Читать книгу Mord auf Antrag - Roland Benito-Krimi 2 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 11

7

Оглавление

Das Schlafzimmer sah genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Das Fenster war offen und die weißen Spitzengardinen wellten sich leicht in der Brise. Undeutlich konnte sie die Spitze des Doms wie einen verschleierten Schatten zwischen den dünnen Gardinen sehen. Eine Fliege saß auf dem Fensterrahmen und putzte ihre Flügel. In der Kirche hatte auf der Rückenlehne der Bank vor ihr auch eine Fliege gesessen, als der Pfarrer schöne Worte über ihre Oma sprach, die mit all den Blumen in dem weißen Sarg lag, als ob sie sich nicht trauen würde, den Kopf zu drehen und sie anzusehen. Es war vorher schon schwer genug gewesen, die Tränen zurückzuhalten.

Die Tür zu dem angrenzenden Wohnzimmer war geschlossen, aber die leisen Stimmen drangen trotzdem hindurch, manchmal ein lautes Lachen, das ihr unpassend und anstößig erschien. Sie knüllte das Taschentuch in ihren Händen fest zusammen. Es war unbenutzt. Als ob keine Tränen mehr übrig wären. Sie hatte jede Nacht geweint, seit sie die Todesnachricht erhalten hatte. Unbemerkt und lautlos, damit Peter es nicht hörte. Er würde nur glauben, dass sie sich immer noch nicht eingewöhnt hätte.

Sie ließ den Blick über die wohlbekannten Dinge im Schlafzimmer schweifen. Jedes Einzelne rief Erinnerungen hervor. In der Wohnung war die Zeit stehengeblieben. Nichts hatte sich verändert, seit sie als Kind alle ihre Ferien hier verbracht hatte. Die Hand glitt wie abwesend über die Bettdecke, die ihre Oma aus weißer Baumwolle gehäkelt hatte. Sie hatte lange an dieser Decke gearbeitet. Und im Bett nebenan – Opas Bett – hatte sie geborgen neben ihrer Oma geschlafen nach langen, spannenden Märchen, die sie in eine Traumwelt mit guten Feen und Prinzessinnen versetzten. Das Foto ihres Großvaters stand auf dem Nachttisch in einem Silberrahmen. Er sah sie milde an, aber sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Er starb, als sie erst zwei war. Aber Oma hatte ihr so viel über ihn erzählt, dass er in ihren Gedanken leibhaftig vor ihr stand. Ihre Brille lag ebenfalls auf dem Nachttisch, als ob sie irgendwann zurückkommen und sie holen würde. Aber Tatsache war, sie würde sie nie wieder brauchen und nie mehr zurückkommen. Ihr Gesicht lächelte hinter dem Glas in einem Rahmen an der Wand beim Fenster. Die alten, klugen Augen sahen sie beinahe entschuldigend an, als ob es ihr leidtäte, sie verlassen zu haben. Sie spürte wieder einen Kloß im Hals. Natürlich hatte Peter Recht damit, dass Elina eine alte Dame geworden war, die in ihrem langen Leben viel erlebt hatte. Aber sie vermisste sie deswegen nicht weniger. Selbst wenn sie in letzter Zeit nicht so oft nach ihr gesehen hatte, nachdem sie mit Peter nach Italien gezogen war, hatte ihr das Wissen, dass sie zu Hause in Dänemark war und sie sie anrufen und mit ihr über alles reden konnte, eine Sicherheit – ein Netz – gegeben, das nun verschwunden war. Als ob ein Band gekappt worden wäre. Ein Band, das etwas bedeutete. Ein Band, das sie auch mit ihrer Mutter verband.

Ihr Blick blieb an einem anderen kleinen Bild auf dem Nachttisch hängen. Sie nahm es und ließ einen Finger über das Gesicht hinter dem Glas gleiten. Außer durch dieses Foto und wenige andere, die es gab, erinnerte sie sich nicht an sie. Jetzt, da sie erwachsen war, konnte sie die Ähnlichkeit mit sich selbst sehen, über die alle anderen sprachen. Das dunkle Haar wellte sich um ein schmales Gesicht und die braunen Augen lächelten. Das Foto war gemacht worden, bevor ihre Mutter krank geworden war. Als der Krebs von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte, war es schnell gegangen. Sie war im Dezember gestorben. In diesem Jahr hatten sie Weihnachten nicht zusammen erlebt. Während sie das Foto betrachtete, schien es ihr, als ob sie sich erinnern könnte. Sich erinnern, wie etwas Wichtiges aus ihrem Leben verschwunden war und an die Einsamkeit, die sie zum ersten Mal erlebt hatte. Dass nichts mehr dasselbe war. Sie stellte das Foto gerade zurück auf den Nachttisch, als sie hörte, wie die Tür zum Schlafzimmer aufging.

»Ach hier steckst du, Sabrina! Sie sind alle gegangen. Jetzt konntest du dich nicht verabschieden.« Ihr Vater setzte sich schwer auf das Bett neben sie, sodass sie gegen ihn fiel, als die Matratze unter seinem Gewicht nachgab. Er legte einen Arm um ihre Schulter und rieb ungeschickt ihren Arm. Sein Blick verweilte kurz auf dem Foto seiner Schwiegermutter an der Wand, aber es lag keine Liebe darin. Sabrina betrachtete sein gequältes Gesicht, die Augen waren nun auf den Boden gerichtet. Es sah aus, als ob er jede einzelne Schlinge in dem bunten, alten Flickenteppich zählte.

»Was ist zwischen dir und Oma passiert?«, fragte sie vorsichtig. »Warum habt ihr euch gehasst? Hat das etwas mit Mama zu tun?«

Gustav Hjort sah in die bekümmerten Augen seiner Tochter. Die auffallende Ähnlichkeit mit ihrer Mutter zu sehen schmerzte ihn. Es war viele Jahre her, seit er Sabrina zuletzt gesehen hatte. Er hatte diese Augen und ihre Mutter fast vergessen, aber jetzt spürte er wieder den bedrückenden Krampf im Bauch und musste sich ein paar Mal räuspern, ehe er antwortete. »Wir haben uns doch nicht gehasst, Sabrina. Das darfst du wirklich nicht glauben.« Er sah wieder auf den Teppich. Ihre braunen Augen irritierten ihn zu stark. Sie hatten die gleiche intensive Glut wie Josefines. Sie konnten ihn auf die gleiche vorwurfsvolle Weise ansehen, wie ihre es getan hatten. Unruhig saß er im Bett, löste den verdammten Schlips und wusste nicht, wie er es erklären sollte. Warum fragte sie nach all den Jahren plötzlich danach?

»Du weißt doch, dass Schwiegermütter manchmal eine Plage sein können, oder? Elina war so eine.« Er versuchte, zu lachen und es wie einen Witz klingen zu lassen, aber das Lachen klang hohl.

Sabrinas Augen wurden noch dunkler und blank. »So war Oma nicht, das weiß ich doch. Wie kannst du gerade heute so etwas über sie sagen!«

Sie stand auf und glättete den schwarzen Rock. Es ärgerte sie, dass sie sich schon wieder mit ihm stritt. Im Flugzeug von Mailand hierher hatte sie sich selbst die ganze Zeit über gesagt, das dürfe nicht passieren, aber warum konnte er ihr nicht einfach eine Antwort geben? Mehr als je zuvor wollte sie wissen, was die Familie gespalten hatte. Was war schiefgelaufen? War es nur, weil Gustav Carola zu bald nach Mamas Tod geheiratet hatte? Sie stand mit verschränkten Armen am Fenster. Die warme Luft roch so anders als die in Mailand, an die sie sich das letzte Jahr zu gewöhnen versucht hatte.

Gustav stellte sich hinter sie und legte vorsichtig die Hände auf ihre Schultern mit einer Bewegung, als ob er glaubte, dies sei eine unwillkommene Geste. »Es ist schön, dich wieder zu Hause zu haben, Sabrina. Selbst wenn die Umstände nicht ...«

Er zog schnell die Hände zurück, als die Tür zum Wohnzimmer aufging und eine schlanke, geschminkte Frau, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, sich suchend umsah, bis sie die beiden am Fenster entdeckte. Die unnatürlich weißen Zähne blitzten in dem sonnengebräunten Gesicht auf. Selbstsicher stöckelte sie mit hohen Absätzen auf sie zu.

»Ich habe dich in der Kirche gar nicht entdeckt, Sabrina. Schön, dich zu sehen. Das mit deiner Oma tut mir natürlich schrecklich leid«, sagte sie mit ihrer leicht rauchigen Stimme, die Männer sicher sexy fanden, und ergriff den Arm ihres Mannes. Zärtlich lehnte sie sich an ihn und musterte sie, als ob es etwas gäbe, das sie gerne ändern wollte. Aber diesen Blick nahm sie ihr nicht länger ab. Sie war daran gewöhnt. Es hatte immer etwas gegeben, das Carola an ihr missfallen hatte. Ihre Kleidung, ihre Haare, ihre Gesichtsfarbe, ihre mollige Figur. Als sie ein Kind war, hatte ihre Stiefmutter versucht, sie in unbequeme, kleine Prinzessinnenkleidchen zu stecken und ihr Schleifen in die Haare zu binden, um ihre Vorstellung eines hübschen Kindes an dem hässlichen Anhängsel von Tochter zu verwirklichen, aber es dauerte nicht lange, bis die Schleifen hingen und das Seidenkleid schmutzig war. Schließlich gab Carola auf und bekam stattdessen jedes Mal, wenn sie sie ansah, diesen Ausdruck in den Augen. Carola und Gustav hatten selbst keine Kinder bekommen. Warum, wusste sie nicht. Über so etwas sprach sie mit ihnen nicht. Ihr Privatleben war für die Umwelt ein verschlossenes Buch. Carola hatte einen Sohn aus einer früheren Ehe mit einem englischen Marineoffizier, aber er war drei Jahre älter als Sabrina und wohnte bei seinem Vater in England, sodass sie ihn nur ein paar Mal getroffen hatte, als sie noch ziemlich klein war. Er war selbst irgendetwas innerhalb der Marine geworden und segelte – soviel sie wusste – mit einer Korvette auf dem Persischen Golf herum.

»Das war wirklich eine schöne Beerdigung«, sagte Carola, als das Schweigen drückend wurde. Gustav legte den Arm um ihre schlanke Taille und Sabrina musste widerwillig einräumen, dass sie ein schönes Paar abgaben, auch wenn beide schon in die Jahre gekommen waren. Sie nickte und spürte wieder die Tränen, die erneut die Oberhand zu gewinnen versuchten, aber sie schluckte und hielt sie zurück. Carola hatte sie noch nie weinen sehen.

»Kommst du mit und isst mit uns?«, fragte Gustav. »Ich bin gespannt darauf zu hören, wie es dir mit dem Italienischen geht.«

»Hast du dich eingelebt?«, unterbrach Carola. »Du hast doch schnell Heimweh bekommen, wenn ich Peter richtig verstanden habe.«

Es ärgerte sie, dass Peter mit Carola über so eine private Sache, dass er überhaupt mit ihr gesprochen hatte, aber sie nickte bloß und strich ihre Haare hinter die Ohren. »Ja, ist schon besser. Die Sprache lerne ich nie, aber ich komm zurecht.«

»Du musst dem Ganzen ein bisschen Zeit geben. Wegen Peter, meine ich. Dieser Job als Produktionsingenieur bei Grundfos ist doch seine große Chance.« Carola lächelte gezwungen und sah schnell zu Gustav. Es war Sabrina klar, dass sie das vorher diskutiert hatten. Ja, das war Peters große Chance. Aber was war mit ihr? Sie vermisste ihren Job im Hospiz Skovdal, von dem sie einen Jahresurlaub genommen hatte, um ihrem Mann zu folgen. Ohne die Sprache zu können war ihre Ausbildung als klinische Ernährungswissenschaftlerin in Italien nicht viel wert, obwohl es in Mailand einige Krankenhäuser gab. Aber jetzt dauerte es glücklicherweise nur noch ein halbes Jahr, bis sie nach Hause nach Dänemark zurückkehrten, wenn Peters Auslandsaufenthalt, Teil eines langfristigen Karriereplans, vorbei sein würde. Sie hätte auch zu Hause bleiben können, aber Peter hatte sich gewünscht, dass sie mitkam. Und eine kleine Pause vom Alltag mit kranken und sterbenden Menschen war zu dem Zeitpunkt nötig. Aber jetzt wünschte sie sich nur, nach Dänemark und zu ihrem Job zurückzukehren, und es hatte keinen Zweifel daran gegeben, dass sie nach Hause reisen würde, um an Elinas Beerdigung teilzunehmen, obwohl Peter nicht mitkommen konnte.

»Ich bin mir sicher, dass Johanne etwas Leckeres für uns gekocht hat. Willst du wirklich nicht, Sabrina? Dann können wir miteinander reden«, versuchte Gustav es erneut und hielt ihren Arm fest, als ob er beabsichtigte, sie gegen ihren Willen mit sich zu ziehen, aber sie schüttelte den Kopf.

»Danke, Papa, aber nein, ich bleib noch ein bisschen hier. Ich habe Emma versprochen, ihr morgen früh zu helfen, die Wohnung auszuräumen. Vielleicht schlafe ich heute Nacht hier.«

»Du musst doch irgendwas essen.« Gustav sah sie bittend an.

Sie hatte schon Lust, mit ihrem Vater zusammen zu sein, aber Carolas Kritik und Vorwürfe wollte sie nicht hören. Nicht heute. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und atmete den Duft seines exklusiven Aftershaves ein, das zweifelsohne von Carola ausgesucht worden war.

»Fahrt ruhig, Papa. Ich bestell mir eine Pizza.«

Carola verzog das Gesicht, sagte aber nichts, als sie sichtlich erleichtert mit ihrem Mann abzog. Im Weggehen warf er ihr einen langen Blick zu, bevor sie die Tür schloss.

Mord auf Antrag - Roland Benito-Krimi 2

Подняться наверх