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10. Mein Trebegang

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Obwohl ich mich im Heim wohlfühlte und die Geborgenheit und Sicherheit erhielt, nach der ich mich immer gesehnt hatte, wohnte in mir das Fernweh. Gegenüber unseres Heims gab es die Zirkus- und Rummelwiese. Kurz vor meinem Trebegang war ich viel mit Beate, einem anderen Heimkind, unterwegs. Es war die Zeit, in der ich begann, Alkohol zu konsumieren und hin und wieder gegen die Heimregeln zu verstoßen. Gerade, wenn ich mit Beate unterwegs war, kamen wir des Öfteren zu spät und betrunken zurück. Wir trieben uns auch viel auf dem Zirkusgelände herum, kümmerten uns ein wenig um die Tiere und verlebten uns jede in einen Zirkusmitarbeiter. Sie waren beide weitaus älter als wir. Patrick, in den ich verliebt war, war bereits siebenundzwanzig. Ich war gerade mal fünfzehn Jahre jung. Es störte mich nicht, dass er wesentlich älter war als ich. Er wirkte ruhig und liebevoll. Als ich mit ihm zusammen war, träumte ich davon, mit ihm und dem Zirkus mitzuziehen. Als ich ihn fragte, ob das möglich war, erkundigte er sich beim Zirkusdirektor. Leider war ich zu jung, und er wollte sich nicht strafbar machen. Darüber war ich traurig. Der Zirkus zog bald weiter und Patrick und ich konnten nicht mehr zusammen sein. Ich wollte meine große Jugendliebe nicht gehen lassen. Also schmiedete er einen anderen Plan. Er hatte von Zirkus, dem stetigen Herumreisen und den unregelmäßigen Zahlungen genug. Er wollte er zurück nach Halle und ich weg vom Heim. Ich wollte neue Orte entdecken und neue Menschen kennenlernen. Mein Ausreißen von zu Hause war der Anfang und nahm mir die Angst vorm Loslassen. Ich hatte einmal das Glück, ein neues Zuhause zu finden, was mir mein Vertrauen zu mir und den Menschen wiedergegeben hatte, warum sollte es diesmal nicht auch so sein? In dem Ort, in dem unser Heim jetzt angesiedelt war, war ich groß geworden. Hier hatte ich immer Angst, auf meine Eltern zu treffen.

Kurz bevor der Zirkus also weiterzog, sollte es losgehen. Beate und ich waren den ganzen Nachmittag da. Während sie abends ins Heim zurückging, zog ich mit Patrick los. Es war kalt und früh dunkel. Da unsere Befürchtung, dass uns jemand suchen konnte, sehr groß war, suchten wir in einer alten Ruine, nicht fern von der Zirkuswiese Unterschlupf und verbrachten dort die Nacht. In dieser Nacht wollte Patrick mit mir schlafen. Seine Finger glitten öfters zu meiner Brust und meinem Genitalbereich. Ich war noch nicht so weit und hatte Mühe, ihn von seiner Lust abzubringen, was er schließlich auch akzeptierte. Früh am Morgen machten wir uns auf den Weg nach Berlin. Er hatte sein Erspartes mitgenommen, das für die Fahrkarten bis nach Halle reichen sollte. Aber erst einmal ging es nach Berlin, wo wir die Bahnhofsmission am Ostbahnhof aufsuchten. Patrick kannte sich in solchen Dingen recht gut aus, wofür ich ihm dankbar war. Heute jedoch, denke ich, dass mir das schon seltsam hätte vorkommen müssen. Damals dachte ich nicht viel darüber nach.

In der Stadtmission konnten wir uns waschen und bekamen für fünfzig Pfennig eine warme Mahlzeit. Wir hatten am Morgen nur trockene Brötchen zum Frühstück gehabt, entsprechend groß war unser Hunger. Da der Fahrpreis nach Halle doch höher war, als unser restliches Geld, wollten wir noch eine Nacht in Berlin verbringen, um am nächsten Morgen mit einem Bummelzug zu fahren, da das billiger war. So streiften wir durch Berlin, um uns ein Nachtquartier zu suchen. Am Ende landeten wir in einer Gartenkolonie und brachen in einen Bungalow ein. Essen und Trinken hatten wir uns vorher besorgt.

Da ich aufgrund meines Weglaufens von zu Hause wusste, dass die Heimleiterin mich als vermisst melden würde, musste ich mein Äußeres verändern. Also schnitt ich mir die Haare ab. Da ich darin nicht besonders gut war, sah es komisch aus, aber ich war wenigstens nicht gleich zu erkennen. Die Haare ließ ich auf dem Boden liegen, ohne an die möglichen Folgen zu denken. An diesen Abend wollte Patrick wieder mit mir schlafen. Auch diesmal verweigerte ich mich. Langsam wurde ungeduldig. Es war schwer, mich durchzusetzen. Er versuchte es immer wieder. In diesem Moment wäre ich am Liebsten zurückgegangen, aber es ging nicht. Schließlich war ich bereits eine Nacht auf Trebe und die Angst vor den zu erwartenden Konsequenzen war groß.

Früh am Morgen machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof. Als wir mit den Zug an der Gartenkolonie vorbeifuhren, sahen wir ein Aufgebot an Polizisten. Erst da begriff ich, wie dumm es war, meine Haare zurückzulassen. Glücklicherweise kam es nie heraus.

In Halle fuhren wir zuerst ins Schirmprojekt. Das war eine Institution für Obdachlose, in der sich vor allem Punks aufhielten. Patrick kannte einige von ihnen und wollte einen alten Freund fragen, ob wir bei ihm übernachten konnten. Er hatte nichts dagegen, wir mussten allerdings bis zum Abend warten. Die Nacht bei Lars verlief ruhiger. Patrick ließ mich weitgehend in Ruhe. Vielleicht lag es daran, weil wir auf der Couch schliefen. Ich war erleichtert und konnte mal gut einschlafen.

Am folgenden Tag machten wir uns auf den Weg zum Arbeitsamt, wo Patrick Geld beantragen wollte. Nach seinem Antrag sollte er im Amt warten, bis die Berechnung erfolgt war. Es verging mindestens eine Stunde. Plötzlich kamen die Feldjäger. Jeder Versuch, abzuhauen, wäre zwecklos gewesen. Patrick wurde vor meinen Augen abgeführt. Ich fühlte mich hilflos, wusste nicht wohin. Um ihn tat es mir jedoch nicht leid. Irgendwie war ich froh, von ihm wegzukommen, denn schließlich waren seine stetigen sexuellen Annäherungsversuche anstrengend gewesen. Ich fuhr ins Schirmprojekt und erzählte Lars alles. Er war nicht wirklich überrascht. Wir redeten lange und ich erfuhr einiges über Patrick, auch dass er verheiratet war. Lars bot mir an, dass ich weiterhin bei ihm Schlafen konnte, das sei ihm lieber, als wenn ich unter einer Brücke schlafen müsste. Tagsüber sollte ich mich aber woanders aufhalten, da er im Schirmprojekt ehrenamtlich tätig war. Ich wusste nicht warum, aber ich vertraute ihm vom ersten Moment an. Beim Schlafen teilten wir uns ein Bett, ohne dass er mich berührte. Mit der Zeit kam ich mit den Leuten im Schirmprojekt immer mehr in Kontakt. Da ich kein Geld hatte und nicht auf Lars’ Kosten leben wollte, erkundigte ich mich bei den Punks, wie sie an Geld kamen. Sie bettelten, die Leute am Bahnhof an. Auf meine Bitte hin nahmen sie mich mit. Am Anfang schaute ich noch nur zu. Es war schwer, einfach auf die Leute zuzugehen, und sie um Geld zu bitten. Schließlich traute ich mich immer mehr und mehr. Einige Passanten waren sehr abweisend, andere dagegen gaben gern, mal mehr und mal weniger. Das Erstaunlichste und Lehrreichste war, dass es Menschen gab, die uns nicht ablehnten, sondern sich freuten, mit uns ins Gespräch zu kommen. Sie redeten mit uns, als seien wir ihre Nachbarn.

Beim Schnurren gab es einige Gesetze. Es wurde nicht getrunken, da es einen schlechten Eindruck machte. Außerdem teilten wir das eingenommene Geld. Meistens kauften wir davon Essen und Trinken. Je nachdem, was wir eingenommen hatten, machten wir Feierabend und gönnten uns unser Bier. Sie hatten nichts dagegen, dass ich Lars etwas zu essen mitbringen wollte. Er wurde von allen sehr geschätzt, da er jedem half, der Hilfe benötigte, wenn es in seinen Möglichkeiten lag. Betteln ist ein harter Job, eigentlich das härteste überhaupt. Man hat nichts anzubieten und kann nur auf das Mitgefühl der anderen hoffen. Es gab zwei Gruppen, die wir meiden mussten. Die erste Gruppe war die Polizei, die gern Platzverweise erteilten. Wurde jemand trotz des Verbotes noch einmal an diesem Platz erwischt, konnte es passieren, dass er eine Nacht in einer Zelle verbringen musste. Daher waren wir meist nur in Kleingruppen von zwei oder drei Leuten unterwegs, damit wir leichter untertauchen konnten. Die zweite Gruppe waren die Rechtsradikalen. Sobald sie auftauchten, mussten wir uns als größere Gruppe präsentieren, um ihnen überlegen zu sein. Einmal gab es eine heftige Prügelei, bei der glücklicherweise die Polizei kam und vor allem die Rechtsradikalen ins Visier kamen.

Mit Lars hatte ich mein erstes Mal, was ich selbst auch wollte. Wie gesagt, ich vertraute ihm und verliebte mich in ihn. Als wir einmal im Bett lagen, suchte ich seine Nähe. Es kam zum Kuss und wir begannen unsere Körper zu streicheln. Er war sehr vorsichtig, dass es wirklich kaum schmerzte. Es war das erste Mal, dass ich Gefallen am Sex hatte und weder Angst noch Ekel verspürte.

Lars war ehrlich und sah alles sehr realistisch. Nach knapp zwei Wochen Trebegang offenbarte er mir meine weitere Zukunft, sofern ich weiter auf der Straße blieb. Ich würde so enden, wie die anderen Punks ohne Schulausbildung und Job. Das wäre zu schade um mich, betonte er. Ich bin ihm heute noch sehr dankbar dafür. Das gab mir zu denken und ich fasste den Mut, im Heim anzurufen.

Sie waren glücklich, dass ich mich meldete und es mir gut ging. Sie wussten natürlich, dass ich mit einem Typen durchgebrannt war. Wenn ich länger weggeblieben wäre, hätten sie den Heimplatz an jemand anderen vergeben müssen. Sie streckte mir das Geld für die Fahrkarte vor. Ich sollte zum Bahnhofsschalter gehen und meinen Namen nennen. Dann würde ich die Fahrkarte erhalten, um mit den nächsten Zug nach Hause zu fahren. Ich ging ein letztes Mal ins Schirmprojekt und verabschiedete mich von allen. Es fiel mir schwer, denn ich hatte sie alle lieb gewonnen. Doch die Vernunft siegte. Zum Andenken schenkte mir Mel ihre Ratte. Dann ging es zurück ins Heim. Ich hatte Angst vor den Reaktionen der Erzieher und den anderen Heimbewohnern. Auch wusste ich nicht, mit welchen Konsequenzen ich rechnen musste.

Als ich ankam, verzog ich mich zunächst in mein Zimmer und versuchte die Ratte zu verstecken. Kurz darauf kam die Erzieherin und wollte mit mir sprechen.

Ich folgte ihr in ihr Büro. Das Gespräch verlief erstaunlich ruhig, keine Schuldzuweisungen. Das Ferienlager war gestrichen und das Vertrauen musste ich mir wieder aufbauen. Das war alles zu ertragen und verständlich. Zuhause hätte ich schlimmere Strafen erhalten.

Von der Ratte haben sie am Anfang nichts mitbekommen. Sie war eine treue Seele. Ich konnte sie überallhin mit mitnehmen. Das Putzigste war, dass sie auf der Wiese nicht lange blieb, sondern immer wieder in mein Hosenbein kroch und aus dem Riss im Stoff herausschaute. Zerrissene Jeans waren damals in. Doch nach kurzer Zeit verpfiff mich Beate und ich musste die Ratte abgeben. Es schmerzte, denn sie war mein Andenken an liebe Leute. Ich gab sie einem Bekannten von Beate. Kurze Zeit später erfuhr ich, dass sie überfahren worden war. Ich weinte, denn ich hatte versprochen, mich gut um sie zu kümmern, was ich nicht einhalten hatte können.

Mein Kampf, das Leben

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