Читать книгу Mord auf Antrag - Roland Benito-Krimi 2 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 16

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Der Horsens Fjord lag windstill im herbstlichen Sonnenschein. Man konnte das Wasser vom Fenster aus gerade schemenhaft erkennen. Kamilla umklammerte den Kaffeebecher, starrte gedankenverloren hinaus ins Licht und biss vor Nervosität in die Plastikkante. Ein Arzt hatte ihr ein Bett angeboten, damit sie bei ihrer Mutter im Zimmer schlafen konnte, aber man brauchte nicht mal eine Stunde von Egå in das Krankenhaus in Horsens, daher entschied sie sich, jeden Abend heimzufahren und am nächsten Tag wiederzukommen. Jetzt hatte sie Angst, nicht so reagieren zu können, wie man es von ihr erwartete. Der Arzt sah sie seltsam an, als er sie über den kritischen Zustand informierte, dass sie operieren mussten, und konnte offenbar sehen, dass sie bei der Nachricht nichts fühlte. Wie konnte sie ihm erzählen, dass sie ihre Mutter selten sah, ohne wie eine gefühlskalte Tochter zu wirken? Er konnte doch nicht wissen, welches Leben sie gelebt hatten. Es war eine gemeinsame stillschweigende Vereinbarung gewesen, dass sie so wenig wie möglich miteinander zu tun haben wollten. In den letzten Jahren hatte sich ihr Kontakt auf ein paar verbindliche Telefongespräche ab und zu reduziert, die trotzdem keinem von beiden etwas genutzt hatten. Zwischen ihnen hatte es nie Liebe gegeben, und sie wusste auch nicht ganz, was das war, was sie nun fühlte.

Die Krankenschwestern verließen das Einzelzimmer wieder. Die eine legte eine Hand auf ihren Arm und drückte ihn kurz, als sie an ihr vorbeiging. Sie ging hinein und warf den Plastikbecher in den Mülleimer unter dem Waschbecken, bevor sie sich auf den Stuhl neben dem Bett setzte. Ihre Mutter lag immer noch mit geschlossenen Augen da. Ein Morphiumtropf sandte eine schmerzlindernde Flüssigkeit in ihre Adern. Sie betrachtete das Gesicht, das auf dem weißen Kissen so fremd wirkte. Die Frau im Bett war fast unkenntlich und das nicht nur wegen der Bandage um den Kopf und der blauen und lilafarbenen Hämatome im Gesicht nach dem Sturz. Sie war nur Haut und Knochen, und wenn Kamilla es nicht wüsste, würde sie bestreiten, dass ihre Mutter dort lag. In dem großen Bett wirkte sie völlig fehl am Platz. Sie konnte sich nicht erinnern, sie jemals aufgrund einer Krankheit bettlägerig gesehen zu haben. Die Stille, die sie umgab, wirkte nicht ganz echt. Normalerweise predigte sie konstant von dem Familienfluch, dass sie alle einen schmerzvollen Tod sterben würden als Strafe für ihr Handeln in ihrer frühen Jugend, als sie ihr Heim der Inneren Mission an der jütländischen Westküste verlassen hatte, um mit einem Mann, der Kamillas Vater wurde, ein Leben ›in Sünde‹ zu leben. Sie hatte ihnen das Leben zur Hölle gemacht, nachdem sie ihre Handlung bereute, und alles als eine Strafe Gottes sah, weil sie ihren Glauben verraten hatte. Es wurde noch ernster, als Kamillas Vater starb und damit den Fluch bestätigte. Sie nahm die Hand, die auf der Decke lag. Sie war sehnig und schlaff. In ihrem Gedächtnis kramte sie nach guten Erinnerungen und Erlebnissen, die sie mit ihrer Mutter gehabt hatte. Aber es tauchten keine auf. War sie zu hart gewesen? Hätte sie bei ihr sein sollen, statt zu flüchten? Sie hatte selbst Tragödien erlebt, die alles andere überschatteten. Aber war es nicht verkehrt, sich nur mit seiner eigenen Tragödie zu beschäftigen? Vielleicht hatte ihre Mutter Recht. Vielleicht lag wirklich ein Fluch über ihrer Familie. War ihr eigenes Leben nicht ein Beweis dafür? Die Scheidung von Jan. Rasmus, der von einem betrunkenen Fahrer getötet wurde. Danny, in den sie verliebt war und von dem sie dachte, er sollte der Mann in ihrem Leben werden. Sie hasste ihn, wollte ihn nicht lieben. Aber die Gefühle waren zu tief gewesen, um sie einfach loslassen zu können. Jetzt war er mit Majken zusammen. Majken, die immer ihre engste und vertrauenswürdigste Freundin gewesen war – fast eine Schwester. Wenn all das kein Fluch war, was war es dann?

Sie küsste die Hand ihrer Mutter. Nicht einmal ihr Duft rief Erinnerungen hervor. Es könnten genauso gut die Medikamente durch die Haut gedrungen sein, die sie in sie gepumpt hatten. Sie lehnte ihre Wange gegen die fast durchsichtige Haut und schloss die Augen. Als sie hörte, dass die Tür geöffnet wurde, richtete sie sich schnell auf und sah den Arzt an, der zu ihr gekommen war. Er lächelte beruhigend, aber es lag ein Schatten über dem Lächeln, der etwas anderes sagte. Es war ein neuer Arzt, den sie noch nicht gesehen hatte.

»Kamilla Holm?«

Sie nickte.

»Ich würde gerne ein wenig mit Ihnen sprechen«, sagte er gedämpft, als ob ihre Mutter sie hören könnte und nicht durfte.

»Würden Sie mir in mein Büro folgen?«

Sie stand auf und folgte ihm stumm auf den langen Flur. Vor Autoritäten im weißen Kittel oder in Uniform hatte sie immer großen Respekt gehabt.

Das Büro war hell und freundlich mit weichem Nachmittagslicht von einem großen Fenster in Richtung Fjord. Sie setzte sich auf den angebotenen Stuhl. Ihr Herz raste, der Mund wurde trocken. Das Gefühl einer schrecklichen Nachricht lag zitternd in der Luft, und sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, wie sie darauf reagieren müsste.

Der Arzt stellte sich als Karsten Berthelsen vor, obwohl das überflüssig war. Es stand auf seinem Namensschild. Karsten Berthelsen, Chefarzt.

»Kaffee?« Er zeigte auf eine Thermoskanne.

Sie schüttelte den Kopf.

»Es ist kein Automatenkaffee«, sagte er eine Spur zu munter.

»Ich hatte gerade welchen, daher – aber danke.«

Sie faltete die Hände im Schoß, befeuchtete die trockenen Lippen und versuchte, ihm in die Augen zu sehen. Er setzte sich ihr gegenüber und wurde ernst. »Ihre Mutter hat sich bei dem Sturz leider schwere Verletzungen zugezogen«, begann er. »Aber das ist nicht das Schlimmste. Wie Sie sicher wissen, ist der Sturz die Folge einer plötzlich aufgetretenen Hirnblutung. Es ist sehr beunruhigend, dass sie eine ganze Woche nach der Operation noch nicht wieder aufgewacht ist. Sie zeigt überhaupt keine Reaktionen«, fuhr er gedämpft fort und lehnte sich im Stuhl zurück.

Sie könnte natürlich fragen, wie die Chancen standen. Ob es Hoffnung gab. Würde sie gelähmt und hilflos werden, und wer sollte sich dann um sie kümmern? Oder wurde sie ein lebender Leichnam, der von einer Maschine am Leben gehalten wurde? Aber sie traute sich nicht. Hatte vor den Antworten genauso große Angst wie davor, die Fragen zu stellen.

»Was machen Sie jetzt mit ihr?«

Karsten Berthelsen schaute in die Krankengeschichte vor sich und schüttelte mutlos den Kopf. »Das Einzige, was wir jetzt für Ihre Mutter tun können, ist, sie mit Morphium schmerzfrei zu halten.«

Kamilla nickte.

»Aber es besteht das Risiko, dass Ihre Mutter die Dosis, die wir ihr geben müssen, nicht verkraftet.«

Sie sah ihn verständnislos an. »Wollen Sie damit sagen, sie kann ...?«

Er nickte. »Ich muss Sie diesbezüglich nach ihrer Meinung fragen. Gibt es andere Angehörige?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie könnte Jan anrufen, es war trotz allem seine frühere Schwiegermutter, obwohl die beiden sich nie ausstehen konnten. Gerade hatte sie nur das Bedürfnis, jemanden bei sich zu haben, dessen Hand sie drücken oder an den sie sich klammern konnte, damit sie nicht – wie immer – mit allem allein war. Es war fast egal wer, selbst Jan. Aber er würde sowieso nicht kommen, selbst wenn sie ihn darum bat. Er und Nina hatten ihr nie verziehen, dass sie ein Verhältnis mit Rasmus’ Mörder gehabt hatte, obwohl sie damals nicht wusste, wer er war, und Danny nicht länger sah. Das konnte sie sich selbst auch nicht vergeben. Außerdem hatten sie selbst einen kleinen Jungen, um den sie sich kümmerten. Er war knapp zwei Jahre alt. Sie hatte gehört, dass sie ihn Rasmus genannt hatten, nach Jans erstem Sohn. Als sie das hörte, hatte es sie durchbohrt, als ob ein Messer in einer Wunde herumgedreht wird.

»Meine Meinung?« Sie sah starr auf den Tisch, ohne zu wissen, was ihre Meinung war. »Gibt es keine anderen Möglichkeiten, als ...?«

Der Arzt schüttelte den Kopf und blätterte in der Krankengeschichte. »Ich sehe, dass Ihre Mutter erst sechsundfünfzig ist. Das ist natürlich noch jung. Aber in was für ein Leben kehrt sie zurück – falls sie zurückkehrt?«

Kamilla spürte seinen Blick auf ihr. Sie schaute auf ihre Hände, die zitterten und eiskalt waren. Sechsundfünfzig. Sie hatte nie über das Alter ihrer Mutter nachgedacht, sie hatte immer alt ausgesehen. Aber sie war tatsächlich erst neunzehn gewesen, als sie selbst auf die Welt kam.

»Ich kann nur wiederholen, das Beste, was wir für sie tun können, ist, sie schmerzfrei zu halten.«

»Sie wissen am besten, was zu tun ist«, murmelte sie und wollte einfach nur so schnell wie möglich raus aus dem Büro. Raus aus dem Krankenhaus.

Der Chefarzt erhob sich und steckte den Kugelschreiber in die Brusttasche.

»Sie dürfen natürlich gerne bleiben, aber leider ist keine Besserung in Sicht. Wir können anrufen, wenn ...« Er ließ den Satz in der Luft hängen.

Sie stand auf und schüttelte seine entgegengestreckte Hand; sie war weich und warm, aber der Händedruck war schwach, und er zog seine Hand schnell wieder zurück, als ob er nicht mit irgendetwas angesteckt werden wollte. Er folgte ihr zur Tür.

»Es tut mir sehr leid, dass wir nicht mehr tun können«, sagte er hinter ihr, als sie auf den Krankenhausflur trat. Die Absätze der Stiefel auf dem Boden hallten von den kahlen Wänden wieder.

Sie ging zurück in das Einzelzimmer. Ihre Mutter lag noch genauso da wie vorher. Ihre Atmung war ruhig und gleichmäßig, als ob sie schliefe. Kamilla zog ihren Mantel an, beugte sich übers Bett und gab ihr einen Kuss auf die warme Stirn. Das Morphium lief langsam durch einen Schlauch neben ihr.

Die Tränen kamen im Auto auf dem Nachhauseweg, aber sie wusste nicht, warum. Es fühlte sich nicht an wie Trauer, sondern wie Hoffnungslosigkeit.

Es war angenehm, den vertrauten Geruch im Haus wahrzunehmen, als sie aufschloss und in die Wärme trat. Der Duft ihres eigenen Hauses und nicht die gemischten Krankenhausgerüche von weiß Gott was. Sie streifte den Mantel ab und warf ihn oben auf die Garderobenhaken. Im Kühlschrank fand sie ein paar kalte Reste von gestern, die sie aß, während sie den Anrufbeantworter abhörte und nach dem Frühstück ein bisschen aufräumte. Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit hatte sich wie eine Zecke festgebissen.

Sie war lange nicht dort gewesen, aber nun öffnete sie die Tür zu Rasmus’ Zimmer und ging vorsichtig hinein, ohne Licht anzumachen, als ob er in seinem Bett liegen und schlafen würde und sie ihn nicht wecken wollte. Die Tür knarrte leicht, wie damals schon. Sie konnte immer hören, wenn er nachts rausschlich, um auf die Toilette zu gehen oder sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen. Das Zimmer war nun ausgeräumt. Majken hatte ihr dabei geholfen. Genau genommen war sie es gewesen, die gesagt hatte, dass es nun sein sollte. Das Einzige, was noch dastand, war ein Fußballpokal, der vom Staub matt war, und ein Silberrahmen mit dem letzten Foto, das von ihm gemacht worden war. Sie erschrak vor ihrem eigenen Spiegelbild in der Fensterscheibe – wie eine andere Person, die draußen allein in der Kälte und Dunkelheit stand und zusammensank. Ganz allein – wie sie selbst. Sollte ihre Mutter jetzt auch sterben? Falls sie es tat, war niemand mehr da, obwohl sie so gesehen physisch nie da gewesen war. Natürlich gab es irgendwo noch Familie. Zahlreiche Familienmitglieder. Aber sie kannte sie nicht, hatte nie von ihnen gehört. Oma, Opa, Tanten, Onkel – und wer da sonst noch gewesen war. Zum Teufel mit ihr und ihrem Egoismus, dachte sie. Jetzt brauchte sie die wirklich.

Mit ihren Ärmeln wischte sie den Staub von dem Pokal. Das Datum kam zum Vorschein. 7. August 2003. Sie sah Rasmus vor sich – sieben Jahre alt, in seinem gestreiften Fußballtrikot und viel zu großen Shorts, voller Eifer, ein richtiges Spiel zu spielen und versessen darauf, zu gewinnen. Sie hatte ihn und seine Mannschaftskameraden zu dem Spiel gefahren. Hinten auf dem Rücksitz hatten sie wie Brian Laudrup und Ulrik Wilbek geklungen. Mit einem kleinen Lächeln hatte sie sie im Rückspiegel im Auge behalten. Auf dem Platz hatten sie wie Profis gespielt. Sich in simulierten Krämpfen im Gras gewälzt, bis sie gegen das Schienbein getreten wurden, wie sie es im Fernsehen gesehen hatten. Und natürlich wollte die Begeisterung kein Ende nehmen, als sie den Pokal gewannen. Das Einzige, was die Freude ein bisschen getrübt hatte, war, dass sein Vater nicht aufgetaucht war. Er rief abends an, aber das war nicht das Gleiche. Er hatte Rasmus an diesem Tag gefehlt. Auch an diesem Tag. Sie stellte den Pokal zurück aufs Regal und schloss die Tür hinter sich.

Tarzan schlief auf der Bettdecke im Schlafzimmer. Sie legte sich neben ihn und schnupperte an dem warmen Fell, das ein bisschen nach ihrem eigenen Parfüm roch. Sofort startete der kleine, knirschende Motor in seinem Bauch. Er streckte sich mit Wohlbehagen und drehte den Kopf in eine einschmeichelnde Position, Schnauze und Schnurrhaare in der Luft. Sie brachte es nicht übers Herz, ihn zu verjagen, um ins Bett zu kommen, und kraulte ihm den Bauch, während sie dem beruhigenden Schnurren lauschte und in die Dunkelheit starrte.

Sie musste eingeschlafen sein und wachte davon auf, dass die Katze weg war. Ihr warmes Kissen war verschwunden, und sie fror. Sie hatte mithilfe des Nachbarn eine Katzenklappe in die Tür der Waschküche gemacht, damit Tarzan kommen und gehen konnte, wann er wollte. Ein Nachttier war natürlich jetzt aktiv. Sie wurde zugunsten einer Maus verlassen.

Langsam zog sie ihre Schlafsachen an, hatte nicht mehr die Energie für ein Bad und der Schlaf übermannte sie, sobald ihr Kopf das Kissen berührte.

Die Nachricht kam am nächsten Morgen in Form eines Anrufs, der sie früh am Morgen nach einem tiefen und traumlosen Schlaf jäh wachrüttelte.

»Ihre Mutter ist leider im Laufe der Nacht eingeschlafen, still und friedlich.«

Der Krampf im Magen nahm ihr die Luft. Sie lief ins Badezimmer und übergab sich in die Toilette.

Mord auf Antrag - Roland Benito-Krimi 2

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