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Ein plötzliches lautes Kindergeschrei ließ Susanne aus ihrem Haus auf die Straße rennen. Ebenso eilig stürzte Helene aus ihrer Haustüre. Das hörte sich ja bedrohlich an! Beide sahen das kleine Mädchen gleichzeitig. Es stand auf der Straße, weit vorgebeugt, seine krausen blonden Löckchen fielen ihm halb ins Gesicht, es starrte auf seine Knie, das rechte blutete stark, das Blut lief bereits in das helle Söckchen. Rosi oder Rosa, wie immer auch ihr Name lautete, schrie wie am Spieß! Im nächsten Moment wurde schräg gegenüber, bei der Haus Nummer 4, die Eingangstüre ruckartig aufgerissen. Die Mutter erschien und kreischte hysterisch laut: „Mach, dass du reinkommst und hör mit dem Gebrüll auf, ehe die ganze Straße zusammenläuft. Wird’s bald, mach dich rein, verdammt noch mal!“

Helene und Susanne erschraken, diese unmögliche Person!

Die Kleine wimmerte: „Ich wollte fortlaufen, da bin ich gefallen.“ Das war sehr leise, nur Helene Weber konnte es verstehen, sie stand nahe genug, auch noch um zu sehen, wie sich die Kleine von ihrer Mutter eine Backpfeife einfing. Dann schlug die Tür mit einem Knall hinter Mutter und Kind zu.

„Die hat sie doch nicht alle“, entschlüpfte es Helene entrüstet.

Susanne ging ein paar Schritte die Straße hinab, näherte sich Helene. „Wann hast du zuletzt den Vater von, ich nenne sie jetzt einfach mal Rosi, gesehen?“, fragte sie.

Helene hob die Schultern. „Das ist mindestens vier Wochen her.“ Sie war viel zu empört und auch verwirrt, um einen klaren Gedanken fassen zu können. „Vielleicht auch länger.“

Inzwischen war Frank Hauff ebenfalls von dem Spektakel angelockt worden und trat zu ihnen. „Was war denn los?“

„Frau Haas hat mit ihrer kleine Tochter Stress“, antwortete Helene aufgeregt. „Das Kind flüsterte es wollte fortlaufen, deshalb sei es gefallen.“

„Wenn ein Kind von zu Hause weglaufen will, stimmt es da sicherlich schon länger nicht mehr“, überlegte Frank laut.

„Das glaube ich auch und jetzt verstehe ich erst, was Michael gemeint hat mit den traurigen Augen der kleinen Rosi“, entrüstete sich Susanne. „Er weiß nicht einmal ihren Namen. Michael glaubt sie heißt Rosi, jedenfalls so ähnlich. Und das, wo sie doch die einzigen Kinder in unserer Siedlung sind.“ Und nach kurzem Nachdenken: „Na ja, wir Erwachsenen machen es ihnen ja vor, Fremde zu sein.“

Helene meinte zu wissen: „Ihr Vater ist oft wochenlang auf Montage, manchmal sogar im Ausland, wahrscheinlich derzeit auch wieder. Hat irgendwas mit Maschinenbau zu tun, ich weiß aber nichts Genaues. Frau Haas ist ein Biest! Sie will mit nichts und niemand etwas zu tun haben, ist die Unhöflichkeit in Person! Und ich weiß wovon ich spreche! Sie hält sich wohl für was Besseres. – Du hast recht Susanne, wir können und müssen was dran ändern, ich meine in der Nachbarschaft, wir sollten endlich aufeinander zugehen! Und wenn es alleine nur dem kleinen Nachbarkind zuliebe ist.“

„Genau, wir haben ja schon den Anfang gemacht. Aber in der Sache Haas heißt das erst mal, wir müssen unsere Augen und Ohren weit geöffnet halten!“, fürchtete Susanne.

„Wie willst du das denn anstellen?“ Frank schüttelte seinen Kopf. „Wenn es sich nicht zufällig auf der Straße abspielt, kriegst du doch nichts mit! Nicht zu fassen! Das Kind ist doch höchstens fünf, oder?“

Im nächsten Moment rief Susanne: „Ich muss rein, ich muss rein, hab doch was am Herd.“

Aber Frank hielt sie am Arm zurück. „Du hast doch mich! Der Herd ist ausgeschaltet, es kann nichts passieren!“

„Na, wenigstens bei euch ist alles bestens“, bemerkte Helene trocken, „aber ich muss jetzt wirklich wieder rein, will nachher noch einkaufen.“

„Und ich bin nicht fertig mit kochen“, sagte Susanne und dachte: Das mit dem Kind könnte mich richtig auf die Palme bringen, und sie seufzte: „Und ich muss nachher malen, das hat mich bisher immer noch abgelenkt und beruhigt.“ Sie schaute auf die Uhr, jede Minute würde Michael aus der Schule eintreffen.

Und genau in diese regelrecht spürbaren Nachwirkungen des soeben erlebten Szenarios platzte Michael hinein und verkündete voller Stolz: „Ich habe eine eins geschrieben“ und wedelte mit seinem Heft in der Luft herum. Susanne und Frank freuten sich mit ihm, zumindest versuchten sie es und lobten ihn auch. Aber irgendwie fand Michael ihre Begeisterung sehr flach und oberflächlich, es kam ihm vor, als seien sie nicht ganz bei der Sache. Nachdem Frank das Gespräch auf die kleine Nachbarin brachte und sie ihm schilderten, was sich da vorhin ereignete, verstand er auch, wieso. Sie sprachen mit Michael darüber, hofften etwas mehr zu erfahren. Doch Michaels Kontakt zu dem Kind war gleich null. Er wusste nur, eben auch das, was Helene angesprochen hatte, der Vater war oft wochenlang auf Montage und die Mutter ständig wütend. Aber er wusste auch: „Rosi oder Rosa geht nach den Sommerferien in die Schule, das weiß ich von Frau Stein. Die hat mich was über Rosa, nee, über Rosanna Haas, so heißt sie nämlich richtig, gefragt. Sie dachte ich kenne sie, weil wir doch Nachbarn sind.“

Susanne und Frank sahen sich erstaunt an, das passte genau zu ihrem Thema von vorhin, zum: Aufeinander zugehen in der Nachbarschaft! Aber jetzt, das Kind kam ihnen nicht wie eine Sechsjährige vor. Sie war so zart und klein.

Noch ehe sie aber weiter darauf eingehen konnten, wechselte Michael abrupt das Thema. Wenn seine gute Note weniger wichtig war wie der Nachbarzoff, dann gab es nur eins: „Frank, gehst du heute fischen? Ich habe kaum Hausaufgaben auf, wir könnten doch zusammen …?“

„Prächtig, dann fang an, desto schneller sind wir am Steg!“

Na also, Michael sah seine Mutter an, die gerade den Tisch abwischte, damit er seine Hefte darauf ausbreiteten konnte. „Und du Ma, gehst du mit uns?“

„Komme nach, möchte vorher malen. Das muss heute sein.“

„Gut. Frank weißt du eigentlich, dass Mama schon als kleines Mädchen gemalt hat und als sie so alt war wie ich, hat sie sogar Preise gewonnen.“

„Alle Achtung, darüber müsst ihr mir mehr erzählen!“

Susanne lächelte. „Das ist nichts Welt bewegendes, ich habe nur an einem Wettbewerb mit Ausstellung teil genommen mit drei Gemälden und den ersten, zweiten und dritten Preis gewonnen. Das Ganze fand in einer großen Buchhandlung statt und meine Gewinne: Hefte, Bücher, Mappen, Blocks, Stifte und noch so einiges mehr, waren derartig schwer, dass ich sie ohne fremde Hilfe kaum nach Hause transportiert bekam. Das ist aber auch schon alles. Jedenfalls haben meine Eltern kein Palaver drum gemacht.“

Frank fand das sehr bescheiden und sagte beeindruckt: „Wie, das ist alles? Ich finde das war sehr viel!“

„Ja, du hast recht“, lachte sie „es war sehr viel und seit dem weiß ich: Papier wiegt sehr schwer!“

„Wer bekommt eigentlich deine Bilder, die du malst?“

„Sie landeten in der Stadt bei einem Antiquitätenhändler, in Horsts-Fundgrube. Ich bekam 50 bis 100 Euro je Bild, früher. Übrigens – an dem Morgen, als Michael später mit der Neuigkeit: ‚Angler am Steg’, nach Hause kam, da war ich in der Stadt, auch in der Fundgrube.“ Susanne fielen schlagartig die Tratschen aus dem kleinen Café ein und sie schüttelte den Kopf, von wegen keinen Mann angeln… das kam ihr gerade erstmalig so in den Sinn und sie kicherte, ehe sie weiter sprach: „Ich habe aber schon länger nichts mehr fertig gemalt, vielleicht mal irgendwann wieder. Das habe ich mir vor kurzem fest vorgenommen. Das Bild, an dem ich derzeit arbeite ist so gut wie fertig, aber das ist auch unverkäuflich“, erklärte sie. „Eigentlich wollte ich an dem bewussten Morgen in der Fundgrube fragen, ob dort weitere Bilder von mir erwünscht seien, seltsamerweise habe ich den Besitzer nicht angetroffen und bin nun ganz froh darüber, denn nachdem sich hier so einiges verändert hat, wer weiß, wann ich ernsthaft wieder ans Malen komme“, lachte sie.

„Aha, und warum ist das jetzige Bild unverkäuflich?“, fragte Frank.

„Später, ihr wollt doch an den Fluss“, erinnerte sie ihn.

„Okay, dann erzählst du es eben später, ich bin ja noch den Rest dieser Woche hier!“ Frommer Gedanke und auch Wunsch, nur manchmal kommt es eben ganz anders, als man denkt und plant.

Susanne brachte nur wenige Pinselstriche zustande, da meldete sich das Telefon. Da Michael und Frank inzwischen schon zum Steg aufgebrochen waren, unterbrach sie ihre künstlerische Tätigkeit und lief die Treppe hinunter an den Apparat. „Ja, Schnells.“

„Hier ist Brigitta, hallo Susilein, bist du das?“

„Ja, ja ich bin’s, wer denn sonst? Wo um alles in der Welt steckst du denn? Es klingt sehr leise, rufst du aus Spanien an?“

„Nein, vom Bahnhof in Köln. Kann ich zu dir kommen? Alles Weitere erzähle ich dann. Natürlich nur, wenn ich darf?“

„Was für eine Frage, hier gibt es auch Neuigkeiten, freue mich. Ruf mich an, wenn ich dich in der Stadt abholen soll.“

„Mach ich, nehme den nächsten Regional-Express oder die S-Bahn, also bis später Liebes!“

Susanne rannte zurück in ihr Zimmer, wegräumen, abdecken, an malen war jetzt nicht mehr zu denken. Da kommt sie mit dem Zug aus Spanien und fragt, ob sie zu mir kommen darf, so was bringt nur Brigitta fertig. Micha und Frank muss ich das sofort mitteilen. Denn falls Brigitta bald einen Zug bekam, konnte sie eventuell schon in ca. 40 Minuten am Bahnhof warten. Diese Überraschung lenkte sie zumindest vorläufig gedanklich von den Schwierigkeiten der kleinen Nachbarin ab.

Brigitta war die viel ältere Halbschwester von Mark. Die Tochter seiner Mutter aus erster Ehe. Gitta war zwölf Jahre alt gewesen, als ihre Mutter noch einmal heiratete, den Adolf Schnells. Mark wurde zwei Jahre später geboren. Der Stiefvater war von Anfang an streng und oft genug ungerecht. Er war ein zum Jähzorn neigender Mann und schreckte auch nicht davor zurück, Ohrfeigen links und rechts zu verteilen, wovon Brigitta nicht alleine betroffen war, sondern auch ihre Mutter. Sein brüllendes Organ ließ das Baby oft weinen. Doch der kleine Mark war sein Fleisch und Blut, wie er öfter betont hatte, wenigstens bekam er noch keine Schläge. Die ständige Unruhe, die Angst, machte die Mutter krank. Als sie endlich zum Arzt ging war es bereits zu spät, Krebs im Endstadium diagnostizierte er. Brigitta schmiss die Schule und nahm kurzfristig eine Stelle in einem Reisebüro an. Sie wurde gezwungen, mitzuverdienen. Ihr Stiefvater war immer unleidlicher, untätig und gleichgültiger geworden. Er blieb oft stundenlang außer Haus, beschimpfte seine Familie als ‚Pack‘, ein anderes Mal waren sie ihm ‚ein Klotz am Bein‘ gewesen und immer wieder eine ‚teure Bagage‘. Dass seine Frau sterbenskrank war, zuletzt nur noch mit Spritzen schmerzfrei gehalten werden konnte und die meiste Zeit im Bett verbrachte, registrierte er nur am Rande, oder wollte es nicht erkennen. Als die Mutter schließlich im Krankenhaus starb, war Brigitta siebzehn und Mark gerade erst drei Jahre alt. Nach der Beerdigung packte Adolf Schnells einen Rucksack, ebenso eine Reisetasche und sagte: ‚Tschüss‘! Einfach nur tschüss, wie selbstverständlich, als hätte er nur diese Stunde abgewartet. Seine letzten Worte waren an Brigitta gerichtet gewesen: ‚Du bist alt genug für dich und den Schreihals zu sorgen, sieh zu, wie du klar damit kommst, ich bin weg!‘ Gleichzeitig warf er einige Geldscheine auf den Tisch und ging. Brigitta hatte ein paar Tage Urlaub genommen, sie versorgte ihren kleinen Bruder, ohnehin entlastete sie ihre Mutter damit schon länger. Nach außen hin verschwieg sie, dass der Vater sich absetzte. Sie war klug genug zu wissen, je mehr Zeit verstrich, desto weniger bestand die Gefahr für sie und Mark, Adolf Schnells zu finden, ihn laut Gesetz zu verpflichten für die Kinder zu sorgen. Irgendwie wollte sie es schaffen, fühlte sich stark für zwei. Erst als sie, mit Brüderchen, im Reisebüro ihren Dienst wieder anzutreten gedachte, flog dieses Vorhaben auf. Die eingeschalteten Behörden trennten die Geschwister. Mark kam zu einem kinderlosen Ehepaar, welches ihn sehr gut und liebevoll aufzog. Doch die Verbindung zu diesen Pflegeeltern war nach Marks Hochzeit allmählich abgekühlt. Sie erschienen auch nicht zu seiner Beerdigung und Susanne dachte nicht daran, einen erneuten Kontaktversuch zu starten. Sie schienen immer noch betrübt oder mehr verärgert darüber, dass sie ihn nie adoptieren konnten, weil sein Vater unauffindbar war, dieser aber dazu seine Einwilligung hätte geben müssen. Eine Formalität, für welche Mark kein Verständnis aufbrachte, auch nicht dafür, den Vater nach langen Jahren für tot erklären zu lassen, das war ihm genauso unwichtig gewesen. ‚Nur eine Formalität, nichts weiter‘, fand er und damit war für ihn das Thema besiegelt, erst recht nach seiner Volljährigkeit. Eine Adoption nannte er überflüssig, seine Pflegeeltern bedeuteten ihm auch ohne diese Papiere, neben seiner Schwester Brigitta, alles!

In Windeseile ging Susanne all dies durch den Kopf, während sie über das Grundstück zum Steg lief, um den beiden Anglern vom zusätzlichen Besuch zu berichten. In Kurzfassung erklärte sie: „Wir bekommen Besuch. Tante Brigitta kommt, Michael.“

„Wie, die gibt es auch noch?“

„Ja, und ich hole sie am Bahnhof ab. Ihr könnt noch was mehr fangen, aber bitte Micha, auch bratfertig ausnehmen. Du weißt, ich kann das nicht.“

Frank sah Susanne nach und schmunzelte: „Es finden sich immer mehr Übereinstimmungen bei deiner Mutter und mir!“

„Was?“ Michael starrte Frank entsetzt an. „Ich fasse es nicht. Meinst du damit, du fängst die Fische – und dann?“

„Na ja, sie kommen in den Eimer, ins Wasser. Und entweder ist jemand da, der den Rest für mich besorgt, wie du zum Beispiel, oder …“

„Du lässt sie wieder frei? Ich werde verrückt! Dann bin ich der, der den Rest besorgt oder wie?“

Frank nickte und brüllte Susanne nach, und das war ihm gerade viel, viel wichtiger: „Ist das denn mein letzter Abend? Schläft Tante Brigitta dann hier?“

Susanne lief zurück und hockte sich vor ihn hin. „Natürlich nicht. Brigitta geht immer ins Haus Agnes.“

Franks Augen weiteten sich. „Bist du sicher?“ Er verzog sein Gesicht und Susanne stupste kurz seine Nase an und nickte „ja“, dann ließ sie sich nicht mehr zurückhalten.

Michael ahnte natürlich, was Frank durch den Kopf ging bei seiner skeptischen Frage und klärte ihn auf: „Gäste, die nicht unbedingt angeln wollen, werden in dem Hotel ganz normal behandelt!“ Dazu nickte er gewichtig mehrmals mit dem Kopf und machte bei dieser Gelegenheit Frank auch noch auf etwas aufmerksam, was ihn schon eine ganze Weile beschäftigte: „Überhaupt Frank“, sagte er „von wegen Zufall oder kein Zufall, und was du gesagt hast: ‚Man muss erkennen, wenn es mehr ist und für einen selbst bestimmt‘. Du kannst endlich mal einen Blumenstrauß zu Frau Hackler bringen und danke sagen. Ohne den Schilderklau hätten wir uns doch nie getroffen – oder?“

„Wahrscheinlich nicht“, überlegte Frank und fragte zurück: „Aber das Schild verschwinden lassen, das war doch nicht Frau, das war doch Herr Hackler. Soll ich dem denn jetzt auch noch danken? Soll ich ihm tatsächlich dafür danken, dass er ein Gesetz übertreten hat? – Obwohl er ja unwissend diesmal …“

„Auf gar keinen Fall“, unterbrach ihn Michael erschreckt. „Der ist ein solcher Kotzbrocken, der darf das gar nicht wissen!“ Und dann warf er einen Blick in den Eimer. „Mal was andres, bis jetzt hat nur eine Forelle angebissen, das heißt, wir brauchen noch drei!“

Leider waren die Fische aber nicht der gleichen Meinung. Vielleicht war es ihnen auch heute ein wenig zu lebhaft am Steg. Susanne würde einen Ersatz finden und ihn servieren müssen.

Unabwendbare Zufälligkeiten

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