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4. Gerechtigkeit als Fairness: die zugrundeliegende Zeitdiagnose

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Die bisherige Analyse hat ergeben, wie problemgesteuert die Rawlssche Theoriekomposition ist und dass diese Problemsteuerung sich in besonderem Maße einer sozialwissenschaftlichen Perspektive verdankt.[15] Vor diesem Hintergrund sind die neueren Schriften von John Rawls gerade deshalb so bedeutend (und folgenreich), |15|weil sie den gesellschaftstheoretischen Problemaufriss seiner Gerechtigkeitskonzeption noch radikaler nuancieren. Neben das Positivsummenparadigma tritt – mit gleichem methodischen Stellenwert! – das ‚Faktum des (vernünftigen) Pluralismus‘, die Einsicht, dass in einer modernen Gesellschaft der Wertekonsens unwiderruflich verloren ist, dass es Meinungsverschiedenheiten gibt, die sich nicht vernünftig auflösen lassen. Nimmt man dies als eine unhintergehbare gesellschaftliche Bedingung, als eine Restriktion, der die Gesellschaftstheorie prinzipiell nicht entkommen kann, dann stellt sich die Frage, wie unter dieser Bedingung das Programm der Gerechtigkeitstheorie noch zur Geltung kommen kann, das Programm nämlich, für die moderne Demokratie eine Gerechtigkeitskonzeption zu entwickeln, anhand deren die Menschen ihre politische (Selbst-)Verständigung entwickeln können; das Programm, einen Basiskonsens zu finden und zu formulieren, der es ermöglicht, die Konflikthaltigkeit der modernen Gesellschaft zu entschärfen und mit dieser Befriedung zugleich die Möglichkeit zu eröffnen, die Politikprobleme konstruktiv anzugehen. Die Antwort, die John Rawls in seinen neueren Schriften auf diese Frage zu geben versucht, besteht in einem radikalisierten Minimalismus, der die inhaltlichen und methodischen Eigenschaften seines Ansatzes noch stärker hervortreten lässt.

Als Ausgangspunkt seiner neueren Schriften wählt Rawls (1992; S. 298f. und 1993; S. XXII ff.) eine Diagnose der Moderne: Seit der Reformation und der sich an sie anschließenden Religionskriege haben westliche Gesellschaften gelernt, dass ein friedliches Zusammenleben verschiedener Religionsgemeinschaften innerhalb ein und derselben Gesellschaft (nur) aufgrund von Toleranz zustandekommen kann. Die historische Erfahrung lautet: Soziale Integration ist möglich, auch wenn sie nicht durch eine einheitliche Konzeption des Guten geleistet wird. Von dieser Erfahrung ist das Institutionensystem demokratisch verfasster Marktwirtschaften westlichen Typs aufgrund einer nunmehr jahrhundertealten Tradition der Toleranzausweitung durchdrungen, in deren Verlauf immer mehr zur Privatsache erklärt werden konnte, was zuvor als eine Frage der Staatsräson erschienen war. Die Folge ist eine zunehmende ‚Frei-Setzung‘: die Etablierung von Religionsfreiheit, Gedankenfreiheit, Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit, aber schließlich auch die Etablierung von Gewerbefreiheit und Wettbewerbsfreiheit im wirtschaftlichen und die Etablierung von freien Wahlen im politischen Bereich. Die Geschichte der westlichen Zivilisation ist eine Geschichte gesellschaftlicher Integration bei gleichzeitig zunehmender Pluralisierung, und zwar einer Integration, die nicht intentional, über einheitliche Zielhierarchien, sondern institutionell, über einheitliche Mittelbegrenzungen, erfolgt. Moderne Gesellschaften sind nicht wertintegriert, sondern regelintegriert – mit gravierenden Folgen für das Problem gesellschaftlicher Stabilität.

Keine Gesellschaft kann auf Dauer bestehen, wenn sie nicht zumindest von der übergroßen Mehrheit ihrer politisch aktiven Bevölkerung innerlich akzeptiert und getragen wird. Hierfür ist ein Basiskonsens erforderlich. In einer wertintegrierten Gesellschaft muss sich ein solcher Konsens auf die konkreten Werte beziehen, die zu einer für die gesamte Gesellschaft einheitlichen und verbindlichen Konzeption des Guten zusammengefügt sind. In einer regelintegrierten Gesellschaft sind die Konsensanforderungen anders gelagert. Hier müssen die Bürger hinsichtlich der institutionellen Grundstrukturen eine Übereinstimmung |16|erzielen, damit ihre Gesellschaft dauerhaft funktionsfähig bleibt. Ein solcher Basiskonsens ist unabhängig von den jeweiligen Konzeptionen des Guten, die die Bürger einer pluralistischen Gesellschaft vertreten, und die neueren Schriften von John Rawls, in denen seine liberale Gerechtigkeitstheorie zu einem politischen Liberalismus weiterentwickelt wird, verstehen sich als ein Identifikationsangebot für einen solchen Basiskonsens.

Für ein dem politischen Liberalismus angemessenes Verständnis von ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ hat dies einschneidende Folgen methodischer und inhaltlicher Art: Zum einen bemüht sich Rawls, im Rahmen seines Ansatzes all jene Fragen auszusparen, über die eine vernünftige Einigung auf absehbare Zeit nicht zu erwarten ist. Diese „Methode der Vermeidung“ – so Rawls (1992; S. 265) – zieht nicht nur die Einführung neuer und in zahlreichen Fällen die Modifikation alter Konzepte nach sich[16], sie zwingt auch zu einer Präzisierung in bezug auf den theoretischen Status der Rawlsschen Philosophie, die sich selbst nicht länger als moralische, sondern als dezidiert politische Philosophie versteht und ihre Fragen so konzeptualisiert, dass die Antworten nicht epistemologischer, sondern praktischer Natur sind. Pointiert zugespitzt, geht es im Rawlsschen Ansatz nicht um Erkenntnis, sondern um Anerkennung, nicht um Wahrheit, sondern um Konsens, nicht um Metaphysik, sondern um eine öffentliche, politische Aufgabe (Rawls, 1992; S. 263f.). Zum anderen ist es genau diese Aufgabenzuschreibung, die auch zu inhaltlichen Neubestimmungen führt: Rawls (1993; S. XXI) macht darauf aufmerksam, dass seine neueren Schriften die Einsicht in das Faktum des Pluralismus nicht aus der Philosophie heraus entwickeln, sondern vielmehr umgekehrt in die Philosophie hineintragen. Der wesentliche Impuls für die Weiterentwicklung seines Ansatzes ist folglich gesellschaftstheoretischer Natur. Durch die sozialwissenschaftlich inspirierte Diagnose der Moderne gewinnt Rawls einen heuristischen Zugriff, der das Problem seines Ansatzes neu bestimmt und zugleich die Kriterien angibt, an denen sich die problemgesteuerten Theoriebildungsentscheidungen zu orientieren haben. Insofern ist es ein Kennzeichen methodischer Konsistenz, dass sich die präzisierte Aufgabenzuweisung an die politische Philosophie in neuen Inhalten niederschlägt. Wie dies geschieht, lässt sich am besten dadurch veranschaulichen, dass Rawls zwei Stabilitätsbegriffe einführt. Der erste Stabilitätsbegriff bezieht sich auf die Gerechtigkeitskonzeption, der zweite auf die Gesellschaft.

Rawls führt das Faktum des Pluralismus nicht auf der ersten Ebene, der Ebene des Urzustands, ein, sondern erst auf der zweiten Ebene, der Ebene einer wohlgeordneten Gesellschaft. Die Unhintergehbarkeit vernünftiger Meinungsverschiedenheiten ist also nicht den Parteien, wohl aber den fiktiven Bürgern seiner Gerechtigkeitskonzeption bekannt, und sie bildet für diese Bürger – so der |17|Anspruch (Rawls, 1992; S. 341ff.) – einen zusätzlichen Grund, die aus dem Urzustand abgeleiteten Gerechtigkeitsgrundsätze zu akzeptieren, denn die solchermaßen explizierte Vorstellung von Gerechtigkeit ist von konfligierenden Konzeptionen des Guten nicht nur unabhängig – also selbst von unterschiedlichen Standpunkten aus konsensfähig –, sondern sie stellt darüber hinaus Bedingungen her, die der Ausbildung eigener Konzeptionen des Guten ausgesprochen förderlich sind. Insofern kann sie auf die Loyalität der Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft hoffen. Diese Loyalität, durch die der Gerechtigkeitssinn der Bürger sich selbst verstärkt, also quasi ‚self-enforcing‘ wird, speist sich aus der Einsicht in die Leistungen einer liberalen Gerechtigkeitskonzeption, die gerade durch diese Anerkennung an Stabilität gewinnt (Rawls, 1992; S. 327 und 350ff.).[17]

Rawls nimmt in Anspruch, dass nur eine Gerechtigkeitskonzeption, die in diesem Sinne stabil ist, ihrer „sozialen Aufgabe“ – so Rawls (1992; S. 142) – nachkommen kann, zur Stabilität einer modernen Gesellschaft beizutragen, und zwar dadurch beizutragen, dass sie ein dem Pluralismus angemessenes – und in der gesellschaftlichen Tradition bereits angelegtes – Verständnis von Gleichheit und Freiheit vorstellt, auf diese Weise den Bürgern eine gemeinsame öffentliche Basis für eine Verständigung über die Gerechtigkeit ihrer Institutionen bietet und so schließlich selbst Bestandteil der öffentlichen Kultur wird. Dahinter steckt der Gedanke, dass Bürger, die in einer Gesellschaft leben, die ihren Gerechtigkeitssinn stärkt, mit der Zeit nicht nur eine Loyalität gegenüber den Gerechtigkeitsgrundsätzen, sondern auch gegenüber den Institutionen entwickeln, auf die sich solche Grundsätze beziehen. Das kann man sich wie folgt vorstellen: Rawls klinkt seine Gerechtigkeitskonzeption in die bereits laufenden politischen Gerechtigkeitsdiskurse der demokratischen Öffentlichkeit ein. Er nimmt die in den grundlegenden Institutionen als bereits vorhanden unterstellten Intuitionen auf; sie sind gleichsam der Input seiner Theorie. Diese Intuitionen werden in der Theorie rationalisiert und zu einer Vorstellung von „Gerechtigkeit als Fairness“ verarbeitet; sie ist gleichsam der theoretische Output, und dieser wird an die Öffentlichkeit zurückgegeben, also wieder in die Diskurse eingespeist. Das Motto könnte lauten: Aus der Praxis für die Praxis, und mit zunehmender Resonanz wird Rawls’ wissenschaftlicher Beitrag selbst Teil der politischen Praxis moderner Gesellschaften. Inhaltlich hat dies drei gravierende Folgen. Erstens: Aufgrund der minimalen Voraussetzungen, auf denen seine sich selbst stabilisierende Gerechtigkeitskonzeption beruht, sieht Rawls das Ideal einer wohlgeordneten Gesellschaft als im Bereich des Möglichen angesiedelt. Nach den neueren Theorieanpassungen gilt sie ihm nicht länger als eine Utopie, als ein realitätsfernes Ideal, sondern als eine regulative Idee, die in der Realität einen Ort finden (und anweisen) kann.[18] Zweitens: Als Bestandteil der öffentlichen Kultur kann – so Rawls (1992; S. 314, insbes. Fn. 23) – seine Gerechtigkeitskonzeption die stabilisierende Funktion |18|erfüllen, die historisch kontingente Entwicklung zum liberalen Verfassungsstaat als eine zivilisatorische Errungenschaft festzuschreiben und Sicherungen einzuführen, die es unmöglich oder zumindest unwahrscheinlich machen, hinter den einmal erreichten Standard zurückzufallen. Die durch die Gerechtigkeitsgrundsätze garantierten Grundfreiheiten werden von der politischen Tagesordnung genommen, sie sind dem tagespolitischen Diskurs entzogen und gelten schließlich als selbst-verständlich und also unabänderlich. Ein historisch kontingenter Zustand wird so auf Dauer gestellt, ein bloßer modus vivendi in einen übergreifenden Konsens transformiert und dadurch nachhaltig abgesichert.[19] Drittens: Der Stellenwert, den die neueren Schriften dem Faktum des Pluralismus einräumen, führt zu einem neuen Verständnis des Liberalismus, hinsichtlich dessen sich Rawls von so wichtigen Vorgängern wie Kant und Mill unterscheidet: Für Rawls (1992; S. 284) ist der Liberalismus als politischer Liberalismus nicht mehr ein „umfassendes Ideal“, insbesondere ist er nicht auf bestimmte Ideale wie etwa Autonomie oder Individualität festgelegt:

„Das Fehlen einer Festlegung auf diese Ideale und ebenso auf jedes besondere umfassende Ideal ist wesentlich für den Liberalismus als einer politischen Lehre. Dies hat seinen Grund darin, dass jedes solche Ideal, wenn es als umfassendes Ideal verfolgt wird, mit anderen Konzeptionen des Guten und mit Formen des persönlichen, moralischen oder religiösen Lebens unvereinbar ist, die mit der Gerechtigkeit verträglich sind und die daher ihren Platz in einer demokratischen Gesellschaft haben.“

Nach dem Ende des Kalten Krieges ist dies ein für die nunmehr anstehende Liberalismusdiskussion wegweisender Gedanke: Nach dem Ausfall des Sozialismus als einer ernstzunehmenden politischen Konzeption eröffnet sich die Möglichkeit, den Liberalismus nicht länger „als eine weitere sektiererische Lehre“ – so Rawls (1992; S. 185) – aufzufassen, sondern als eine Referenzposition, die quasi ‚über‘ den konfligierenden Idealen steht, deren Streit schlichtet und so in besonderer Weise zur Befriedung und konstruktiven Wendung demokratischer Politikprozesse beiträgt.[20]

Vor diesem Hintergrund lässt sich der Ansatz von John Rawls einstufen als der Versuch, ein liberales (Selbst-)Verständnis der modernen Demokratie auf der Höhe der Zeit und ihrer Probleme zu formulieren. So betrachtet, handelt es sich um eines der anspruchsvollsten und interessantesten Gesprächsangebote, die den Sozialwissenschaften von Seiten der Philosophie im 20. Jahrhundert unterbreitet worden sind. Es gibt gute Gründe, sich auf ein solches Angebot einzulassen und eine Verständigung auch über Fachgrenzen hinweg zu (ver-)suchen: Gerade die Innovationen, die neuen inhaltlichen und methodischen Akzentsetzungen, die den Rawlsschen Ansatz für die Sozialwissenschaften so anschlussfähig machen, erfordern eine interdisziplinär ausgerichtete Forschungsdiskussion, um die in |19|diesen theoretischen Neuerungen liegende Herausforderung konstruktiv einordnen, angemessene Interpretationsmuster bereitstellen und insbesondere die zur Evaluierung des gesellschaftstheoretischen und gesellschaftspolitischen Gehalts erforderlichen Anschlussfragen formulieren zu können.

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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