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4. Kritische Anfrage: Hat die ‚Logik‘ einen blinden Fleck?

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Olsons Gesamtwerk ist außergewöhnlich ideenreich, und doch sind es relativ wenige – und zudem erstaunlich einfache – Kernüberlegungen, auf die sich Olsons Ideen zurückführen und damit auch systematisch rekonstruieren lassen. So jedenfalls lautet die der hier vorgeschlagenen Lesart zugrundeliegende These. Dem Beleg dieser These dient die Unterscheidung einer gruppentheoretischen, gesellschaftstheoretischen und staatstheoretischen ‚Logik‘ kollektiven Handelns sowie die graphische Illustration der jeweils primären Fragestellung in den Abbildungen 4, 5 und 6.

Diese Abbildungen erfüllen aber auch noch einen zusätzlichen Zweck. Mit ihrer Hilfe lässt sich deutlich machen, dass Olsons Gesamtwerk eine interessante – und möglicherweise wichtige – Fragestellung nahezu völlig ausklammert, vgl. Abbildung 8. Die Rolle des Wettbewerbs – und insbesondere die Unterscheidung ruinöser und gemeinwohlförderlicher Konkurrenzprozesse – spielt in seinen Schriften kaum eine Rolle. Sie erscheint nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ – d.h. systematisch, kategorial bedingt – unterbelichtet. Hat Olsons ‚Logik‘ hier einen blinden Fleck? Folgende Hinweise mögen genügen, um die Frage und ihre Bedeutung zu verdeutlichen.

Abbildung 8:

Hat die ‚Logik‘ einen blinden Fleck?

|61|(1) Bei Olsons Staatstheorie fällt auf, dass Autokratie und Demokratie den Quadranten III und IV zugeordnet werden. Das liegt an dem spezifischen Aspekt, unter dem sie betrachtet werden. Olson fragt nach dem unterschiedlich umfassenden Interesse der Herrschaftskoalition. Implizit wird Demokratie damit eingeordnet als eine Kooperationslösung, bei der die Mehrheit sich erfolgreich zu kollektivem Handeln organisiert. Der Unterschied zur Autokratie wird folglich daran festgemacht, dass es in einer Demokratie eine vergleichsweise größere Gruppe ist, deren Interessen durch die Regierung vertreten werden.

Alternativ hätte es sich angeboten, Demokratie als eine politische Wettbewerbsordnung zu bestimmen. Aus einer solchen – Olson nicht unbedingt widersprechenden, aber doch signifikant anderen – Perspektive erscheint die parlamentarische Parteienkonkurrenz als das zentrale Merkmal. Unter diesem Aspekt wäre die Demokratie dem ersten Quadranten zuzuordnen. Das primäre Gegensatzpaar wäre folglich nicht Autokratie-Demokratie, sondern Anarchie-Demokratie, und der zentrale Unterschied läge somit nicht in einem mehr oder weniger umfassenden Interesse, sondern in einer mehr oder weniger funktionsfähigen Rahmenordnung für politischen Wettbewerb. Olsons Kategorien zur Analyse der Demokratie legen den Schwerpunkt auf den Kooperationserfolg einer Verteilungskoalition. Die alternative Sicht würde betonen, dass es gerade die Konkurrenz zwischen Verteilungskoalitionen sein kann, die solche Erfolge be- und sogar verhindert.[82]

(2) Hier geht es um mehr als lediglich terminologische oder typologische Fragen. Es geht um grundlegende und entsprechend weitreichende Fragen ökonomischer Kategorienbildung: (a) Aus Olsons Perspektive sind die politischen Regimes Anarchie, Autokratie und Demokratie in einem Spektrum zunehmend umfassenden Interesses anzuordnen. Die alternative Perspektive hingegen betont die Diskontinuitäten. Für sie ist Demokratie der – zivilisationsgeschichtlich ungemein erfolgreiche – Versuch, auf dem Rücken des Tigers zu reiten: Während Autokratie die quasi ‚natürlichen‘ Wettbewerbsbedingungen ruinöser Konkurrenz durch Monopolisierung beseitigt, beruht Demokratie auf der artifiziellen (Wieder-)Einführung politischer Konkurrenzprozesse, die die Delegationsverhältnisse zwischen Bürgern und Politikern durch Parteien mediatisieren, für die die Wettbewerbsanreize so gesetzt werden, dass sie das politische Principal-Agent-Problem zumindest halbwegs beherrschbar machen. (b) Eine solche Sicht modifiziert nicht nur das staatstheoretische Argument, sondern auch die verfassungspolitischen Schlussfolgerungen. So kann gerade ein Verhältniswahlrecht den politischen Markt offener halten. Sollte es angesichts neu auftretender Problemlagen zu Kartellen der Besitzstandswahrer kommen, so ermutigt ein Verhältniswahlrecht das Entstehen neuer Parteien, die als Innovatoren ihre etablierten Wettbewerber zu entsprechenden Imitationen zwingen können. Analog zu wirtschaftlichen Märkten reicht oft bereits ein potentieller Wettbewerb aus, um antizipative Verhaltensanpassungen zu bewirken. Insofern ist Olsons verfassungspolitische Schlussfolgerung nicht einmal als Tendenzaussage ohne weiteres haltbar, d.h. ohne eine ausdrückliche Analyse des möglichen Tradeoffs zwischen einem umfassenden Interesse auf der |62|einen Seite und einer höheren Innovationsrate, Anpassungs- und Lernfähigkeit auf der anderen Seite. (c) Ähnliches gilt auch für die gesellschaftstheoretischen und gesellschaftspolitischen Tendenzaussagen. Am Beispiel gewerkschaftlicher Organisation lässt sich dies schnell illustrieren. Während Olson sich für nationale Branchengewerkschaften ausspricht, weil er diesen ein umfassenderes Interesse als Betriebsgewerkschaften unterstellt und mithin tendenziell niedrigere Lohnabschlüsse vermutet, wird man die größere Verhandlungsmacht zentralisierter Gewerkschaftsorganisationen ebenfalls bedenken müssen. Damit erweist sich die Ceteris-Paribus-Annahme als äußerst kritisch. Es ist nicht ohne weiteres auszuschließen, dass nationale Gewerkschaftsorganisationen trotz umfassenderen Interesses vergleichsweise höhere Lohnabschlüsse durchsetzen könnten. (d) Vollends deutlich aber wird das hier angesprochene Problem, sobald man die Analogie zwischen wirtschaftlichen und politischen Märkten stark macht. Auf wirtschaftlichen Märkten erwartet niemand, dass sich gemeinwohlförderliche Ergebnisse durch eine Konzentration zu großen Unternehmenseinheiten hin bewirken lassen, und analog wäre auch von politischen Unternehmern zu erwarten, dass sie nicht durch verstärkte Kooperation, sondern eher durch wettbewerbliche Anreize dazu gebracht werden müssen, sich im Interesse aller Bürger zu verhalten.

(3) Olsons ‚Logik‘ kollektiven Handelns würde durch eine Einbeziehung der ausgeblendeten Fragestellung sicherlich modifiziert werden, auch über die angesprochenen Einzelbeispiele hinaus. Aber würde sie hierdurch an Eleganz und Systematizität verlieren? Oder würde sie ganz im Gegenteil sogar an theoretischer Konsistenz gewinnen können? Ließe sie sich vielleicht gar von einer ‚Logik‘ einzelner Tendenzaussagen zu einer Logik im eigentlichen Sinne des Wortes: zu einer ökonomischen Interaktionslogik transformieren?[83]

Für die zweite Möglichkeit spricht vielleicht folgende Überlegung. Wenn man – nicht das Gefangenendilemma, wohl aber – die Interaktionslogik des Gefangenendilemmas zum Paradigma der Analyse kollektiven Handelns macht, dann werden die Konturen einer gesellschaftstheoretischen Konzeption sichtbar, wie sie gegenwärtig im Rahmen einer ‚Normativen Institutionenökonomik‘ angestrebt wird.[84] Es handelt sich um ein Forschungsprogramm, das die Stabilität – und streng analog: die Instabilität – kollektiven Handelns ins Zentrum der Betrachtung rückt, deren Perspektive damit auf die institutionelle Stabilisierung sozial erwünschter – und streng analog: auf die institutionelle Destabilisierung sozial unerwünschter – Interaktionen fokussiert wird. Konkurrenz und Kooperation erscheinen dann als alternative Interaktionsmodi, die mittels institutioneller Arrangements kombiniert und miteinander verschachtelt werden können. Eine solche Theorieperspektive ist von vornherein darauf berechnet, jene umfassenden Tradeoff-Betrachtungen vorzunehmen, um die Olsons Tendenzaussagen jeweils |63|erst ergänzt werden müssen. Ein weiterer und besonders wichtiger Vorteil dürfte zudem darin liegen, dass gerade die Überführung theoretischer Überlegungen in normative Empfehlungen systematisch, d.h. methodisch kontrolliert, erfolgen kann. Am Beispiel: Die Insider-Outsider-Theorie oder generell die Rent-Seeking-Theorie oder – noch allgemeiner – die wohlfahrtsökonomische Theorie externer Effekte identifiziert Täter und Opfer, indem gesellschaftliche Probleme auf Fremdschädigungsaktivitäten zurückgeführt werden. Hier erfolgt eine einseitige Zuschreibung von Verursachung, obwohl – nimmt man den genuin ökonomischen Gedanken sozialer Interdependenz ernst – prinzipiell von wechselseitiger Verursachung auszugehen ist. Eine solche alternative Konzeptualisierung führt denn auch in der Tat gesellschaftliche Probleme systematisch auf kollektive Selbstschädigungen in Form ruinöser Konkurrenzprozesse zurück. Folglich muss sie sich – und sei es auch noch so implizit – im Interessenkonflikt nicht auf die eine oder andere Seite schlagen, sondern kann stattdessen nach den gemeinsamen Interessen der Akteure fragen, um für gemeinsame Probleme institutionelle Reformoptionen zu eruieren, die – als Befreiung aus einer Rationalfalle – allgemein zustimmungsfähig sind. Geht man nicht von Dependenz, sondern von sozialer Inter-Dependenz aus, so lassen sich politische Reformen systematisch in die Argumentationsfigur kollektiver Selbstbindungen überführen. Anders als bei einer einseitigen Diagnose und Therapie muss man also gar nicht erst versuchen, einzelnen Akteuren Verzichtsleistungen aufzubürden. Wählt man die Konzeptualisierung sozialer Dilemmata, so erscheint eine politische Reform vielmehr als ein Tausch, bei dem sich Leistung und Gegenleistung gegenüberstehen (müssen!), so dass vermeintliche ‚Verzichts‘-Leistungen als Investitionen angesehen werden können, deren Rendite die Empfehlung anreizkompatibel macht.

Die Frage, ob Olsons ‚Logik‘ einen blinden Fleck aufweist, ist hier nicht abschließend zu beantworten. Sie wurde auch nur aufgeworfen, um einen Bereich derzeit offener Forschungsprobleme zu markieren, die weiterer Überlegungen wert wären. Es ging lediglich darum, etwaige Anknüpfungspunkte für theoretisch weiterführende Arbeiten aufzuzeigen. Insofern verstehen sich die Ausführungen zu diesem Gliederungspunkt weniger als Kritik denn in der Tat als Anfrage zum Entwicklungspotential einer umfassenden ökonomischen Gesellschaftstheorie, durch dessen Erschließung sich Olsons Intentionen möglicherweise noch wirksamer zur Geltung bringen ließen. Diese Intentionen sind Gegenstand des abschließenden Fazits.

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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