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8. Das Heim

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Schließlich kam ich wieder in das Heim, in dem ich über Ostern war. Das war gut, denn ich kannte ja die Erzieher und die Kinder und musste mich an nichts Neues gewöhnen. Außerdem war es an einem wunderschönen Ort, wo ich immer einen Platz zur Ruhe fand. Das war mir sehr wichtig. Die ersten Monate lief ich nur mit Kapuze über dem Kopf rum. Es war mein Schutzschild. Ich konnte kein richtiges Vertrauen aufbauen. Zwar mochte ich die anderen, aber ich musste erst einmal zur Ruhe kommen. In den vergangenen Jahren war zu viel passiert, und endlich hatte ich einen Ort, an dem ich mir über alles bewusst werden konnte. Ich fühlte mich sicher und konnte mich endlich mal zurückziehen. Es war aber auch Angst, die mich zum Rückzug zwang. Angst davor, wieder verletzt zu werden, egal in welcher Form. Von ein paar Klassenkameraden erfuhr ich, dass meine Mutter geäußert hätte, sie habe keine Tochter mehr. Es verletzte mich, denn ich befürchtete, dass sie damit auch für den Rest der Familie sprach. Leider bewahrheitete sich das. Durch meinen Entschluss, von zu Hause wegzugehen, verlor ich meine Familie. Meine Mutter bedeutete mir nur wenig, aber ich verlor auch meinen Vater, meinen Bruder und die restliche Verwandtschaft. Der Einzige, der zu mir hielt, war mein Großvater. Ich mochte ihn von allen Familienangehörigen am liebsten. Es war eine schöne Zeit, die ich mit ihm erlebte und er hatte wohl als Einziger erkannt, dass es mir daheim nicht gut ging. Während meiner Zeit im Heim besuchte ich ihn gelegentlich in den Ferien. Er beschützte mich, wie damals, als ich noch zu Hause wohnte. Mein Großvater war ein herzensguter Mann und mein Vorbild. Tagein und tagaus kümmerte er sich um meine Oma. Er widersetzte sich meiner Mutter und gab mir die Sicherheit und Wärme, die ich brauchte. Er verstarb, als ich ungefähr sechzehn war. Er hatte mir noch gesagt, dass ihn meine vor die Wahl, entweder sie oder ich, gestellt hatte. Er hätte sich für mich entschieden, denn er wusste, dass sein Sohn, mein Stiefvater, ihn nicht allein gelassen hätte. Bevor es zu einer Aussprache zwischen meinem Großvater und meiner Mutter kommen konnte, starb er. Manchmal denke ich, dass ihn der physische und psychische Druck, der auf ihm angelastet hat, umgebracht hat. Zu seinem Begräbnis durfte ich nicht gehen. Meine Mutter verbot es, schließlich gehöre ich nicht mehr zur Familie. Ich war der Schandfleck dieser Familie. Ich weiß bis heute nicht, was sie über mich erzählt hat, aber inzwischen ist es mir egal. Keiner hat sich darum bemüht t, auch die andere Seite kennenzulernen. Erst Jahre später zeigte mir mein Stiefvater das Grab meines Großvaters. Ich denke heut noch oft an ihm und leide darunter, keine Familie zu haben.

Im Heim gewann ich immer mehr an Selbstsicherheit und Selbstvertrauen, und damit den Mut mich gegen meinen Klassenkameraden zu wehren, die mich unter anderem mit Klobürsten bewarfen. Sie hatten zwar mitbekommen, dass ich nicht mehr zu Hause wohnte, aber das war kein Grund für sie, mich mit ihren boshaften und egoistischen Taten in Ruhe zulassen. Aber dann kam der Zeitpunkt, an dem ich mich zur Wehr setzte. Ich schlug zurück und schrie sie an. Danach hatte ich meine Ruhe, und sie akzeptierten mich. Es war ein gutes Gefühl. Ich hatte etwas an meiner häuslichen und schulischen Situation geändert. Es gab keine Qual mehr. Ich fuhr gern ins Heim, mein neues Zuhause, und auch in die Schule.

In dieser Zeit erwachte meine Begeisterung für das Fahrradfahren. Ich fuhr täglich wenigstens einmal vom Heim zur Schule, eine Strecke von über fünfzehn Kilometern. Das machte sich auch an meinen Körper bemerkbar. Der Sport und die regelmäßige Ernährung machten sich bemerkbar. Im Heim bereiteten wir die Mahlzeiten gemeinsam vor und speisten zusammen. Zu Hause hatte ich mir nach der Schule erst mal einen Liter Pudding.

Ich fahre auch heute noch leidenschaftlich gern Fahrrad. Sogar so gern, dass ich hin und wieder an Radrennen teilnehme. Ich finde es einfach toll. Diese Ruhe, die Nähe zu der Natur und das Alleinsein. Auf dem Rad bin ich nur für mich. Ich kann nachdenken, aber auch einfach den Stress rausfahren. Am schönsten ist es, während einer Trainingsfahrt eine Pause einzulegen. Einfach im Grünen einen Stopp einlegen, dort, wo keine Menschenseele ist, sich ins Gras legen und den Himmel beobachten oder die spiegelnde Oberfläche eines Sees betrachten. Ich liebe diese Momente. Gleichzeitig ist das ein Sport, bei dem man immer wieder an seiner Leistungsgrenze stößt und sie durchbrechen will. Ähnlich wie in meinem Leben, in dem ich immer neue Herausforderungen suche, die mich von meinem Schmerz ablenken.

In den ersten Wochen und Monaten im Heim verschloss ich mich. Es gab zwar viele Momente, in denen ich auch mit den anderen Kindern zusammen war, aber ich suchte täglich meine Ruhe. Die Kinder waren sehr unterschiedlich. Es gab die Großen, die auf ihren Auszug vorbereitet wurden. Einige von ihnen waren in meiner Altersgruppe und in einer anderen Gruppe, gab es auch Kinder, die gerade mal zehn und jünger waren. Ich schloss mich meist den Kindern meines Alters oder den Älteren an. Meine Erinnerungen an dieser Zeit sind schön. Sie lassen mich lächeln. Es gab Fernsehabende und Ausflüge mit der ganzen Gruppe. Nachdem ich etwas aufgetaut war, genoss ich am meisten die Fernsehabende, da die Erzieher dann immer mit und kuschelten. Als ich mich endlich dafür öffnete, war es das Schönste, ihre Nähe und Geborgenheit zu fühlen. Die Betreuer waren immer für jeden da.

Es gab leider auch Momente, die mich ängstigten und mir das Gefühl gaben, dass ich nirgendwo sicher sein konnte.

In den Ferien sind viele nach Hause zu ihren Eltern gefahren. Ich gehörte nach den Tod meines Opas nicht mehr zu den Glücklichen. Die meisten Ferien verbrachte ich im Heim. Es gab eine Zeit, da war ich mit einem Jungen in meinem Alter allein im Heim. Die Erzieher waren unten im Büro. Ich weiß noch ganz genau, wie ich erwachte und ihn mit heruntergelassener Hose vor meinem Bett erblickte. Ich bekam Angst und fühlte mich einen Moment gelähmt. Dank meines gewonnenen Selbstvertrauens konnte ich mich wehren. Ich brachte zwar keinen Ton heraus, nahm aber seinen Penis und drehte ihn kräftig um. Ich sah, dass im verschmerzt Tränen in die Augen traten und sagte ihm, dass er mich nie wieder anfassen sollte. Fortan hielt der Abstand zu mir. Glücklicherweise war er in einer anderen Gruppe. Aus dem Gefühl heraus, dass mir eh keiner glauben würde, vertraute ich mich keinem Erzieher an.

An das Heimgrundstück schloss ein kleiner Karpfenteich an. Wir mussten nur durch den Zaun und schon waren wir da. An diesen Teich habe ich viele schöne Erinnerungen. Wir Kinder oft Sommer wie Winter da. Er war dreckig, aber wir schwammen trotzdem darin.

Mein Heimaufenthalt war gefüllt mit positiven Erlebnissen. Es gab Ausflüge, Ferienfahrten und das, was ich am meisten liebte, die Kuschelabende vor dem Fernseher. Ich genoss es, in dieser Gemeinschaft zu leben. Eine Gemeinschaft, die zusammenhielt, wo alle am Verlust des Elternhauses litten und aufgrund schlechter Erfahrungen geprägt waren.

Als ich ungefähr fünfzehn war, stand fest, dass wir aus dem alten Haus raus mussten. Die Sanierungsarbeiten waren für den Staat zu teuer, und so bekamen wir ein Gebäude in dem Ort, in dem meine Eltern wohnten. Diese Nähe und die Möglichkeit, dass ich ihnen jederzeit über den Weg laufen konnte, bereitete mir große Angst. Es gab aber keine andere Möglichkeit und so musste ich mich mit dem Umzug abfinden.

Mit dem Umzug kamen nicht nur meine Ängste wieder, sondern es taten sich neue Probleme auf, die vermutlich der neuen Situation geschuldet waren. Ich war damals bei einer Psychologin in Behandlung. Während der vielen Sitzungen sollte ich mein Trauma mit ihr aufarbeiten. Es fiel mir sehr schwer, über die sexuellen Übergriffe meiner Mutter zu sprechen, zu groß war meine Scham. Ich weiß heute leider nicht mehr, ob ich wirklich ins Detail gegangen bin. Ich bezweifele es, da ich heute noch nicht darüber reden kann. Aber vielleicht lag es auch an dem Gespräch, das meine Psychologin in die Wege geleitet hatte. Ich sollte im Beisein meiner Eltern, meiner Bezugserzieherin, und der Sozialarbeiterin vom Jugendamt, sagen, warum ich von zu Hause weg bin. Ich hatte riesige Angst davor, Tage zuvor plagten mich Albträume. Schon der Gedanke, dass ich mit meiner Mutter in einem Raum sitzen musste, war angsteinflößend genug.

Ich kam aber nicht darum herum. Das Gespräch fand stand. Da ich keinen Ton herausbrachte, sprach meine Psychologin. Meine Mutter rastete aus, wurde laut und verließ mit bösartigen Beschimpfungen den Raum. Sie stellte mich als Lügnerin hin. Mein Vater verließ kurz nach ihr den Raum. Ich weiß nicht, ob die anderen mir geglaubt haben. Ich bezweifle es. Wie oft kommt es schließlich vor. Nach dieser Gegenüberstellung ging ich nicht mehr lange zu der Psychologin, denn ich hatte auch ihr gegenüber Zweifel, ob sie mir glaubte.

Mein Kampf, das Leben

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