Читать книгу Unabwendbare Zufälligkeiten - Inge Borg - Страница 18

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Frank Hauff stand wie paralysiert in der offenen Terrassentüre und schaute Susanne zu, die sich im Garten beschäftigte – und sah doch überhaupt nichts. Ein Telefongespräch blockierte derzeit sein Denken. Er sah Susanne arbeiten und auch wieder nicht. Sein Kopf war mit einem Mal wie zu, da passte nichts mehr hinein, alles prallte ab. Soeben führte er ein Telefonat mit seinem Freund Lukas aus der Firma und das warf ihn ziemlich aus der Bahn. Lukas druckste rum, wollte nicht richtig mit der Sprache heraus, aber irgendwas stimmte nicht, anscheinend betraf es Monika, Franks geschiedene Frau und die Buchhaltung. Sehr komisch, immer dieselbe Leier mit der Frau, war im Moment alles, was er begriff. Er und Monika waren schon mehrere Jahre in der Firma Hansen beschäftigt. Sie lernten sich auch erst dort kennen und heirateten. Ein Fehler, wie sich schnell herausstellte, die Ehe missglückte. Monika war eine dominante und nach außen hin kalte Person, und noch bevor Frank in die Firma eintrat, war sie dort die Haupt-Buchhalterin gewesen. Man kannte sie als überaus ungeduldige Person, rechthaberisch im Beruf wie auch meist privat. Kurz gesagt, ihre voreingenommene und berechnende Art, machte allen das Leben nicht gerade leicht. Und wenn es ihr von Nutzen erschien, die Eigenschaften wie listig und verschlagen beherrschte sie besonders gut. Demzufolge war der Verschleiß an Personal in ihrem Bereich enorm. Also wieder das reinste Fiasko. Lukas hatte etwas von ‚Ding gedreht‘ geredet und in Franks Vorstellung ging es wahrscheinlich wieder um eine Kündigung, die nicht rechtens war und er sollte schlichten. Das geschah ja nicht zum ersten Mal. Es war Freitag, wenn er sich jetzt ins Auto setzte, könnte er schon in gut zwei Stunden im Betrieb sein. Andererseits, was sollte er heute noch ausrichten? Reichte es nicht, wie vorgesehen nach Urlaubsende, erst am Montag seinen Platz wieder einzunehmen?

Susanne sah hoch und bemerkte sofort Franks eigenartigen undefinierbaren Gesichtsausdruck. Sie unterbrach ihre Arbeit, zog die Arbeitshandschuhe aus, warf sie achtlos auf einen der Gartenstühle und stand nun dicht vor ihm. „Frank? Was ist? Hallo? Bist du noch da? Ach komm, mir ist kalt, ich koche uns Tee und du sagst mir wer am Telefon war, was dich so aus der Bahn wirft.“

Frank berichtete kurz über das fragwürdige Gespräch mit Lukas. Redete von seiner Ex, die auch seine Kollegin sei und dass sein Freund sicherlich nicht angerufen hätte, wäre es nicht wieder brandeilig.

Susanne schluckte, die ihr bis dahin noch unbekannte Zeit aus Franks Vorleben traf sie im Moment unvorbereitet, aber sie fühlte seinen Zwiespalt und reagierte einzig richtig: „Wir haben uns noch so viel zu sagen, Frank, das wird mir eben jetzt erst richtig bewusst. Doch das Gespräch eben, mit deinem Freund, diese Ungewissheit was da los ist, das würde dich den Rest der Woche beschäftigen. Also fahr zurück und ruf mich an, sobald es dir möglich ist.“

Frank nickte. „Ja, das wird wohl das Beste sein.“ Susannes Verständnis für diese momentane Lage beruhigte ihn etwas und er machte sich in aller Eile reisefertig.

Brigitta bemerkte zufällig wie Frank Richtung Stadt davon fuhr und erblickte nun Susanne, die ihm hinterher winkte. Verwundert darüber, dass Frank ohne Susanne wegfuhr, ohne tschüss zu sagen, rief sie: „Wohin fährt er?“

„Nach Hause, in die Firma. Da kam vorhin ein dringender Anruf.“ Susanne hörte sich traurig und enttäuscht an.

Brigitta näherte sich und legte tröstend einen Arm um Susannes Taille. „Erzähl mir ein wenig genauer davon, wie das alles so war in letzter Zeit und wie das weiter gehen soll oder kann. Was habt ihr eigentlich vor?“

„Wenn ich das wüsste? Hänge im Augenblick etwas in der Luft“, seufzte Susanne, während sie ins Haus gingen. Dann begann sie wieder mit Michaels Entdeckung eines Fremden am Steg und Brigitta hörte ihrer ausführlichen Schilderung zu. Susanne sprach von der Möglichkeit einer Verwandtschaft ihrer Seelen, die, wie sie glaubte, sie mit Frank verband und von jener magisch empfundenen Stille und Ruhe um sie herum, als Frank überraschend zum Picknick aufgetaucht war. „Weißt du, Gitta, dieses tiefe Empfinden erlebte ich ja schon einmal, damals in der Heide, du weißt was ich meine, das war eine Landschaft, die nicht meine Gefühle erwidern konnte. Aber diesmal ist da ein Mensch, der so fühlt wie ich. Ja, Frank fühlt und denkt darin genauso wie ich. Aber nun merke ich erst, wir nehmen unsere Liebe beinahe wie selbstverständlich hin, als wären wir uns überhaupt nie fremd, nur mal ein paar Jahre getrennt gewesen. Gewiss ist es prickelnd, doch ich fühle, es ist nicht nur Verliebtheit, sondern wir waren gleich einfach füreinander da, ohne darüber überhaupt weiter nachzudenken. Wir haben uns dafür gar nicht die Zeit genommen, es war einfach da, unser tiefes Vertrauen! Zufall, Schicksal, unabwendbar! Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Na ja, Frank blieb an dem Abend nach dem Picknick hier, er nahm mich wortlos in seine Arme und wir ließen uns treiben und das war himmlisch. Und jetzt wollte Frank kommenden Sonntag nach dem Mittagessen zurück fahren. Was danach sein würde, ich habe nicht den blassensten Schimmer, wirklich nicht. Wir haben es einfach ausgeklammert. Das war falsch, jetzt weiß ich das. Ich hätte mir noch mehr Zeit mit ihm gewünscht, es gibt so viel, was wir voneinander noch wissen sollten. Aber wer fragt denn nach ein paar Tagen Bekanntschaft einen Mann schon nach seiner Vergangenheit?“

Brigitta schmunzelte. „Sicher keiner! Und überleg doch mal, selbst wenn ihr noch mehr Zeit gehabt hättet, wäre dann über alte Kamellen geredet worden? So etwas braucht nun mal seine Zeit“, vermutete sie ganz richtig.

Michael traf ein und vermisste Franks Auto. Er lief am Haus vorbei, Richtung Terrasse und hörte Stimmen. Anscheinend ist Frank alleine unterwegs, folgerte er daraus und öffnete die angelehnte Glastür.

„Hallo, ist was? Wo ist denn Frank?“ Michael setzte seinen Schulranzen ab und sah zwischen seiner Mutter und Tante Brigitta hin und her. Was haben die denn? Eine Minute später erklärte ihm seine Mutter die Lage und Michael machte seiner Enttäuschung gewaltig Luft: „Verdammter Mist!“

„Was, wieso? Frank wollte doch Sonntag sowieso fahren, nun sind es zwei Tage eher“, sagte Susanne gespielt forsch.

„Die Kartoffeln sind gar“, unterbrach Brigitta die beiden. „Lasst uns erst mal essen, Leute!“

„Heute wollte ich mit Frank das ganze Gestrüpp zum und am Fluss wegschlagen. Das schaffe ich nämlich nicht alleine, wir haben viel zu lange gewartet damit. Das hätten wir wie jedes Jahr im Februar machen müssen“, gab Michael patzig von sich und schon zeigten sich tiefe Falten auf seiner Stirn.

Susanne sagte leise. „Wir können auch noch länger warten, aber wir helfen dir, junger Mann! Das heißt, meintest du nicht vorige Woche, wir müssten noch fünf oder sechs Wochen warten wegen der Brutplätze und so? Wieso denn jetzt auf einmal nicht mehr?“

„Ja, eigentlich ja, aber da dachte ich noch nicht an Franks Hilfe. Und jetzt ist er zu früh weg!“, ärgerte sich der Junge.

„Ach so“, warf Brigitta ein, die sich die Arbeiten nicht so recht vorstellen konnte, bot sich aber sofort als Helferin an. „Soll ich mich umziehen, oder kann ich so bleiben?“

„Umziehen! Eine Jeans und feste Schuhe, bitte“, bestimmte Michael sehr nachdrücklich. So beschlossen sie trotzdem, gleich nach dem Essen mit den nötigen Werkzeugen aufzubrechen und vorsichtig, eventueller Jungtiere wegen, die Arbeiten anzugehen.

Während des Mittagessens horchte Susanne plötzlich auf. „Hört mal, was ist das denn schon wieder, hört ihr das auch?“ Sie sprang auf und lief zur Haustür. Bereits ahnend was dies Geschrei nur bedeuten konnte, öffnete sie ruckartig die Tür. Michael und Brigitta folgten ihr.

„Oh, nein!“ Michael rannte an seiner Mutter vorbei auf die Straße dem laut weinenden Nachbarkind entgegen. Rosi! Er fing sie mit beiden Armen auf und holte sie in den Garten, wo sie total erschöpft auf die Wegplatten sank. „Mama ist tot, Mama ist tot, sie blutet und blutet, es hört nicht mehr auf, sie ist tot!“ Die Kleine wiederholte es mehrmals, wirkte völlig verstört.

„Bleib mit Rosi hier Micha, wir schauen nach.“ Susanne und Brigitta eilten über die Straße zum Haas-Haus. Die Haustüre war weit geöffnet. Rosi musste auf und davon gerannt sein, ohne die Türe hinter sich zu schließen, was sich in diesem Fall sogar als sehr nützlich erwies. Der Anblick, der sich den beiden Frauen dort allerdings bot, war entsetzlich! Und nicht nur der Anblick! Sie sahen sich an und fanden keine Worte. Bereits im Flur roch es seltsam eklig, nach sauren Essensresten oder faulig und auch nach Angebranntem, einfach nur widerlich! Sie stiegen über herum stehendes Geschirr, zwei überquellende Wäschekörbe mussten sie bei Seite stoßen, ehe sie weiter vordringen konnten. Durch das Wohnzimmer kamen sie in die Küche, wo sie Frau Haas fanden. Es war so wie Rosi es sagte, da war eine Blutlache. Rosis Mutter lag auf dem Rücken, die Arme seitlich ausgestreckt und sie blutete am Hinterkopf oder der Schulter, dies war nicht genau bei ihrer derzeitigen Lage feststellbar. Doch wer blutet ist nicht tot! Susanne öffnete den blutigen Kragen ihrer Bluse und fühlte die Hauptschlagader am Hals, stellte erleichtert fest: „Sie lebt!“

Inzwischen trafen noch weitere Nachbarinnen, vom lauten Kinderweinen angelockt, ein. Sie begannen entsetzt und lautstark über die unaufgeräumte, verschmutzte und stinkende Wohnung zu lamentieren. Natürlich war das durchaus auch berechtigt, durfte aber erst einmal nur Nebensache sein!

„Wir müssen die 112 rufen, dringend einen Krankentransport bestellen, dringend!“, rief Susanne beherzt und hielt Ausschau nach dem Telefon, fand es jedoch nicht. Weder in der Diele, noch im Wohnzimmer oder der Küche war ein Telefon zu entdecken.

„Vor allen Dingen muss irgendwie die Blutung zum Stillstand gebracht werden, aber hier kann man sicher kein sauberes Tuch finden!“ Brigitta verzog angeekelt ihr Gesicht.

„Ich hole was von mir und rufe auch den Krankenwagen!“, bot sich Frau Hoppe an und rannte zurück in ihr Haus.

Irgendwer zog die geschlossene Jalousie am Fenster neben der halb geöffneten Terrassentüre hoch, wodurch endgültig das ganze Ausmaß einer ziemlich verdreckten und unaufgeräumten Küche sichtbar wurde. „Was um alles in der Welt, was hat diese Frau den ganzen Tag getan?“, entsetzte sich Frau Schmitz von gegenüber.

Frau Wedekind mutmaßte sogar: „Wahrscheinlich ist deshalb der Mann abgehauen, er hat den Saustall nicht mehr ertragen.“ Kurzfristig machte das für gewöhnlich distanzierte Verhalten der Nachbarn zueinander einer geradezu hetzerischen Verbundenheit Platz, zumindest unter den Frauen. Sie liefen teilweise auf die Terrasse um frische Luft zu atmen und wieder herein, um sich erneut zu entsetzen: „Wie soll sich ein Mann hier wohlfühlen, der kommt bestimmt nicht wieder!“

Frau Hoppe kam vom Telefonieren zurück und stellte zwei Handtücher zur Verfügung. „Wie kommen Sie denn darauf? Woher wollen Sie das denn wissen? Ihr Mann ist doch nur immer wochenlang auf Montage und wenn er zurückkommt, kümmert er sich doch sogleich um alles, besonders auch um das Grundstück. Bestimmt ist er nur mal kurzfristig unterwegs um Besorgungen zu machen und kommt gleich wieder“, empörte sie sich, nachdem sie die letzte Bemerkung noch mitbekam.

„Das ist aber auch nötig“, schalt Frau Wedekind. „Ständig müssen wir Unkraut und Brennnessel entfernen, weil der Wind die Samen zu uns rüber weht“ und stockte, sah staunend Frau Webers neuer Mitbewohnerin zu, wie gekonnt diese die Verletzte notdürftig versorgte.

Kurz darauf hörte man den Krankenwagen und gleich danach kamen Notarzt, Sanitäter und Helfer eilig herein. Doktor Hartung brüllte über die Schulter seinem Assistenten zu: „Die Trage bleibt vorläufig draußen!“ Und an die herumstehenden Leute gewandt: „Weiß jemand was hier passiert ist?“, während er Frau Haas vorsichtig zur Seite drehte. „Die Frau hat den Hals von hinten wie aufgeschnitten. Verflucht noch mal, was ist überhaupt hier los?“

Ein wirres stimmliches Durcheinander entstand. Die nun mal sehr empörten Nachbarinnen redeten alle gleichzeitig. Obwohl keine die Wirklichkeit kannte, schienen doch Alle alles zu wissen.

„Ruft die Kripo, die Patientin hat die Wunde nicht vom Aufprall bekommen, das ist ein glatter Schnitt oder Hieb! Wer gehört denn außer Frau Haas noch in dieses Haus?“ Der Doktor sah gewiss schon vieles, doch das hier? Stinkendes Dreckloch, widerlich! Er sah um sich, schüttelte ungläubig den Kopf.

Aus dem Notarztwagen wurde die Polizei verständigt.

Brigitta sah Susanne an, was war zwischen dem Kind und seiner Mutter vorgefallen? Sie trafen als erste hier ein, die ersten Zeugen, wenn auch nicht beim Vorfall direkt. Die Polizei würde sich zuerst an sie wenden. Und die kam schnell, nur wenige Minuten bis zu deren Eintreffen vergingen.

„Pfui Teufel“, hörten sie den Kommissar rufen, ehe er sein Taschentuch vor Mund und Nase hielt. „Reißt alle Fenster und die Terrassentüre vollständig auf, so kann ich hier mit meinen Leuten nicht arbeiten!“

Unterdessen war Frau Haas transportfähig, der Krankenwagen fuhr los, sie gehörte schnellstmöglich ins Krankenhaus.

„Es besteht keine Lebensgefahr, aber das kann eigentlich kein Unfall sein“, überlegte der Arzt laut. „Das sah mir eher nach einem glatten Schnitt aus, der sich von der linken Schulter bis zum Hals zieht, zum Glück ist die Schlagader nicht getroffen“, informierte er die Kommissare. „Verletzungen vom Sturz konnte ich so nicht feststellen, aber sucht nach einem Messer oder nach sonst was Scharfem“, rief er, bevor er das Haus verließ.

Kommissar Lohmann und seine Kollegin Schuster drängten die Leute hinaus auf die Terrasse. Zu dumm, die Nachbarn waren schon überall herum getrampelt, mit Spurensicherung dürfte es schwierig werden. Die Personalien der Anwesenden wurden aufgenommen und die routinemäßige Befragung begann. Es stellte sich jedoch heraus, die Nachbarinnen waren am Zustand der Wohnung mehr interessiert, als am Unglück an sich. Auch als ihre Männer dazu kamen, ergab sich nichts Verwendbares für diesen Fall. Insgeheim zweifelte Lohmann, ist das mein Fall? Schließlich fragte er nach dem Kind der Verletzten, von dem er vorhin durch das Gerede der Leute etwas aufschnappte.

„Das Kind ist bei uns“, sagte Susanne, „aber in keinem guten Zustand. Sie glaubt ihre Mutter sei tot. Mein Sohn ist bei ihr. Möchten sie mit mir rübergehen?“

„Ich komme später zu ihnen. Erst muss ich nach irgendetwas mit scharfer Klinge Ausschau halten, dem Hinweis des Arztes nachgehen. Außerdem könnten hier draußen diese Spritzer Blut sein – oder?“ Plötzlich beugte der Kommissar sich vor, verharrte einige Sekunden, richtete sich wieder auf. „Nein, das ist nicht mein Fall, das sollen die Kollegen von der Mordkommission übernehmen!“

Susanne und Brigitta verließen erschreckt den verschmutzten Ort und atmeten gierig und ganz bewusst die frische Luft auf dem kurzen Weg nach Hause ein. Mordkommission? Wieso? Frau Haas lebte doch! Und Herr Haas? Er war wahrscheinlich schon wieder auf Montage? Und Rosi? Oh Gott! Also kein Unfall? Sie trafen auf Helene, die sich nicht getraute, einfach ins Haas-Haus hineinzugehen. Sie wartete schon länger und auch inzwischen ungeduldig auf der Straße. Jetzt sah sie Susanne und Brigitta das Haus verlassen und ging ihnen rasch entgegen. „Was ist denn passiert?“, fragte sie leise, ohnehin nichts Gutes ahnend.

„Frau Haas wurde verletzt“, antwortete Brigitta kurz.

„Im Haus stinkt es, alles scheint verwahrlost und Rosi ist bei uns“, erklärte Susanne.

Alleine vom Zuhören konnte es einem schon übel werden. Jedenfalls entschloss sich Helene deshalb erst einmal nach Hause zu gehen. Michael war mit Rosi in die Küche gegangen. Die beiden Kinder saßen auf der Bank am Tisch. Er versorgte das Mädchen mit einem Glas Wasser, doch das stand noch unberührt vor ihr. Rosi war nicht ansprechbar, sie starrte vor sich hin und flüsterte immer nur: „Mama ist tot.“

Dem Jungen flossen Tränen übers Gesicht. „Das sagt sie die ganze Zeit, ich werde noch verrückt!“

Susanne beugte sich hinunter, sprach das Kind direkt an: „Nein, Rosi, hallo Rosi, hörst du mich? Deine Mama ist nicht tot, sie ist verletzt und ins Krankenhaus gefahren worden, sie wird wieder gesund!“ Susanne hielt die Hände des Kindes in ihren und hoffte mit den tröstenden Worten zu ihrer kleinen Seele durchgedrungen zu sein.

„Wir müssen ihr etwas zu essen geben“, fand Brigitta.

Also machte Susanne aus dem restlichen Mittagessen etwas auf einem Teller zurecht und erwärmte es in der Mikrowelle. Rosi war jedoch nicht fähig selbstständig zu essen und langsam, löffelweise mit kleinen Pausen, fütterte Susanne sie. Nach einiger Zeit kehrten die Lebensgeister zu Rosi zurück. Sie schien allerdings erst jetzt zu bemerken, dass sie nicht bei sich zuhause war, sah sich verwundert um, aß nun aber selbstständig den Rest auf. Michael wollte mehr wissen und fragte sie, was eigentlich geschehen sei, aber die Polizei kam einer Antwort zuvor.

Kommissar Lohmann entdeckte, mehr zufällig, ein blutiges Küchenbeil neben den Stufen der Terrasse liegend und verwarf augenblicklich den Gedanken an einen Unfall. Er verständigte die Mordkommission, die nun zu zweit bei Schnells in der Küche standen. Kriminaloberkommissar Löffler und seine Kollegin Schneider kamen gleich zur Sache: „Wir müssen mit dem Kind sprechen! Leider sieht es nach versuchtem Mord, zumindest aber Totschlag aus! Wo ist das Kind Haas?“ Herr Löffler fragte danach und sah sich suchend um, während Susanne stumm auf Rosi zeigte.

„Mein Gott, nein, das kann nicht sein, nicht möglich, so ein kleines Kind?“ Kommissarin Schneider ging in die Hocke, so dass sie etwa in Augenhöhe mit Rosi war. Einfühlsam sprach sie leise auf das verstörte Kind ein. „Wie heißt du denn, sagst du mir deinen Namen?“ Doch die Kleine schwieg, schien nicht einmal zu bemerken, dass mit ihr geredet wurde.

„Wir nennen sie Rosi“, half Michael aus.

„Rosi? Du heißt doch Rosi, oder?“ Die Kommissarin zuckte die Schultern, das war wohl hoffnungslos. „Das Kind hat einen Schock.“ Nach einer Weile kam ihr eine weitere Idee, vielleicht reagierte das Kind doch noch und sie startete einen letzten Versuch: „Gehst du in den Kindergarten, oder gehst du schon in die Schule?“

Michael wollte etwas dazu sagen, öffnete bereits den Mund, da bemerkten sie, mit Rosi geschah etwas. Sie schien plötzlich aus ihrer apathischen Starre zu erwachen. Sie blickte verwundert umher und nach kurzer Besinnung verkündete sie fast glücklich: „Noch nicht, aber ich darf nach den Ferien in die Schule zu Frau Stein, sie hat es erlaubt.“

„Wie schön und du freust dich darauf, kannst du mir denn sagen wo dein Papa ist?“ Frau Schneider lächelte Rosi zu.

Das Kind dachte angestrengt nach, man sah förmlich wie sie ihr kleines Hirn marterte, die Augen zusammenkniff, den Kopf schüttelte und schließlich mit aufgerissenen Augen und beinahe wie in Trance, antwortete: „Papa war da, aber dann fand ich ihn nicht mehr, und da war Krach. Mama war wieder böse und Papa sagte ‚au’, glaub ich, ganz laut, aber er war nicht da. Sein Auto war auch nicht mehr da und er hat mir nicht tschüss gesagt“, klagte es weinerlich. „Nur Mama lag tot in der Küche und das viele Blut, ich weiß nicht was …“ Rosi schluchzte laut auf. Die Befragung musste abgebrochen werden.

Also von Haus zu Haus gehen, die Nachbarn noch einmal gezielt befragen. Wer hatte Herrn Haas wann gesehen? Wer sah das Auto? Wann stand es zuletzt auf seinem Stellplatz? Neue Fragen an die Nachbarn, die sich zwar bemühten über auswärtige Montagearbeit des Bernhard Haas aufzuklären, auch einige übereinstimmend aussagten, das Fahrzeug vormittags schon nicht mehr gesehen zu haben, doch damit zum aktuellen Stand leider immer noch nichts beitrugen. Die Verletzung von Frau Haas war frisch gewesen, also konnte sie nicht von ihrem Ehemann stammen, der vermutlich mindestens zwei Stunden vorher schon abgefahren war. Doch vom Kind? Ein Schlag an der Stelle von Schulter bis Nacken? Es hätte viel höher stehen müssen als die Mutter. Aber wäre nicht den kleinen Händchen das Fleischerbeil viel zu schwer gewesen für einen solch wuchtigen Schlag, der eine derartige Verletzung verursachte? Die wenigen Blutspritzer am Boden, zwischen Anrichte und Küchentisch, stammten vom Herunterfallen eines blutigen Gegenstandes, womöglich sogar von dieser Tatwaffe. Auf der Anrichte lag Fleisch auf einem Holzbrett. Das Küchenbeil war offensichtlich zum Zerteilen benutzt worden. Aber von wem? Gab es eventuell eine weitere Person? Wie kam das Beil hinaus? Die Kommissare gingen noch einmal zurück ins Haus der Familie Haas. Inzwischen beendeten auch die Damen und Herren der Spurensicherung ihre mühselige Beweissuche und verabschiedeten sich. Die Frau lebte ja. Sobald sie ansprechbar sein würde, konnte sie zu dem Tathergang befragt werden. Danach musste man weitersehen.

Frau Schneider begann in den vorgefundenen Papieren der Familie nach der Adresse des Arbeitgebers von Herrn Haas zu suchen und fand eine ältere Lohnabrechnung. Sie würde aus dem Büro telefonisch Herrn Haas derzeitigen Arbeitseinsatz erfragen, ihn hoffentlich auch dort erreichen. Nur heute war es schon zu spät dazu und sie verschob das Gespräch auf den nächsten Morgen. Hier konnte sie nichts mehr tun.

Aber Löffler ließ das keine Ruhe, er versuchte nochmals selbst Klarheit in der Küche zu finden. Doch bei deren Verschmutzung im Koch- und Essbereich, war es auch ihm nicht möglich, eine einwandfrei erkennbare Spur zu finden. Und das Kind hätte auf dem Tisch stehen müssen, mindestens aber auf einem der Stühle, um die Mutter im Nacken zu treffen. Aber auf keinem Stuhl, auch nicht auf dem Tisch gab es dementsprechende Spuren. Es war einfach nur hoffnungslos. Außerdem, wenn das Kind wirklich den Schlag ausgeführt hätte, müsste es dann nicht ganz anders reagieren? Da blieb nur, auch er musste ganz einfach den Bericht der Kriminaltechnischen Untersuchung abwarten, ebenso das Erwachen der Geschädigten.

Tatsächlich erreichte Kommissarin Schneider anderntags eine Frau Damm vom Personalbüro jener Firma, in welcher Herr Haas laut der gefundenen Abrechnung beschäftigt war. Frau Damm gab sich aber verständnislos und erklärte ärgerlich, kurz angebunden: „Herr Haas ist seit über einem Monat nicht mehr in unserem Unternehmen tätig.“ Und ohne jedes weitere Wort beendete sie das Gespräch. Frau Haas würde hoffentlich bald ansprechbar sein, um zur Klärung beitragen zu können.

Inzwischen lag das Ergebnis der Spurensuche, speziell des Fleischerbeiles, vor. Die gefundenen Fingerabdrücke, ebenso die daran haftenden Blutspuren waren untersucht. Schnell wurde festgestellt, es gab nicht nur frisches, sondern auch älteres Blut an der Tatwaffe. Bei dem Zustand der Wohnung war das wohl nicht verwunderlich. Fest stand auch, die alten blutigen Spuren entpuppen sich ausschließlich als tierisch. Die frischen Spuren stammten offensichtlich von dem teilweise zerkleinerten Stück Fleisch auf der Anrichte und zusätzlich von zwei verschiedenen Personen. Also von Frau Haas und sehr wahrscheinlich von ihrem Mann. Nach dieser vorläufigen Erkenntnis wurde Bernhard Haas zur Fahndung ausgeschrieben. Verletzte sich der Mann selbst oder verletzte ihn seine Frau und er war ausgerastet? Wollte er sie töten? War Herr Haas inzwischen untergetaucht? Wie war aber erklärbar, dass das Fahrzeug laut Zeugen zwischen 10 und 11 Uhr bereits nicht mehr vor dem Haus stand, während die Verletzung von Frau Haas erst Stunden später zustande gekommen war? Und wieso waren die Blutspuren der Frau teilweise vermischt mit denen ihres Mannes? Wurde der Mann zuletzt getroffen? Aber wo war er? Was für eine wirre Geschichte! Irrten sich die Nachbarn in der Zeit? Aber alle? Und das kleine Mädchen – wie passte das da hinein? Mit der Tat an sich konnte es jedenfalls nichts zu tun haben, denn das Küchenbeil wies keinerlei Abdrücke von kleinen Kinderhänden auf. Unverständlich war, wieso nicht wenigstens einer der Nachbarn etwas bemerkte. Das lief doch nicht still und leise ab! Und von wem wurde laut au gerufen, wie es Rosi gehört haben wollte? Also blieb nur die einzige Möglichkeit: Frau Haas! Doch mit der Verletzten zu reden, das wehrte der Arzt wiederholt und sehr entschieden ab. „Eine Vernehmung ist nicht möglich, derzeit völlig ausgeschlossen! Versuchen Sie es morgen.“

Da beschlossen sie, einen Beamten im Krankenhaus vor der Zimmertüre bei Frau Haas zu postieren, falls der Ehemann irgendwie den Aufenthalt seiner Frau herausfinden konnte und ihr tatsächlich nach dem Leben trachten sollte, aus welchem Grund auch immer. Die Fahndung nach ihm war jedenfalls bisher völlig ergebnislos verlaufen. Später stellte sich die Vorsichtsmaßnahme auch als überflüssig heraus. Andererseits hatte sie auch etwas Guten, denn der Wachmann vor der Türe konnte zur gegebenen Zeit schnelle Notizen machen, die alle bisherigen Recherchen über den Haufen warfen.

Weiterhin suchte die Kripo in den Papieren der Familie Haas nach irgendwelchen Anhaltspunkten einer neuen Arbeitsstelle des Herrn Haas oder nach Verwandten. Schon alleine des Kindes wegen musste sich jemand finden lassen. Susanne Schnells erklärte sich zwar vorläufig bereit, die kleine Nachbarin in ihre Obhut zu nehmen, dies konnte jedoch nur eine vorübergehende Lösung sein. Susanne war es gelungen, Rosi durch liebevolle Zuwendung abzulenken von ihrem erlebten Grauen, wobei das Kind irgendwann erklärte: „Richtig heiße ich Rosanna, aber Papa sagt immer Rose. Ihr dürft aber Rosi sagen, wenn Mama gut gelaunt war, sagte sie das auch zu mir.“

Mal abgesehen von den Worten: ‚Wenn Mama gut gelaunt war‘, sprach Rosi in Vergangenheitsform von ihrer Mutter, also dachte sie immer noch ihre Mutter sei tot? In ihre Erinnerung mischte sich offensichtlich auch älter Erlebtes mit dem vom Tattag. Da zeitlich nichts übereinstimmte, konnte der Au-Schrei ihres Vaters sowieso nur von einem anderen Tag in ihrer Erinnerung existieren, sofern man das fehlende Auto bedachte. So jedenfalls stellte es sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt dar.

Unabwendbare Zufälligkeiten

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