Читать книгу Unabwendbare Zufälligkeiten - Inge Borg - Страница 20

15

Оглавление

An diesem Sonntag, der bisher einiges an Schrecken brachte, rief abends Frank Hauff bei Susanne Schnells an. Nach seiner Abfahrt am Freitag begann ja merkwürdigerweise das Unglück in der Siedlung und von Frank kam nun auch keine gute Nachricht. „Tag Susanne, wie geht es bei euch, hier ist es fürchterlich! Und ich vermisse dich!“

„Seit du weg bist, ist hier der Teufel los. Wir haben Zuwachs bekommen, die kleine Rosi von gegenüber, mit polizeilicher Anordnung!“ Susanne schilderte ihm in Kurzfassung bis zum Zinksarg, in welchem Bernhard Haas vor wenigen Stunden aus dem Haus getragen worden war, von den ihr bereits bekannten entsetzlichen Ereignissen und versicherte Frank: „Ich vermisse dich auch. Und du, sag wie geht es bei dir, was hat sich bei dir denn Fürchterliches getan?“

„Es ist zwar keine blutige Sache, aber eine für uns alle sehr enttäuschende finanzielle krumme Tour, wie es Lukas schon ausgedrückt hat“, berichtete Frank: „Meine geschiedene Frau hat offensichtlich schon seit mehreren Jahren immer wieder sehr dreist Unterschlagungen vorgenommen. Oder Scheinbuchungen vom Firmenkonto, jedenfalls betrügerische Taten gemacht, was weiß ich, das muss jetzt ans Tageslicht gekommen sein. Es steht noch nicht der Fehlbetrag fest, aber er muss ziemlich hoch sein.“

Susanne fühlte plötzlich Hass für diese Frau, ja sie hasste sie, ohne sie zu kennen, alleine schon deshalb, weil Frank ihretwegen sogar seinen Urlaub verfrüht abbrechen musste. Das plötzlich aufsteigende Gefühl von Ärger in ihr, ließ ihre Worte sehr frostig klingen: „Das hat keiner gemerkt, oder gibt es Mitwisser die ihre Hände aufgehalten haben?“

„Vermutlich ja, das wird sich noch herausstellen, vorläufig ist Monika in Untersuchungshaft.“

„Nicht zu fassen. Meinst du denn, du kannst trotzdem nächstes Wochenende zu uns kommen?“, fragte Susanne erregt.

„Ich weiß es noch nicht. Im Moment kann ich Lukas und die Buchhaltung nicht hängen lassen.“ Frank holte tief Luft und schlug vor: „Vorerst sollten wir uns mit dem Telefon begnügen. Falls irgendetwas Wichtiges ist, ruf mich auf dem Handy an, ich lasse es eingeschaltet. Ich melde mich aber auch bald wieder.“

Als sie sich verabschieden wollte, kam Michael ungestüm zur Tür herein. „Mit wem telefonierst du, etwa mit Frank?“ Susanne nickte und Frank, der ihn hörte, bat: „Gib ihn mir mal kurz und mach’s gut, bis bald.“

Michael nahm den Hörer hastig an sich, atemlos rief er: „Frank, wir haben noch nicht den Wildbewuchs am Fluss geschlagen, keine Zeit. Wann kommst du?“

„Das wird so bald nichts, frag deine Mutter, sie weiß Bescheid. Tschüss Micha, bis demnächst.“

Der Junge war sichtlich enttäuscht und Susanne sagte tröstend: „Ach Micha, wir wollen dir doch sowieso helfen und können morgen gemeinsam anfangen, wenn du das unbedingt jetzt schon willst.“

„Aber Michael muss doch in die Schule“, wunderte sich Rosi, die mit ihm hereingestürmt war.

„Immer nach dem Mittagessen gehen wir alle zusammen zum Steg, Tante Brigitta geht auch mit und wenn Tante Helene von Herrn Scholz kommt, kann sie noch nachkommen“, versprach Susanne.

Damit war Rosi zufrieden, aber auch müde. Heute stand ihre dritte Nacht bei Schnells bevor. Sie schlief bei Susanne im Bett und manchmal schreckte sie weinend auf, dann musste Susanne sie liebevoll beruhigen, sie in ihren Arm nehmen und sie fragte sich längst, ob die Mutter ihr Kind auch manchmal in ihrem Arm schlafen ließ? Ihre Nächte waren jedenfalls ziemlich unruhig, seit Rosi bei ihr schlief.

Montagmorgen, nachdem Michael zur Schule aufgebrochen war, wollte Susanne versuchen, etwas mehr über und von Rosi zu erfahren. Während ihrem gemeinsamen Frühstück, das Kind genoss es sichtlich, begann Susanne mit ihren Fragen: „Rosi, wie alt bist du eigentlich und weißt du deinen Geburtstag?“

„Ja, weiß ich. Ich bin fünf Jahre alt und habe am 12. Dezember Geburtstag, dann werde ich sechs Jahre.“

„Und Lehrerin Stein möchte, dass du schon dieses Jahr in die Schule kommst?“, fragte Susanne verblüfft. Eigentlich war das Kind viel zu zart, um schon einen Schulranzen mit Inhalt zu tragen, fand sie. „Wie kam das denn, ging deine Mama mit dir zu Frau Stein?“

„Mama und Papa. Alle zwei waren mit mir bei Frau Stein in der Sprechstunde, die unterrichtet nämlich die erste Klasse. Sie hat mit mir einen Text gemacht und den habe ich bestanden. Deshalb kann ich nach den Ferien in die Schule gehen.“

„Du meinst einen Test?“

„Sag ich doch!“

Susanne schmunzelte. „Aber einen Schulranzen hast du noch nicht, oder doch?“

„Nein. Ach so, deshalb war Mama so böse!“ Rosi schien sich zu erinnern, sie stockte für Sekunden, aber dann sprudelten die nächsten Worte so plötzlich und schnell über ihre Lippen, dass Susanne Mühe hatte alles zu verstehen. „Papa brachte kein Geld mit, wir konnten nicht einkaufen. Mama schimpfte mit ihm. Da bin ich in mein Zimmer gegangen. Ich habe mir die Ohren zugehalten. Immer schimpft Mama! Immer, immer! Jetzt fällt mir alles wieder ein, Papa hat das Auto verkauft, deshalb konnte ich es nicht sehen.“ Dann dachte sie angestrengt nach und Susanne beobachtete sie genau, bereit jederzeit einzugreifen, falls dem Kind noch weitere Einzelheiten einfallen würden, wozu sie eventuell tröstenden Beistand brauchte. Susanne fiel wiederholt auf, dass Rosi bisher nicht ein einziges Mal nach ihrer Mutter fragte. Sie musste sich doch Gedanken machen, wo sie geblieben war. Das Kind war doch nicht dumm oder gar oberflächlich. Konnte es sein, dass Rosi vielleicht so etwas wie Erleichterung verspürte ohne Mutter? Armes Kind! „Tante Susanne?“ Rosi trank von ihrer Milch, „können wir mal zu uns nach Hause? Gehst du mit mir?“

Susanne erschrak. „Warum denn Rosi?“

„Ich muss zum Papa, der ist bestimmt da und arbeitet im Garten, da ist ganz viel zu tun, er sucht mich sicher schon? Ich kann ihm doch wieder helfen.“

Die letzten Tage konnten Susanne und Michael, besonders auch Brigitta, die Kleine immer wieder unter dem einen oder anderen Vorwand zurückhalten, ihr vor allen Dingen den Blick auf ihr Elternhaus ersparen. Verschwiegen ihr ebenso, dass ihr Vater nicht mehr lebte. Und nun? Es musste ja so kommen. Rosi wollte nach Hause. Susanne brauchte eine neue Ausrede und zwar augenblicklich! Sie versuchte es damit: „Wir können nicht ins Haus, ich habe doch keinen Schlüssel, Rosi“ und noch während sie es sagte wusste sie, Rosi würde nicht darauf hereinfallen.

„Aber wir können doch klingeln!“ Rosi war anscheinend von der Anwesenheit ihres Vaters überzeugt.

Susanne überlegte, ich muss ihr reinen Wein einschenken und begann vorsichtig mit der Aufklärung, immerhin war dieses Kind sehr verständig für sein Alter, trotzdem, leicht fiel es Susanne nicht. „Rosi, deine Mama kam mit einer schlimmen Wunde ins Krankenhaus. Du weißt bestimmt noch, wie sie in der Küche lag und blutete?“

„Ja, wieso? Ist sie denn nicht tot? Ich dachte doch – dann, dann müssen wir sie besuchen, das macht man doch immer so, wenn jemand im Krankenhaus liegt!“ Rosi war schon aufgesprungen und begann hektisch, vielleicht auch mehr verängstigt und verwirrt, den Tisch abzuräumen. Das Kind agierte wie unter Zwang.

Susanne hielt sie zurück. „Nein, Rosi, wir können nicht deine Mama im Krankenhaus besuchen, es geht ihr sehr schlecht. Ich werde erst mal nachfragen, vielleicht geht es ja morgen oder übermorgen.“

„Gehst du denn mit mir rüber? Vielleicht ist die Terrassentür nur angelehnt, dann können wir doch rein.“ Rosi sprach leise mit zittriger Stimme und Tränen in den Augen. Die Nachricht, dass ihre Mutter noch lebte, traf sie offensichtlich anders als es üblicherweise bei einem Kind sein sollte! Rosi zeigte nicht die Spur von Freude. Eher schien sie sich damit abgefunden zu haben, bei Susanne zu bleiben. Und nun? Offenbar stand sie wieder an dem Punkt: Fortlaufen.

Susanne wünschte sich Brigitta herbei, dann müsste sie die Entscheidung, Rosi die Wahrheit zu sagen, nicht alleine treffen. Doch heute, ausgerechnet heute, ließ sich Brigitta so viel Zeit. „Komm Rosi, komm, ich will dir etwas zeigen.“ Susanne nahm das Kind bei der Hand und ging mit ihm zur Haustür. Sie öffnete die Türe und sofort fielen ihnen die zwei fremden Fahrzeuge gegenüber auf. Beim Haas-Haus stand die Haustür halb offen und von den Polizei-Siegeln war nichts mehr zu sehen. Genau diese Siegel wollte Susanne dem Kind aber zeigen und es mit der Realität bekannt machen. Was nun?

Auf der Fahrertüre eines Wagens sah Susanne eine Schrift, konnte sie aber nicht entziffern, weil sich die Sonne im Lack spiegelte. Also blieb nichts weiter übrig, als sich mit Rosi den Fahrzeugen zu nähern. Vielleicht würde sich jetzt einiges von selbst klären. Das Auto gehörte der Stadt, genauer gesagt, es gehörte zum Jugendamt. Klar, die müssen natürlich auch hier aufkreuzen, dachte Susanne und ihre sowieso angeschlagene Stimmung rutschte noch eine Etage tiefer. Ausgerechnet in dieser stillen Bergstraßen-Siedlung musste ein derartig beschämender Trubel Angst und Schrecken verbreiten, immer ausgehend von diesem Haus dort schräg gegenüber. Sie fand allmählich Verständnis für die teils rüden Äußerungen, die Entrüstung der aufgebrachten Nachbarn vom Vortag.

Aber jetzt kamen dort drei Leute aus dem Haus heraus, ein Mann und zwei Frauen, wovon die eine Kommissarin Schneider war. „Ach Frau Schnells, gerade wollten wir zu Ihnen.“ Frau Schneider kam rasch auf sie zu, reichte ihr, dann Rosi die Hand. „Hallo Rosi, geht’s dir gut?“ Jedoch ohne eine Antwort abzuwarten, raunte sie: „Ich möchte Sie alleine sprechen, Frau Schnells!“

Susanne nickte. „Warten Sie, ich bringe Rosi schnell zu meiner Schwägerin“, und sich an Rosi wendend: „Wir gehen zu Tante Brigitta.“ Sie eilten die paar Schritte zu Helenes Haus und schellten, aber es öffnete niemand. Brigitta war also gar nicht da. Susanne hob die Schultern, sah zurück zur Kommissarin, und jetzt? Sie ging zurück mit dem Kind.

„Na, da wird sicher Frau Ballert ein wenig mit Rosi plaudern, ja?“ Die Kommissarin gab damit der Dame vom Fürsorgeamt den Wink, sich um das Kind zu kümmern. Frau Ballert kam der versteckten Bitte nach, ergriff Rosis Hand und gehorsam lief das Kind mit ihr einige Schritte den Fußweg entlang.

Frau Schneider stellte Herrn Kuntze vom Jugendamt vor, der ebenfalls wie Frau Ballert des Kindes wegen mitgekommen war. Anschließend bekam Susanne die neueste Information: „Heute früh sind wir schon aus dem Krankenhaus angerufen worden, es wird dringend nötig, endlich Verwandte von Familie Haas ausfindig zu machen. Frau Haas hat leider schon drei Anfälle bösester Art gehabt und muss immer wieder gewaltsam ruhig gestellt werden. Bisher konnten wir sie noch nicht vernehmen. Jetzt heißt es, sobald die Wunde einigermaßen verheilt ist, soll sie in die Psychiatrie verlegt werden, zwecks einer Therapie, dem muss sie aber selbst zustimmen. Es wird also nicht einfach mit ihr. Psychiatrie kann allerdings auch bedeuten, wenn sich kein Verwandter findet, braucht nicht nur Rosi, sondern auch sie einen gesetzlichen Betreuer. Man hofft natürlich auch, sie wird noch zugänglicher und das bleibt ihr erspart.“ Und nach einer kleinen Pause fragte sie: „Was ist eigentlich mit dem Vater von Frau Haas, ich habe Papiere von ihm gefunden, lebt der noch?“

Susanne hatte keine Ahnung, sie fragte nur entsetzt: „Was denn für böse Anfälle?“

„Sie schreit und tobt und sagt immer wieder das gleiche: ‚Ich muss oder will nach Hause, ich mache ihn fertig oder mache Schluss mit ihm, der Schlappschwanz, der Nichtsnutz‘ und so weiter. Sie meint damit ihren Mann, von dessen Tod sie demnach nichts weiß, nicht einmal ahnt.“ Nach kurzer Überlegung fügte Frau Schneider hinzu: „Deshalb haben wir auch das komplette Grundstück abgesucht und Herrn Haas gefunden. Ohne den ersten Wutanfall läge er immer noch im versteckten, abgesperrten Gerätehaus.“

„Oh mein Gott, und ich dachte, er wäre im Haus gefunden worden. Wenn ich es mir auch nicht erklären konnte.“ Susanne bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. „Ich glaube mir wird schlecht“, flüsterte sie fast erstickt. Im nächsten Augenblick fiel ihr Rosis Aufklärung von vorhin ein und sie sagte: „Übrigens, es gab eine ganz einfache Erklärung dafür, dass Herrn Haas‘ Auto fehlte, Rosi hat das eben erzählt, er muss es verkauft haben. Er war also doch zur fraglichen Zeit zuhause. Der von Rosi gehörte Au-Schrei war aktuell.“

„Rosi konnte sich erinnern? Ja, nachdem wir den Toten fanden, passten die Zeiten der Verletzungen auch zeitlich zusammen. Dann ist das also auch mit dem Fahrzeug endlich geklärt, mein Kollege wird aufatmen!“

Glücklicherweise kam Brigitta jetzt mit Helenes Wagen zurück, sie war im Anwaltsbüro gewesen. Erschreckt stellte sie das Fahrzeug ab und kam näher. „Was ist denn hier los?“, fragte sie irritiert. Eine Antwort bekam sie allerdings nicht, denn in dem Moment riss sich Rosi von Frau Ballerts Hand los und kam laut rufend auf Brigitta zu gerannt: „Tante Gitta, holst du mit mir meine anderen Anziehsachen aus meinem Zimmer? Gehst du mit mir? Bitte.“ Ein Nicken der Kommissarin und Brigitta kam der Bitte nach.

Frau Ballert bewegte sich auf die Gruppe zu, ihre bedauernde Handbewegung sagte alles. „Die Kleine wollte unbedingt in den Garten, mit ihrem Papa arbeiten. Da habe ich mich verplappert. Ich wusste ja nicht, dass der Kleinen der Tod ihres Vaters verschwiegen wurde. Tut mir leid.“

Rosi würde einige Zeit brauchen, mit der neuen Situation fertig zu werden. Ihre oft so böse Mutter lebte und ihr lieber Vater war gestorben. Ihre Mutter derzeit unzurechnungsfähig. Doch das wusste Rosi zum Glück nicht, würde wahrscheinlich sowieso nicht verstehen, wie das zu deuten war.

Die Suche nach Spuren, die wegen allgemeiner Verschmutzung ziemlich erschwert gewesen war, führte zu dem Ergebnis, dass möglicherweise Bernhard Haas seine Frau von hinten mit dem Küchenbeil schlug. Ob im Reflex, aus dem Ärger heraus, oder ob er sie eventuell sogar wirklich töten wollte, dies stand in den Sternen. Sie musste ihm dann dieses Beil irgendwie aus der Hand geschlagen haben, vielleicht war es ihm aber auch von der Wucht des Schlages selbst aus der Hand gefallen. Fest stand, es fiel zu Boden. Sie hob es offensichtlich auf und ging damit auf ihn los. Dann war Bernhard Haas anscheinend quer durchs Gestrüpp vor ihr her zu dem Gerätehaus gelaufen. Erst dort musste sie ihn eingeholt und ernsthaft mit dem Beil in den Rumpf getroffen haben. Und entweder schubste sie ihn in den Schuppen hinein oder er war selbst hinein geflüchtet. Jedenfalls konnte nur sie die Türe hinter ihm abgesperrt haben. Vermutlich machte sich erst dann ihre eigene Wunde schmerzlich bemerkbar und sie wollte zurück ins Haus laufen. In der kurzen Zeit musste viel Blut ihre Kleidung durchtränkt haben, bevor überhaupt etwas an die Sträucher gelangen konnte und sie war einer Ohnmacht nahe gewesen. Deshalb verlor sie wohl das Beil und schleppte sich mit letzter Kraft gerade noch so in die Küche, wo sie zusammenbrach und der Länge nach hinschlug. Vermutungen, die so aus den recht schwierig erkennbaren Spuren gedeutet werden konnten. Vermutungen, die endlich nach dem Wissen über den Verkauf des Autos, bis auf geringfügige Kleinigkeiten, zeitlich harmonierten.

Rosi hörte offenbar nur den Au-Schrei ihres Vaters aus dem Garten, stufte ihn zuerst als nichts Besonderes ein, da sie an Streitereien ihrer Eltern gewöhnt war. Erst als es eine Weile sehr ruhig blieb, war sie nachsehen gegangen und entdeckte ihre Mutter blutend und leblos in der Küche liegend. Fand ihren Vater nicht und lief hinaus, wo sie dann auch das Auto vermisste und einfach nur noch schrie.

So musste es gewesen sein und Siglinde Haas hatte sich der gefährlichen Körperverletzung mit Todesfolge strafbar gemacht. Einer Verurteilung würde eventuell ihre eigene Verletzung, für die ihr Mann nicht mehr belangt werden konnte, auf Grund ihrer derzeitigen Lebenslage mildernd entgegenstehen. Ob sie jemals vor Gericht gestellt werden würde, war ohnehin nicht sicher. Derzeit galt sie jedenfalls als verwirrt. Zumindest sah es so aus, dass sie zum Zeitpunkt des Streites und den Tagen danach nicht als zurechnungsfähig gelten konnte. Eigentlich bestanden zurzeit daran keinerlei Zweifel, bedachte man ihre mehrmals wiederholt heraus geschrienen Drohungen gegen ihren Mann. Da man auch inzwischen die verwahrloste Wohnung kannte, konnte ohne weiteres ihr jetziger Zustand schon länger bestanden haben.

Für Susanne, die ihre Unterschrift bereits geleistet hatte, das Kind in ihre Obhut zu nehmen, blieb somit diese Anordnung auch weiterhin bestehen.

Frau Schneider entdeckte etliche Papiere in einer Plastiktüte, unter einem Mantel an der Garderobe hängend, die sie an sich nahm, denn sie hoffte immer noch, endlich einen Hinweis auf weitere Verwandte zu finden. „Vielleicht sollte man das Kind mal nach seinem Großvater fragen, denn von dem Vater der Frau Haas existieren diverse Unterlagen. Können Sie das übernehmen, Frau Schnells?“, fragte sie und übergab Susanne die Schlüssel des Haas-Hauses mit der Erlaubnis, jederzeit Zutritt zum Haus und Grundstück zu haben. Die Untersuchungen am Tatort galten endgültig als abgeschlossen.

Susanne wollte aber das Anwesen, besonders das Haus, nur in Begleitung ihrer Schwägerin oder Freundin betreten. Dieses verwahrloste Haus barg für sie etwas gespenstisches, ja Furcht einflößendes. Sie sagte: „Bestimmt werde ich nicht alleine da hinein gehen. Schon bei dem Gedanken daran, bekomme ich das kalte Grauen. Ich weiß auch nicht warum. Aber wenn meine Schwägerin Kleidung für Rosi holt, gehe ich mit. Ich werde alle Fenster öffnen und die Rollläden auf Luke stellen.“

Die Kommissarin lächelte verständnisvoll. „Ja, das ist hiermit genehmigt. Nehmen Sie mit, wer immer dazu bereit ist.“

Jedoch schon nach wenigen Stunden konnten gemeinsame Überlegungen Susannes Abwehr in dieser Sache weit in den Hintergrund stellen. So holten nämlich die Frauen mit Michaels Hilfe eine Kommode und einen kleinen Schreibtisch, sowie weitere Kleidung, Spielsachen und sogar Geschirr aus dem Haus, eben alles, um was Rosi bat. Nach der Reinigung, die sie alle gemeinsam vornahmen, kam die Kommode in Susannes Zimmer, die Malerei wurde etwas zusammengerückt. Der Schreibtisch fand seinen Platz im Esszimmer. Möglich, dass dieser Umzug überstürzt war. Doch Rosi hatte unter Tränen, beinahe panisch vor Angst, darum gebeten und wie hätte man ihr diese Wünsche derzeit abschlagen können? Sie wollte weg, nur raus aus dem Haus. Es schien, als flüchtete sie vor den Bildern, die sie vor ihrem inneren Auge sah, der im Blut liegenden Mutter und dem toten Vater, was immer sie sich auch bei Letzterem vorstellen mochte. Es war ein Schock für sie alle gewesen, dem Kind hätten sie jede Bitte erfüllt, nichts wäre ihr abgeschlagen worden.

Wie mit der Kommissarin abgesprochen, fragte Susanne Rosi nach ihrem Opa. Aber die Kleine kannte keinen Opa, auch keinen Großvater. War das möglich, erwähnte ihre Mutter nie einen Opa? Rosi war klug, sie wüsste es, wenn es einen gäbe. Rosi, mal abgesehen von der Trauer über den Verlust ihres Vaters, nahm nach dem ersten Schock inzwischen alles sehr ruhig, oder eher altklug auf. So kam eine Äußerung von ihr, die Susanne sehr fragwürdig, mehr noch, überaus erstaunlich fand.

„Das Haus gehört nur Mama und mir!“

Die Frauen waren viel zu verblüfft, um nachzuhaken. Konnte das möglich sein? Stimmte das?

Wenig später sprach Rosi mit Michael darüber: „Wenn Mama stirbt, gehört das Haus mir ganz alleine, hat sie gesagt! Hilfst du mir dann aufräumen und es so sauber und schön machen, wie es bei deiner Mama ist, ja? Micha magst du?“ Rosis Kopf war jetzt völlig klar, erstaunlich klar für eine Fünfjährige! Sie schien genau zu wissen, über was sie sprach. Beredete Siglinde mit dem Kind Dinge, welche normalerweise Erwachsene unter sich erörtern?

Michael schluckte und nickte schweigend, wenn es auch so gut wie nie vorkam, dies verschlug ihm die Sprache.

Und nicht nur ihm.

Unabwendbare Zufälligkeiten

Подняться наверх