Читать книгу Mord auf Antrag - Roland Benito-Krimi 2 - Inger Gammelgaard Madsen - Страница 15

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Sie waren so gut wie durch. Es war Spätnachmittag, und mit kleinen Pausen hatten sie zusammengenommen gut und gerne einen Tag gebraucht, um die Wohnung zu räumen. Ganz schöne Mengen, die man so im Laufe eines langen Lebens aufbewahrt, dachte sie mehrmals. Sie stand auf und strich die Haare zurück. Ihr Rücken tat weh von der ungewohnten Haltung, in der sie bei den Küchenschränken gesessen hatte, um sie auszuräumen. Die Wohnung war schon wieder vermietet und der neue Mieter zog am Ersten ein, sodass alles draußen sein musste, damit gestrichen werden konnte. Elina hatte hier viele Jahre gewohnt, und Instandhaltung hatte es nicht viel gegeben, daher war es wirklich nötig.

Emma schleppte außer Atem einige Pappkartons. »Stell dir vor, dass sie so alte Briefe aufgehoben hat«, seufzte sie. »Auf dem obersten Umschlag ist ein Poststempel von 1983.« Sie ließ die Kartons auf den Stapel mit den anderen fallen, die nach unten in den Abfallcontainer getragen werden sollten.

»Willst du die wegschmeißen?«, fragte Sabrina ungläubig und schleppte ihren Karton mit alten, abgenutzten Töpfen und Pfannen ebenfalls zum Stapel. Mit einem schabenden Geräusch zog sie ihn über den Boden.

»Was willst du sonst damit?« Emma sah auf ihre Armbanduhr und zog ihre Bluse runter, die über dem runden Hinterteil hochgerutscht war.

»Fahr ruhig, Emma. Ich kümmer mich schon um den Rest.«

Sie lächelte dankbar. »Meinst du das ernst? Es ist wohl auch besser, wenn ich am Wochenende heimkomme. Kaj hat mehrfach angerufen. Ich fehle ihm sicher auf dem Hof. Es würde mich nicht wundern, wenn er nichts anderes als das Essen bekommen hat, das ich ihm vorbereitet habe, bevor ich weggefahren bin.«

Sabrina bedankte sich für die Hilfe und winkte vom Fenster aus, als Emma, die sich mit ihrer großen Reisetasche abmühte, in Richtung ihres im Hinterhof geparkten Autos verschwand. Traurig drehte sie sich zu der leeren Wohnung und den Kartons im Eingangsbereich um. Es war keine Spur mehr von Elina da. Die Wände waren kahl und die Möbel waren gestern Nachmittag abgeholt worden. Diesen Teil hatte Gustav organisiert. Die meisten waren wohl auf der Mülldeponie verbrannt worden. Sie wollten nichts von dem ›alten Gerümpel‹, wie Carola es genannt hatte. In einem der Kartons hatte sie die Dinge, die ihr etwas bedeuteten, als Erinnerung gesammelt. Emmas Auto war ebenfalls mit Dingen vollgeladen, die für sie von Bedeutung waren. Es gab nur die beiden, um die Sachen aufzuteilen. Elina hatte kein Geld hinterlassen, nur ein paar Schulden, die mit dem Nachlass verrechnet werden würden.

Sie setzte sich auf den Boden neben den Pappkarton mit den alten Briefen. Emma hatte Recht, warum sollte man Briefe aufheben, die fünfundzwanzig Jahre alt waren? Sie nahm den ersten Brief und las den Absender. Er war in einer engen Handschrift geschrieben, die schwer zu lesen war. Sie deutete ihn als Louise Engtoft. Es war keine Adresse angegeben. Vorsichtig öffnete sie den Umschlag, als ob er so alt wäre, dass er zerbröseln könnte.

Mai 1983

Liebe Elina,

ich schreibe, weil ich dir gern erzählen möchte, welche Verbesserung es bei Josefine gab wegen der Behandlung, die wir im Augenblick versuchen. Heute konnte sie, gestützt von mir, mit raus in das wunderbare Frühlingswetter kommen. Die frische Luft machte sie so klar, dass sie genug Energie hatte, ein bisschen mit ihrem kleinen Mädchen dazusitzen und ihm etwas über die Vogelstimmen zu erzählen. Ich war beeindruckt, wie viele sie kannte. Obwohl Josefine schnell müde wird und wieder ins Bett will, gab es große Fortschritte.

Doktor Winther ist auch sehr optimistisch und sagt, dass etwas darauf hindeutet, dass die Behandlung ihr etwas nützt. Vielleicht haben sie wirklich ein Mittel gegen Krebs gefunden. Wir können doch immer hoffen. Ich fand, das solltest du wissen. Als du letztes Mal hier warst, hast du so resigniert gewirkt. Dazu gibt es überhaupt keinen Grund. Alles wird wohl wieder gut werden.

Liebe Grüße, Louise

Sabrinas Herz klopfte heftig, als sie den Brief zusammenfaltete und ihn zurück in den Umschlag schob. Louise musste die Krankenpflegerin ihrer Mutter gewesen sein und das kleine Mädchen sie selbst. Bei der Vorstellung des Mädchens auf dem Schoß seiner Mutter in einem sonnendurchfluteten Garten mit frischen Blättern an den Bäumen um sie herum und den fröhlichen Vogelstimmen kamen ihr die Tränen. Sie hatten wohl auf der Gartenbank gesessen, neben dem Vogelbad aus Granit ganz am Ende des Gartens mit Blick aufs Haus, an das sie sich nur anhand der paar Bilder im Fotoalbum erinnerte. Aber sie spürte ein warmes Gefühl im Inneren, wenn sie sie sah. Das musste bedeuten, dass sie in diesem Zuhause fröhlich und geborgen gewesen war – bis zu dem Zeitpunkt, als Carola kurz nach Josefines Tod dort einzog. Danach wohnten sie nur noch ein paar Wochen dort, dann hatte Carola eine teure und protzige Villa am Strandweg gefunden, und obwohl sie weinte und nicht mit in das große Haus ohne Gemütlichkeit und Erinnerungen ziehen wollte, gab es kein Erbarmen, weder von ihrem Vater noch von Carola. Damals fing es auch mit den schicken Kleidchen und den Schleifen im Haar an. Die Kinder vom Strandweg sollten aussehen wie – Kinder vom Strandweg.

Plötzlich fror sie und stand auf, um das gekippte Fenster zu schließen. Wenn die Sonne verschwand, war die Jahreszeit deutlicher spürbar. Sie betrachtete eine Mutter, die ihr Baby aus einem Kinderwagen im Hinterhof hereinholte. Der Brief hatte alte Wunden aufgerissen. Auf einmal erinnerte sie sich an Kleinigkeiten aus ihrer Kindheit, die sie längst hinter sich gelassen hatte – dachte sie. Die Angst, die sie in dem großen Haus erlebt hatte in den dunklen Nächten allein im Kinderzimmer, in dem es sonst an nichts fehlte – außer an Geborgenheit. Carolas kritische Blicke auf die dicke Stieftochter, die durch Frustessen nur noch dicker wurde.

Geld bekam sie genug und der Bäcker lag auf dem Weg zur Schule. Sie sah sich wieder als Kind, wie sie nach der Schule in ihrem schicken Kleid auf einem großen Stein am Wasser saß und Kuchen aß. Der Serotoninspiegel in ihrem Gehirn stieg und sie beruhigte sich. Heute wusste sie, dass das passiert war. Während ihrer Ausbildung zur Ernährungsberaterin hatte sie viel über Botenstoffe im Gehirn gelesen und wusste nun, dass süße Sachen die Produktion von Serotonin erhöhen, das als Trost und Belohnung wirkt. Paradoxerweise der gleiche Stoff, der bei Bewegung ausgeschüttet wurde. Aber für ein Kind sind Süßigkeiten und süße Sachen eine leichtere Lösung, um sich besser zu fühlen – um den Glücksrausch zu finden, den das Leben verwehrt. Sie war ein unglückliches Kind. Aber warum tauchten nur die schlechten Erinnerungen auf? War sie einfach zu klein gewesen, um sich an die guten zu erinnern? Sie setzte sich wieder auf den Pappkarton und nahm den nächsten Brief. Er war aus demselben Jahr, aber einen Monat später.

Juni 1983

Liebe Elina,

danke für deinen Brief und den Besuch neulich. Josefine hat sich sehr gefreut, dich zu sehen. Sie spricht oft über dich und vermisst dich. Gustav ist ja nicht so viel zu Hause, er arbeitet oft bis spät in den Abend, daher bleibe ich ein bisschen länger bei ihr und helfe in der Regel dabei, die Kleine ins Bett zu bringen. Aber sie ist so brav, sie schläft fast immer sofort ein, ohne groß Unsinn zu machen. Ich weiß, du hast Recht, wenn du sagst, ich darf keine zu starke Bindung zu Josefine und dem Kind aufbauen, aber wie kann man anders? Mein eigener Sohn ist dabei, groß zu werden, daher ist es schön, mit dem kleinen Mädchen zu toben. Es geht immer noch bergauf. Doktor Winther ist ganz optimistisch geworden. Obwohl manche Ärzte gesagt haben, dass es keine Hoffnung gibt, dürfen wir nicht aufgeben.

Liebe Grüße, Louise

Sobald der Brief zusammengefaltet und zurück in den Umschlag gesteckt war, nahm sie den nächsten. Ihre Hände zitterten ahnungsvoll, als sie ihn aus dem Umschlag nahm.

November 1983

Liebe Elina,

als du letztes Mal hier warst, konnten wir uns ja nicht unterhalten. Aber ich hörte, dass du dich mit Gustav strittest. Es kann sich nicht lohnen zu versuchen, ihm das auszureden. Ich habe es selbst versucht. Ich weiß nicht, was zwischen ihm und Doktor Winther vorgefallen ist, aber es muss ernst gewesen sein. Ich werde dich nächste Woche besuchen, wenn ich hier fertig bin, dann können wir gemeinsam überlegen, was wir machen können.

Liebe Grüße, Louise

Dieses Mal legte sie den Brief nicht in den Umschlag zurück, bevor sie den nächsten herausholte. Alle Briefe waren von dieser Louise Engtoft, sie erkannte die Schrift wieder. Warum hatte Elina nie etwas von ihr erzählt? Warum hatte sie nie etwas von diesen Briefen gesagt, die so viel über ihre Mutter berichteten? Nach diesem Wissen hatte sie immer gesucht. Irgendetwas sagte ihr, dass es vielleicht nicht gut für sie wäre, sie zu lesen, aber der Drang, mehr zu wissen, vertrieb den Gedanken schnell. In diesem Karton fand sie die Wahrheit. Davon war sie plötzlich überzeugt.

Mord auf Antrag - Roland Benito-Krimi 2

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