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Susanne Schnells Angewohnheit, sobald sie alleine mit dem Auto unterwegs war das Radio einzuschalten, kam ihr nun zugute. Es war inzwischen kurz vor 17 Uhr. Sie hörte noch die letzten Takte eines Schlagers verklingen, schenkte der kurzen Werbung kein Gehör, achtete weder sonderlich auf die Nachrichten, auch der folgende Verkehrsbericht bekam erst nicht ihre Aufmerksamkeit. Doch plötzlich horchte sie auf, war das nicht hier? Ja, natürlich! „Die Autobahn ist wegen eines Unfalls gesperrt. Verflixt „Auch das noch!“ Susanne seufzte laut vor sich hin und schaltete genervt das Radio aus. Nun musste sie Landstraße fahren. Deshalb also dieses hohe Verkehrsaufkommen, Berufsverkehr, der wohl bereits umgeleitet worden war. Brigitta würde noch etwas länger warten müssen! Endlich, als Susanne ihre Schwägerin erspähte, die vor dem Haupteingang des Bahnhofs auf einem ihrer drei um sich herum verteilten Koffer saß, eine Reisetasche zwischen die Knie geklemmt, erschrak sie. Weniger darüber, dass Brigittas Haare grau, fast weiß geworden waren, wohl mehr darüber, dass sie schlank, ein bisschen zu schlank aussah! So kannte sie ihre Schwägerin gar nicht. Und das viele Gepäck, was bedeutete das? „Hallo Gitta, hoffentlich ist dir das Warten nicht allzu lange geworden. Die Autobahn ist wegen einem Unfall gesperrt. Zum Glück konnte ich es im Radio hören, ehe ich an die Auffahrt kam. Aber jetzt bin ich ja da, wie geht es dir? Sag mal, wie hast du das denn mit all den Koffern geschafft?“

„Puh, meine Güte Susanne, dein Redefluss!“ Brigitta lächelte: „Es gibt immer mal nette Leute die einem helfen und ja, es geht mir gut. Sehr gut sogar! Besonders seit ich hier bin, auch wenn ich noch länger auf dich hätte warten müssen, jetzt ist alles gut.“

Die beiden Frauen umarmten sich innig und jede sah die andere prüfend an. Dann packte Susanne zwei Koffer. „Komm Gitta, ich stehe direkt um die Ecke am Parkplatz.“

Sobald sie aus der Stadt heraus waren, fragte Susanne: „Sag, was ist geschehen? Du kommst mit großem Gepäck, also bleibst du diesmal etwas länger?“ Susanne warf ihrer Schwägerin einen prüfenden Seitenblick zu.

„Für immer! Musst mir helfen mit Wohnung suchen und so weiter!“ Gleichzeitig machte Brigitta eine Handbewegung zum Hals, die unmissverständlich sagte: Schluss, aus, vorbei, Ende! „Mein über alles geliebter Gatte ließ sich von einem Stierhorn aufspießen“, fuhr sie mit spöttisch klingendem Unterton fort, „und zwar gründlich, jedenfalls ist er im Krankenhaus nach gut zwei Stunden an der schlimmen Verletzung gestorben. Er wollte seinen Schülern etwas praktisch vorführen, am Tier, verstehst du? Sie nannten den Stier: Killer! Das wusste Melchior aber nicht, er hätte sich sonst sicherlich anders verhalten, wie auch immer, es ging voll daneben.“

„Wann?“ Mehr brachte Susanne im Moment nicht heraus, ein elendes Würgen im Hals hinderte sie daran.

„Vor knapp zwei Monaten, nächste Woche Mittwoch sind es zwei Monate seit seiner Beerdigung. Danach gab es nur noch Schwierigkeiten mit seiner Familie! Ein gutes Auskommen mit den Frauen der Familie gab es ja noch nie! Finanziell waren sie aber von Melchior abhängig, irgendwie! Und jetzt, das war das Allerletzte! Unmöglich, sag ich dir. Da habe ich alles getan, damit sie mich rausekeln. Ich bin zwar seine Haupterbin, aber nur in Spanien! Kannst du das verstehen? Das hat er so im Testament festgelegt. Das musst du dir mal vorstellen! Ich wusste gar nicht, dass er überhaupt eins verfasst hat. Du musst mir einen Anwalt besorgen, ich will das anfechten! Schließlich hat die Familie es drauf angelegt, mich zu vergraulen. Außerdem sind wir jetzt ein vereintes Europa, da wird doch was zu machen sein. Hoffentlich kannst du mir bis dahin unter die Arme greifen? Habe nicht viel Bares dabei.“ Brigitta ließ ihren Ärger heraus, all ihren Verdruss, der ihr gerade den Atem nahm und sie mehrmals heftig nach Luft schnappen ließ, um sie gleich wieder zischend auszustoßen.

Susanne nickte, sie war geschockt. Wenn das Helene hört, Helene! Die Rettung! Was war da kürzlich alles passiert? Konnte das denn alles Vorsehung sein? Und Melchiors Tod, passte sogar das mit da hinein? Nein, sicherlich nicht! Das ist bestimmt diesmal nur ein Zufall!? Aber jetzt erst einmal eins nach dem andern. „Brigitta, das ist selbstverständlich, wir werden alles tun, dir zu helfen. Und mit einer Wohnung, da habe ich schon eine ganz tolle Idee, aber das muss ich erst mit meiner neuen Freundin Helene Weber besprechen.“

„Weber? Ist das die, die so gerne tratscht?“

„Ja, aber genau dadurch kamen wir uns näher, eigentlich nur deshalb! Und der Ruf Klatschtante, sobald man sie näher kennen gelernt hat weiß man auch, der hängt ihr zu Unrecht an. Unsere Freundschaft hat gerade erst begonnen und stell dir vor, es gibt einen neuen Mann in meinem Leben, Frank Hauff. Du wirst ihn gleich kennen lernen.“

„Na, du bist mir ja eine, lachst dir einen Kerl an. Aber recht hast du!“ Brigitta fand das also gut. Sie hätte ohnehin alles gut gefunden, was immer auch Susanne anstellen würde. Susanne genoss vom ersten Augenblick an, seitdem sie sich kannten, so etwas wie ‚Narrenfreiheit‘ bei ihr, jedenfalls betitelte es Mark einst so.

„Da sind wir.“ Susanne hielt in der Einfahrt, hinter Franks Mercedes und rief laut und übermütig: „Alles aussteigen!“ Die Haustür sprang auf, Michael kam auf seine Tante zu gelaufen, Frank folgte ihm. „Hallo, Tante Gitta, seit wann sind deine Haare denn grau? Da hab ich dich aber ganz anders in Erinnerung!“

„Vielen Dank, mein Kleiner, dass du mir das direkt aufs Brot schmierst. Aber du siehst auch völlig verändert aus, gewachsen bist du, Donnerwetter, sieh‘ sich das mal einer an, ein richtig kleiner Mann!“

Michael warf sich in die Brust und kichernd kam er seiner Mutter zuvor: „Das ist Frank, unser Zufall vom Steg!“

„Was? Muss ich das verstehen? Oh ich glaube, da habt ihr mir noch einiges zu erzählen.“ Brigitta war gespannt, eigentlich schon mehr hungrig, auf alles Neue und ihr noch Unbekannte aus ihrer Lieblingsfamilie.

Frank begrüßte Brigitta und erbarmte sich mit Michael um ihr Gepäck. Sobald sie sich alle im Haus befanden, beichteten die Männer vorsichtig: „Es gibt keine Forellen, weil einfach keine mehr angebissen hat.“

„Sah ich da nicht vorhin schon was im Eimer schwimmen?“, fragte Susanne ungläubig.

„Schon, aber jetzt schwimmt er wieder im Fluss, wir wären ja nicht von dem Einen satt geworden! Dafür gibt es saftige Steaks!“

„Und die haben angebissen?“, lachte Brigitta laut, sie schien langsam ihren Humor wieder zu finden. Gemeinsam belächelten sie die ‚angebissenen Steaks‘. Überhaupt wurde an diesem Abend nur noch über Angenehmes geredet, auch kurz der Zufall am Steg gestreift, aber auch nur, weil Brigitta neugierig danach fragte. Die neue Freundschaft im Nachbarhaus wurde ebenfalls am Rande erwähnt, immerhin musste Susanne da erst etwas klären.

Bereits nach Brigittas Anruf aus Köln hatte Susanne für sie ein Zimmer im Hotel Haus Agnes bestellt. Zufällig war Agnes Hackler selbst am Apparat gewesen und als sie den Namen Schnells hörte, begann sie sich umständlich für die gemeine Besetzung des Angelstegs zu entschuldigen: „Wenn hier nicht so viel zu tun wäre, hätte ich Sie längst aufgesucht, Frau Schnells, aber das kommt noch!“

Susanne lachte leise. „Eigentlich muss ich mich bei Ihnen entschuldigen, oder viel eher dafür bedanken, Frau Hackler. So komisch sich das auch für Sie anhören wird, Ihren Kunden Frank Hauff hätten mein Sohn und ich sonst nie kennen gelernt und das ist eine gute Begegnung gewesen. Herr Hauff verbringt übrigens seinen Resturlaub bei uns. Deshalb schlage ich vor, wir vergessen lieber die ganze Sache, Frau Hackler, und Sie versprechen mir, dass zukünftig unser Angelsteg für Sie tabu ist.“

„Um Gottes willen, Frau Schnells, behalten Sie das mit der guten Begegnung aber bitte für sich, meinem Mann darf das auf gar keinen Fall zu Ohren kommen. Vater und ich haben ihm gewaltig unsere Meinung gesagt. Das hat so gekracht, er ist direkt abgehauen. Wenn er das rauskriegen würde, er dürfte Verbotenes machen, na ich weiß nicht. Mein Versprechen haben Sie! Der Angelplatz ist für uns für alle Zeiten tabu!“

„Ich kann schweigen.“ Warum ist sie immer noch mit dem Ekelpaket verheiratet? „Mit dem Zimmer geht klar? Es kann etwas später werden, kommt sie dann noch rein?“

„Selbstverständlich, hier ist immer jemand. Das ist dann Frau Schwelm oder? Wie war noch der spanische Name?“

„Moreno.“

Brigitta fuhr gegen 23 Uhr, nur mit kleinem Gepäck und Susannes Polo, zum Hotel. Morgen, nach dem Frühstück, würde sie wieder in der Bergstraße eintreffen. Und irgendwie mussten sie dann gemeinsam überlegen, wie es weitergehen sollte. Denn dieses Thema umging Susanne ja bisher aus einem ganz bestimmten Grund.

Susanne sah ihre Freundin Helene am nächsten Morgen kurz vor 9 Uhr, als sie in Richtung ihrer neuen Arbeitsstelle ging. Sie klopfte ans Fenster und zeigte ihr zwei gedrückte Daumen.

Helene lächelte und formte „danke“ mit ihren Lippen.

Bald danach traf Brigitta ein und das Programm für diesen Tag konnte entworfen werden. „Gitta, fährst du mit mir einkaufen? Ich habe mir nämlich was ausgedacht für dich“, begann Susanne.

„Aha und was?“

„Du musst mir aber versprechen nicht böse zu sein, dann sag ich‘s dir“, entgegnete Susanne vorsichtig.

„Raus damit, ich fresse dich schon nicht“, tönte Brigitta.

Susanne lachte erleichtert, sie dachte sich aus, als erstes braucht Brigitta eine neue Haarfarbe, damit wird sie sich gleich wieder besser fühlen. Selbst Michael schien sich gestern bei der Begrüßung schon an dem hässlichen Grauweißton gestoßen zu haben. Diese Idee teilte sie ihrer Schwägerin nun mit.

Für einen Augenblick hielt Brigitta den Atem an, ihre Haare zu färben, soweit ging ihre Eitelkeit nicht. Aber Susannes Direktheit verblüffte sie etwas und sie ließ sich darauf ein: „Okay, bin einverstanden.“

„Also los, wir fahren zum Supermarkt einkaufen und nach dem Essen fangen wir mit deinen Haaren an.“

„Das willst du selbst machen?“ Brigitta schien erstaunt. „Sag bloß, deine Haare machst du dir auch selbst?“

„Und ob, nach dem Motto, selbst ist die Frau! Hast du etwa vergessen was ich alles kann?“ Susanne tat beleidigt, lachte aber im nächsten Moment hell auf, weil Frank völlig bestürzt ihre Frisur musterte.

„Lach du nur über mich, aber ich hätte schwören können es ist deine eigene Farbe“, murmelte er.

„Och du Armer.“ Susanne schlang die Arme um Franks Hals. „Es ist auch meine Farbe, helfe nur ein bisschen nach. Magst du mich trotzdem noch?“

Frank antwortete mit einem flüchtigen Küsschen.

Dann fragte sie ihn: „Fährst du mit uns?“

„Ehm, muss ich?“, das hörte sich gar nicht begeistert an.

„Nein, musst du nicht! Aber wie wäre es dann, wenn du mit Eimer und Angel tätig wirst? Wenn Michael nicht dabei ist, beißen die Fische vielleicht heute? Außerdem, du hast doch Angelurlaub, oder?“ Susanne zwinkerte ihm kichernd zu.

Frank nickte ergeben. „Macht schon, dass ihr verschwindet.“

Brigitta belud den Einkaufswagen, sie fand mit Begeisterung immer noch etwas und noch mehr. Susanne sagte irgendwann schmunzelnd: „Ich glaube, morgen gibt es hier auch noch was zu kaufen, wir müssen nicht hamstern, lass mal gut sein, der Wagen läuft bald über.“

„Zu dumm, wir hätten gleich zwei Wagen nehmen sollen!“, sagte Brigitta spontan. Worauf Susanne nur den Kopf schütteln konnte, denn jeder Kommentar wäre hier zwecklos gewesen. Aber es machte Spaß, Brigitta ein kleines bisschen von ihrem Dilemma ablenken zu können.

Beinahe gleichzeitig mit Frank, in dessen Eimer sich heute fünf Forellen tummelten, trafen auch Susanne und Brigitta zuhause ein. „Wann kommt heute Michael aus der Schule?“, war das erste, was Frank wissen wollte, ehe er sprachlos vor den vielen vollen Beuteln und Tragetaschen stand.

„Vielleicht in zehn oder fünfzehn Minuten“, meinte Susanne, nach einem flüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr.

„Warum?“ Brigitta zeigte auf den umfangreich ausgefallenen Einkauf. „Soll Micha uns helfen, oder bist du so gut und …“

Susannes Lachen ließ sie verstummen. „Michael muss die Fische schlachten. Frank kann sie zwar fangen und fast zärtlich vom Haken befreien, aber ehe er sie tötet gibt er sie lieber dem Fluss wieder zurück.“

„So was habe ich überhaupt noch nie gehört. Du bist mir der richtige Angler! Und dann machst du Angel-Urlaub?“ Brigitta ergriff den halbvoll mit Wasser gefüllten Eimer, samt den darin beengt schwimmenden Fischen und eilte zum Terrassentisch. Als Michael wenig später nach Hause kam, lagen bereits die Forellen in Reih und Glied ausgebreitet auf der Tageszeitung – bratfertig!

„Na fabelhaft“, ärgerte sich jetzt Frank, der bisher Brigittas Fischarbeit nicht sonderlich interessant fand. „Die habe ich noch nicht gelesen“, maulte er und trauerte der fischdurchtränkten Zeitung nach.

Nachdem Frank fünf Forellen angelte, aus welchem Grund auch immer, dies sogar genau in Susannes Konzept passte, konnte Helene Weber eingeladen werden. Schließlich wollte sie noch diese besondere Idee oder Nachfrage zwecks Wohnung, für ihren spanischen Besuch, loswerden!

Aber nun gab es erst mal eine verspätete Obst-Zeit zu Mittag, nachdem alles Eingekaufte verstaut war. Gleich danach begann Susanne mit der Verschönerung von Brigittas Haaren. Als diese nach der Prozedur in den Spiegel sah, erkannte sie ihren fast identischen Naturfarbton dunkelblond, mit einer Superfrisur. Brigitta umarmte Susanne. „Ich danke dir, es ist zwar nur eine Nebensächlichkeit, aber vorläufig das Beste was dir eingefallen ist, ich fühle mich zwanzig Jahre jünger.“

„Na, dann warte mal ab was der Tag noch so mit sich bringt, vielleicht gibt es noch was viel Besseres? Aber erst will ich rasch mal rüber zu Helene, zu essen haben wir nun reichlich für heute Abend, da kann ich sie gleich dazu einladen“, sprach Susanne und lief zum Nachbarhaus. Sie klingelte und sofort erschien Helene an der Haustüre, beinahe so, als hätte sie bereits auf ihre Freundin gewartet.

„Wie schön, dass du kommst, dann kann ich dir sogleich von heute berichten“, rief Helene überschwänglich.

„Nein, warte mal, ich weiß was viel Schöneres. Komm um 18:30 Uhr zum Essen zu uns, es gibt Forellen mit Bratkartoffeln und Gurkensalat“, versprach Susanne.

„Du lädst mich dazu ein? Lieb von dir“, freute sich Helene.

„Ja Helene, aber ich muss dir im Vorfeld etwas beichten“, bekannte Susanne nun. „Vielleicht ist das unverschämt von mir und ich weiß nicht, wie du das aufnimmst? Es ist auch bis jetzt nur in meinem Kopf, niemand sonst weiß davon, wenn du also nein sagst, ist das in Ordnung.“

„Ist was passiert?“ Helene gab sich beunruhigt.

„Nein, nein, oder doch, es ist wegen Brigitta! Sie bleibt hier, in Deutschland“, beruhigte Susanne sie. „Jetzt ist sie auch Witwe und zurzeit knapp bei Kasse oder vielmehr, sie braucht als erstes eine Bleibe und da habe ich sofort an dich gedacht. Ob du ihr vorübergehend ein Zimmer überlassen kannst? Ich zahle das.“

Zuerst fand Helene keine Worte, sie sah Susanne nur fragend an. Im nächsten Moment war ihr Interesse aber voll geweckt und sie antwortete: „Ich komme zum Essen, dann können wir reden. Gar nicht so schlecht – Platz genug habe ich doch, bis nachher.“

Schon eigenartig, fünfzehn Jahre gab es zwischen ihnen außer ‚Guten Tag‘, vielleicht noch ‚schönes Wetter heute‘ oder ähnlich Belanglosem, nichts zu sagen, mal von den mehr oder weniger kurzen Gesprächen nach dem Tod von Mark abgesehen. Und nun, kaum, dass sie eine gute Woche Freundinnen waren … Susanne sah erneut die Zusammenhänge der Zufälle, diese Kette, bei der ohne das vorherige Glied nicht das heutige entstehen konnte! Aber inzwischen sah sie auch das schon viel eher beginnende dramatische, schicksalhafte Geschehen, eben genau in dieser jetzigen neuen Sache, das bereits in Spanien begann. Zufall? Nein, heute sah sie, das war mehr! Diese Lösung war wohl schon längst überfällig gewesen. Brigitta wollte nicht mehr in Spanien bleiben, nicht bei der chaotischen Familie, nicht bei ihrem Mann, der sich trotz seines Alters immer noch gerne mit jungen Frauen umgab. Dies offensichtlich, wie er es vor langer Zeit erklärt hatte, glaubte seinem Ruf schuldig zu sein. Dieser Gockel. Offenbar war sein Vater genauso ein eingebildeter Frauenheld gewesen. Brigitta ahnte dies eigentlich schon immer, vielleicht war es auch mehr Wissen, welches sie innerlich missbilligte. Der Mann, der ihr Befehle erteilte vom Anfang ihrer Ehe an, der sie nicht los lassen wollte seines Rufes wegen, immer nur seines Rufes wegen, ohne Rücksicht auf Frau und Familie, die ohnehin dumm und stillschweigend darüber hinwegsah. Diesen Menschen ereilte nun am Ende ein grausames Schicksal, und er gab auf diese Weise Brigitta doch noch frei. Endlich, ein jahrelanger Wunsch erfüllte sich. Aber wozu gerade jetzt? Was erwartete Brigitta hier, zurück in Deutschland? Bestand die Rückkehr in ihr Heimatland nur aus der Erfüllung ihrer lang gehegten Sehnsucht? Oder wartete hier gar eine Aufgabe auf sie?

Der Tisch war nett gedeckt. Die knusprig gebratenen Kartoffeln dampften aus der Schüssel und die Türschelle schlug an. Helene folgte Susannes Einladung und brachte eine große Glasschüssel rote Grütze und Vanillesoße als Nachtisch mit. Helene war immer für schnelle Entschlüsse gut, sie dachte sich gerne etwas Nettes als Überraschung aus für ihre Freunde. Lange genug musste sie auch darauf verzichten.

Während des Essens berichtete Helene immer wieder zwischen durch von ihrem ersten Arbeitstag. Neugierig schweigend hörten sie ihrer Schilderung zu: „Als ich ankam war der Frühstückstisch schon gedeckt, sehr üppig und richtig nett mit Tomaten und Weintrauben verziert, der Kaffee genau nach meinem Geschmack und ich fragte mich insgeheim, ob ich zum Arbeiten oder als Gast geladen war.“ Nach einigen Bissen von ihrem Teller, die sie mit „hm-hm“ begleitete, fuhr sie kauend mit ihrer Geschichte fort: „Die Scholz-Männer dachten sich bereits genauestens aus, wie meine haushälterische Beschäftigung aussehen soll! Nämlich, jeden Morgen, pünktlich 9 Uhr, fange ich an mit gemeinsamem Frühstück. Dann räume ich auf wo es nötig ist, kaufe einmal die Woche ein, an einem anderen Tag putze ich, den nächsten Tag wasche ich und so weiter. Tägliches Kochen für Herrn Scholz und auch für mich! Oh ja! Und ich kann mir selbst die Arbeit so einteilen, wie ich denke und mein Dienstschluss ist um 14 Uhr. Samstag und Sonntag habe ich natürlich frei und jetzt ratet mal, wie hoch mein Gehalt ist!“ Helene kaute genüsslich weiter und wartete.

„Hm, 300 Euro“, fragte Susanne „bei zwei Mahlzeiten?“

„Oh nein, 450 Euro und 100 Euro als Fahrgeld extra, weil ich mit meinem eigenen Auto alle Fahrten machen muss. Otto Scholz hat doch keins mehr, dabei kann ich gleich immer auch für mich selbst Besorgungen machen. Ihr seht, das ist eine Supersache. Natürlich fahre ich ihn auch zum Friseur oder was sonst so anfällt.“ Helene war in ihrem Element.

„Das kann man wohl sagen, das ist mehr als gut“, fand Frank. „Hast also sozusagen einen sogenannten 450-Euro-Job.“

„Genau, Hans-Peter will übrigens heute noch nach Hause fahren, wahrscheinlich ist er schon weg. Otto Scholz hat eine sehr gute Rente, sagt er. Er kann sich meine Hilfe leisten! Nicht, dass ich auf ein Zubrot angewiesen wäre, aber dann kann ich ruhigen Gewissens jetzt mein Gespartes in ein neues Dach investieren!“ Helene widmete sich nun ganz ihrer Forelle und schien mit sich und der Welt zufrieden.

Brigitta fand Gefallen an dieser couragierten Nachbarin und brachte das zum Ausdruck. „Sie haben Ihr Leben so fest im Griff, ich wollte das könnte ich auch von mir sagen.“

„Ach so, ja, Susanne sagte schon, Sie wollen in Deutschland bleiben und suchen eine Wohnung. Wie wäre es denn, wenn Sie in mein Dachgeschoss einziehen, es sind zwei kleine Zimmer mit Schrägen, ein WC und Dusche. Die Küche müssten wir uns allerdings teilen oder gemeinsam nutzen, na was sagen Sie dazu, Frau Schwelm? Oder soll ich Frau Moreno sagen?“, fragte Helene lächelnd.

Brigitta konnte nicht antworten, sie war viel zu ergriffen, so stand sie spontan von ihrem Stuhl auf, schritt um den Tisch herum und nahm die sich zögernd erhebende Helene Weber in die Arme. Susanne erhob sich ebenfalls und ging zu den beiden, legte ihrerseits die Arme um sie und da standen die drei Frauen, vor Rührung lachend und weinend gleichzeitig, eine Weile glücklich und eng umschlungen mitten im Esszimmer.

„Das ist überhaupt nicht nötig“, antwortete Brigitta etwas verspätet. „Es wäre schön, wenn wir direkt zu einander du sagen könnten.“ Tief Luft holend sagte sie weiter: „Ich muss mich anmelden mit Moreno, aber wenn die Erbensache erledigt ist, dann will ich wieder meinen Mädchennamen annehmen. Das habe ich mir jedenfalls fest vorgenommen.“ Eine Stunde später war ihr Gepäck in der zukünftigen Wohnung bei Helene verstaut. Es fehlte nur noch die Tasche aus dem Hotel, die würde sie morgen holen und dort das Zimmer freimachen. Möglicherweise war diese vorläufig glückliche Wende in Brigittas Leben auch ein gutes Omen für ihre Erbangelegenheit.

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