Prüssing, S. 61) gefunden. Kein Wunder, dass der Luusbarg nun das Interesse auf sich zog.
Ab 1880 ließ Bauer Ladiges „fast alle Hügel und Berge an der Elbe gegen Vergütung bis zu einer Tiefe von 2-3 m nach Steinen durchgraben. Fuhlendorf gegenüber hatte er sich verpflichtet, alle Funde für das Kieler Museum herzugeben“ (Krahn 1981).
Bauer Ladiges war ausschließlich kommerziell an den Steinen interessiert und nicht an den ärmlich ausgestatteten Grabstätten, ihren Knochen und Tonscherben. Die Findlinge, die in der Eiszeit an die Elbe verbracht worden waren oder schon in der Vorzeit beim Grabbau gebraucht worden sind, wurden im 19. Jahrhundert als Grenzsteine, Pflastersteine und erneut als Grabsteine gern verwendet und waren im Baugewerbe begehrt für Stadtmauern, Fundamente, Fußböden und beim ländlichen Brunnenbau.
Der Verwahrfund vom Luusbarg
und die Geschichte seiner Entdeckung
Bei den Grabungen auf dem Gelände Ladiges kommt es 1885 zu einer kleinen Sensation, Steinsucher finden eine größere Urne gefüllt mit Bersteinperlen, Schmuck und Jagdwaffen aus Bronze: Ösenhalsringe, Ohrringe, Nadeln, Armringe, ein Randleistenbeil und eine Lanzenspitze von 15 cm Länge.
Bei dem „Schatz“ handelt es sich um einen Verwahrfund, den sein Besitzer nur für eine gewisse Zeit vergraben wollte, aber der „Schatz“ bleibt über 3.500 Jahre in der Erde verborgen.
Verwahrfund
„Am 14. Januar 1885 erfuhr Fuhlendorf...von einem bedeutenden Fund in Tinsdal... Der Finder, ein im Auftrage von Ladiges arbeitender Steingräber namens Plath, war eben im Begriff, die Bronzefunde lieblos in ein Taschentuch zu wickeln, um sie in seine Wohnung nach Wedel mitzunehmen. Mit größter Mühe...und mit dem Versprechen auf einen Finderlohn seitens des Kieler Museums (heute: Schloss Gottorp) gelang es Fuhlendorf, den Fund an sich zu nehmen.
Dem Finder wurde bald darauf von Dr. Brinkmann am Kunstgewerbemuseum in Hamburg neben verlockenden Fundprämien für Urnen und andere Funde für den Bronzefund ein Preis von 400 Mark geboten. Es entspann sich nun um den geringen Finderlohn von 30 Mark, den Kiel zu zahlen bereit war, ein heftiger Federkrieg zwischen allen Beteiligten, wobei viele böse Worte hin und her flogen und vor allem die Bestrebungen der Hamburger in den Augen Fuhlendorfs nicht gut wegkamen. Es blieb zum Schluß bei dem Preis des Kieler Museums, in dessen Händen der Fund ohnehin schon war. Zu den Fundumständen brachte Fuhlendorf folgendes in Erfahrung:
Die Arbeiter waren beim Steine suchen am südwestlichen Abhang des Luusbargs ungefähr 100 m von den Schmelzöfen entfernt in 40 cm Tiefe auf eine einfache Steinpackung gestoßen, in der ein Tongefäß stand. Von dem beim Herausnehmen zerstörten Gefäß fehlten nachher mehrere Scherben und auch die im Gefäß liegenden Bronzegegenstände waren z. T. beschädigt. Sie alle haben zusammen mit den Bernsteinperlen in dem Topf gelegen. Das Auffinden ging nach Aussage der Arbeiter so vor sich, dass Plath mit der Spitzhacke die Steinpackung auseinanderreißen wollte. Gleich beim ersten Hieb traf er mitten in den Topf mit der Bronze hinein“ (Krahn 1981, S.25).
Der Luusbarg wird 1907 von dem Hamburger Bankier Münchmeyer gekauft, um sich dort ein Sommerhaus zu bauen. Hofft er auf weitere Schatzfunde gemäß der Sage vom versunkenen Schatz im Luusbarg: In der Johannesnacht leuchtet auf dem Luusbarg ein Licht, das immer erlischt, wenn man sich ihm nähert.
Idol von Rissen – Erdgöttin von Rissen
Am 18.06.1971 berichten die Norddeutschen Nachrichten und der Blickpunkt Wedel von einem Vorzeitfund in Rissen ...von europäischer Bedeutung. „Ein sensationeller Fund ist in Rissen, am Tinsdaler Leuchtturm, gemacht worden: ein schwarzer Stein mit dem eingeritzten Bildnis eines Idols, das rund 4.000 Jahre alt sein dürfte...
Idol von Rissen – 4.000 Jahre alte Erdgöttin
Es handelt sich um das erste Idol aus Stein und in dieser Form aus dem Neolithikum, der Jungsteinzeit, das im Raum Norddeutschlands und Skandinaviens gefunden wurde... Zum ersten Mal erleben wir, dass ein Mensch dieser Zeit, ein Künstler, die Gestalt eines göttlichen Wesens schuf. Wie sieht es aus? Die Göttin ist 8 cm hoch, aufrecht stehend, und an der Basis 6 cm breit. Sie besteht aus schwarzem cambrischen Schiefer. Unheimlich lebendig und suggestiv wirkt sie auch heute noch. Die tiefen Augen, der weit geöffnete Mund scheinen etwas aussagen zu wollen. Ist es eine Erdgöttin?“
Eine sakrale Figur – eine Rissener Göttin? Das erwartungsfrohe Auge wird aber von dem Anblick der Figur dann doch enttäuscht: keine üppige weibliche Figur wie die Venus von Willendorf, eher eine Studienrätin der Geometrie geschmückt mit ornamentalen Symbolen. Und gleicht das Gesicht nicht der Zeichnung eines 1. Klässlers: Punkt, Punkt, Komma, Strich – fertig ist das Mondgesicht?
Venus von Willendorf (Alter 29.000 Jahre)
Ich habe mich in den 1990 er Jahren an das Helms Museum gewandt und nach dem Idol von Rissen gefahndet. Ziemlich schnell war klar, dass der Entdecker W. E. der Öffentlichkeit einen Bären – oder besser eine Göttin - aufgebunden hatte.
Das Helms Museum verwies mich an das Universitätsinstitut für Frühgeschichte. W. E. war dort technischer Mitarbeiter gewesen. Er hatte noch einige Steine hinterlassen, die man mir gern aushändigen wollte. Was also – kein sensationeller Fund in Rissen? Kein Weltkulturerbe?
Im Blickpunkt Wedel erschien kurz nach dem ersten Bericht noch ein Artikel über einen zweiten sensationellen Fund von W. E., er hatte am Tinsdaler Hochufer magische Steine mit Ritzzeichnungen aus der Altsteinzeit gefunden. Hatte ihn nach seinem ersten Täuschungserfolg nun der sportliche Ehrgeiz gepackt?
Stein mit Ritzzeichnungen
Rissen hat nicht nur eine Geschichte sondern auch seine ganz eigenen Geschichten. Vielleicht ist bei W. E. der Traum das Idol von Rissen zu finden schon bei seinen Grabungen als Junge in der Sicheldüne unter Karl Stülcken entstanden.
W. E (vorne links)