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Es fiel Susanne schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihr angeborenes Organisationstalent schien derzeit irgendwie außer Kontrolle zu geraten, ihrem Zeitgefühl ging es nicht viel anders. Frank würde in wenigen Stunden da sein und sie flatterte wie ein kopfloses Huhn durch die Wohnung. Rosi? Wo sollte das Kind hin? Wo sollte es schlafen, wenn Frank wieder da war? Sie verpflichtete sich, das Kind in ihre Obhut zu nehmen und ihr eigenes plötzlich aufkommendes Denken erschreckte sie. Wie lange Frank bleiben konnte, wusste sie nicht, wenn er aber so plötzlich in der Woche seinen Besuch ankündigte, was bedeutete das? Schlimm genug, was ihm da gerade passiert war. Und sie konnte nicht anders, Helene oder Brigitta?, überlegte sie. Ob sich Rosi kurzfristig umquartieren ließe? Ob alle drei verstehen würden, dass sie erst einmal mit Frank allein sein musste, allein schon deshalb, weil es unendlich viel zu bereden gab? Wichtiges! Überlegungen für die Zukunft! Über all das, was sie bisher gedankenlos ausklammerten. Außerdem, Frank ins Haus Agnes schicken, das war aus bestimmten Gründen undenkbar! Und ans andere Ende des Ortes oder gar in die Stadt? Nein, das war unzumutbar. Aber irgendwie musste es eine Lösung geben! Wo war das Kind eigentlich gerade? Susanne brauchte nicht weit zu gehen, sie blieb auf der Terrasse stehen und sah in den Garten. Da war sie. Rosi harkte in dem kleinen Beet, welches Susanne für sie anlegte. Sie versuchte die Pflänzchen in die Erde zu setzen, die sie gemeinsam vor weniger als einer Stunde am Grundstück zusammensuchten, und sie stellte sich gar nicht so dumm an. Susanne beobachtete das Kind eine Weile, wie es sich abmühte mit den Pflanzen, die eigentlich größtenteils unter die Kategorie Unkraut fielen und verwarf ihre Gedanken von vorhin. Sie kamen ihr mit einem Mal egoistisch vor. Ich bin doch keine siebzehn mehr, grollte sie mit sich selbst. Ich werde ganz einfach abwarten, die Zeit muss es bringen. Allmählich beruhigte sie sich und begann mit Kochen und Backen. Frank sollte einen schönen Empfang bekommen. Wer weiß wie lange er diesmal bleiben kann?

„Nanu, das duftet aber lecker, was feiern wir denn?“ Michael kam aus der Schule und schnüffelte wie ein Hund in die Luft.

Susanne und Rosi warteten bereits mit dem Essen auf ihn. Und Rosi glaubte schon zwei Mal ihre Hände von der Gartenarbeit waschen zu müssen, war aber immer noch nicht ganz zufrieden. Susanne lachte innerlich, wie konnte dieses kleine Mädchen, welches von zuhause nur Schmutz und Chaos gewöhnt war, so penibel sein?

„Ja, Tante Susi, was wird denn gefeiert?“, fing Rosi Michaels Frage auf.

Neugierige Kinder! Sollte sie verraten, dass Frank nachher eintreffen würde, oder wäre für die Kinder eine Überraschung schöner? Sie entschied sich für das Letztere und sagte nur: „Mir war nach backen, den Kuchen essen wir aber erst später.“

Es schellte und Susanne rannte zur Haustüre, riss sie stürmisch auf, doch da stand Brigitta, nicht Frank. Zeitlich wäre das auch noch gar nicht möglich gewesen, erkannte sie sogleich. „Oh, Brigitta du, na wie war es beim Anwalt?“

„Ganz hoffnungsvoll“ und leicht pikiert durch Susannes oberflächliche Reaktion fragte sie verwundert: „Wen hast du denn erwartet?“ Da Susanne nicht sofort antwortete, setzte sie ihre Berichterstattung fort: „Herr Koch hat einen deutschen Kollegen in Barcelona, mit dem er wohl schon in der Vergangenheit einige Male gearbeitet hat, der nimmt sich meiner Sache an. Dumm ist nur, ich werde noch einmal für eine längere Zeit nach Spanien müssen und das nervt mich gewaltig!“

Susanne war auch etwas genervt, hörte nur mit halbem Ohr hin, warf einen schnellen Blick auf die Uhr, Frank würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Und als hätte sie den köstlichen Backduft wahrgenommen, stand Helene wenig später auch noch auf der Terrasse. „Setz dich zu uns“, forderte Susanne sie auf und sprudelte eilig heraus: „Ich habe Kuchen gebacken, allerdings müssen wir noch auf einen weiteren Gast warten. Inzwischen decken wir hier draußen den Tisch.“ Susannes Stimme hörte sich etwas erregt an.

Helene sah Brigitta achselzuckend an. „Welcher Gast denn?“ Aber auch Brigitta konnte nur unwissend die Schultern heben. Derzeit saß Rosi bei Michael am Esstisch und malte, während Michael seine Hausaufgaben zu bewältigen suchte, was ihm nicht leicht fiel. Rosis Mund stand nämlich keine Minute still, sie redete drauf los, stellte Fragen um Fragen, die der geplagte Junge zwischendurch versuchte zu beantworten. Als die Frauen jetzt auch noch herum wuselten, packte er kurzerhand alles in den Schulranzen und schickte sich an, hinauf in sein Zimmer zu gehen. „Ich bin noch satt, möchte den Kuchen als Abendbrot essen. Rosi bleib bitte bei deinen Tanten und löchere die mit Fragen, bitte!“ Er drückte flehentlich seine Hände zusammen, „bitte Rosi“, flüsterte er noch einmal und schulterte seinen Ranzen.

Rosi zog eine Flappe. Tröstend bereitete Susanne ihr eine große Tasse Kakao zu, goss auch schon Kaffee aus, da schellte es erneut. Brigitta stand dem Eingang am nächsten und öffnete die Haustür. „Hi, wo kommst du denn her?“

Dieser Frage folgte eine fröhlich laute Begrüßung. Endlich, Susanne schloss für Sekunden ihre Augen, atmete erleichtert auf, ehe sie von der Terrasse aus ins Haus ging, Frank entgegen. Frank war da! Im Moment gab es nichts was wichtiger gewesen wäre für sie! Die ausführliche und laute Begrüßung ließ Michael neugierig werden. Sekunden später erkannte er Franks Lachen, und sprang die Stufen hinunter, immer zwei auf einmal nehmend.

„Frank, Frank da bist du ja endlich.“

Frank nahm den Jungen in seine Arme, hob ihn leicht hoch und drehte sich mit ihm mehrmals um die eigene Achse.

Susanne lachte: „Sollte ich das nicht sein?“

Frank ließ sich das nicht zwei Mal fragen und schwenkte nun auch Susanne im Kreis. „Wer noch?“, rief er laut, als Susanne wieder auf ihren Füßen stand. Frank war so ungestüm, so überglücklich, er hätte die ganze Welt umarmen können.

Rosi machte ein paar zaghafte Schritte in seine Richtung, zweifelnd in kindlichem Ernst, ob sie sich auch dazu melden dürfe und flüsterte: „Ich, ich möchte auch mit dir fliegen.“ Also nahm Frank die Kleine hoch und drehte sich mit ihr durch die Küche, hinaus auf die Terrasse und weiter in den Garten. Rosi breitete die Arme aus und legte ihren Kopf in den Nacken, sie lachte und quietschte, sie quietschte beinahe identisch wie Wedekind‘s Gartentürchen. Frank war derartig aufgedreht, auch das Stillsitzen am Kaffeetisch fiel ihm schwer. Er alberte herum wie ein hyperaktives Kind. In einer Hand die Tasse mit Kaffee, in der anderen ein Stück Kuchen, so lief er hin und her, alles gleichzeitig, essen und trinken, sprechen und, stolpern! Der heiße Kaffee spritzte in hohem Bogen über Rosi und Susanne, wonach beide laut aufschrien. Das brachte Frank Hauff wieder auf den Boden der Gegenwart zurück, er ließ sich auf einen Stuhl fallen, stellte vorsichtig die fast leere Tasse ab und wurde plötzlich sehr still – und blass.

Brigitta, die eilig ein Tuch aus der Küche geholt hatte, mit welchem sie den Kaffee aufwischen wollte, wo immer er auch hin gekleckert war, sah es zuerst. „Was ist denn? Frank, was hast du denn?“, rief sie erschreckt.

Gerade sahen noch alle fasziniert auf die Kaffee- und geröteten Hautflecke auf Rosis Arm und Susannes Handrücken, jetzt flogen die Köpfe herum, alle Augen richteten sich auf Frank, der sich gerade wie in Zeitlupe langsam vom Stuhl zur Seite neigte, mit geschlossenen Augen, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben. Das war kein Spiel mehr! Soeben noch rechtzeitig konnten Michael und Helene ihn auffangen. Mit etwas Anstrengung gelang es auch, Frank wieder einigermaßen aufrecht auf den Stuhl zu setzen, aber er war zweifelsfrei weggetreten, ohnmächtig. Helene und Michael hielten ihn fest.

Von Susanne fiel augenblicklich jede Aufregung der letzten Stunden ab, sie war mit einem Male die Ruhe selbst. Nachdem er sich nicht aufwecken ließ, griff sie zum Telefonhörer. Wie in Trance wählte sie den Notruf 112 und berichtete völlig gefasst von Franks Zusammenbruch. Alle schwiegen, niemand getraute sich auch nur ein Wörtchen von sich zu geben. Es kam ihnen fast so vor, als sollten sie für die ausgelassene Freude der letzten Stunde bestraft werden. Inzwischen hatten sie Frank vorsichtig auf den Boden gelegt. Susanne feuchtete ein Handtuch an und breitete es über seine Stirn, den Hals, auf seine linke Schulter und den Oberarm aus. Sie arbeitete langsam und präzise, schien auch genau zu wissen, was zu tun war. Die anderen sahen ihr wie gelähmt zu. Erst, als Rettungsdienst und Notarzt vorfuhren, kam wieder Leben in die Gesellschaft.

Michael riss die Haustür auf, ließ Arzt und Helfer herein und führte schweigend die kleine Rosi zu ihrem Blumenbeet. Er lenkte sie mit allerlei Fragen zu den seltsamen Pflanzen ab und Rosi fiel ein: „Papa zog immer Handschuhe bei der Arbeit im Garten an, jetzt weiß ich auch warum!“ Sie sah auf ihre Hände und zeigte Michael, als wäre es das Wichtigste auf der ganzen Welt, dass ihre Fingernägel von zwei Mal waschen immer noch nicht richtig sauber geworden waren.

„Wenn es weiter nichts ist, nachher zeige ich dir wie man mit der Nagelbürste die Nägel sauber bekommt, okay?“ Michael streichelte beruhigend Rosis Hände und sie nickte zustimmend. Bei einem Blick zurück, sahen sie niemand mehr auf der Terrasse und rannten zum Haus zurück. Alle Türen standen offen. Eben wurde Frank, der jetzt laut protestierte, mit einer Liege in den Krankenwagen geschoben. Brigitta und Helene blieben am Fußweg stehen und Susanne stieg zu Frank ein, sie fuhr demnach mit ins Krankenhaus.

Michael fragte: „Was hat der Arzt gesagt?“

„Herzinfarkt.“

Brigitta legte ihre Arme um die Kinder. „Dann bleibe ich hier, bei den Kindern, einverstanden?“

„Ich helfe“, bot Helene an. „Wir räumen zuerst den Tisch ab und spülen das Geschirr, oder mag noch jemand etwas essen?“

Ein allseitiges schweigendes Kopfschütteln war die Antwort.

In Brigittas Hand lag nun die weitere Koordination und sie fand: „Michael, du machst am besten deine Schulaufgaben fertig“ und hielt Rosi zurück, die ihm nachgehen wollte. „Weißt du was, Rosi, du malst an deinem angefangenen Bild weiter, was soll das eigentlich werden?“

„Unser Garten, so sieht es da aus“ und nach kurzem Stocken, sehr leise: „Wenn Papa lange auf Montage war.“

Sie sprachen kaum noch, jeder schien mit eigenen Gedanken beschäftigt. Der arme Frank, er war so voller Freude gewesen. Niemand ahnte, dass sein Herz Einhalt gebieten würde.

Aber dann kam einer, der sie allesamt vom Ort der Trauer wegholte, und sie gingen gerne mit ihm.

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