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|104|3. Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie

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(1) In seinem wissenschaftstheoretischen Frühwerk[145] setzt sich Popper mit zwei Problemen auseinander, die von grundlegender Bedeutung für die Erkenntnistheorie sind. Das erste Problem nennt er das Abgrenzungsproblem. Es geht Popper um die Frage, wie man Wissenschaft von Pseudo-Wissenschaft unterscheiden könne.[146] Als Abgrenzungskriterium schlägt er „Falsifizierbarkeit“ vor: Kennzeichen der Wissenschaft sei es, sich um prüfbare, d.h. prinzipiell widerlegbare, Aussagen zu bemühen. Kennzeichen von Pseudo-Wissenschaft sei es hingegen, genau dies nicht zu tun, sondern statt dessen mit Immunisierungen und tautologischen Aussagen zu arbeiten. Popper zufolge bleibt Pseudo-Wissenschaft dem Stadium der Metaphysik durchgängig verhaftet (Abb. 2). Anfang und Ende liegen hier im Bereich metaphysischer, d.h. nicht-prüfbarer, Aussagen. Demgegenüber beginne wahre Wissenschaft zwar oft mit metaphysischen Ideen (als Heuristik). Sie bleibe hierbei jedoch nicht stehen, sondern bemühe sich, ihre metaphysischen Anfangsgründe in empirisch testbare Theorie-Ergebnisse zu transformieren. Für Popper setzt sich wahre Wissenschaft dem Risiko des Scheiterns aus. Genau das meint Falsifizierbarkeit.

Abbildung 2:

Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium

(2) Das zweite Problem nennt Popper das Induktionsproblem. Hier geht es ihm um die Frage, ob und wann induktive Schlüsse gültig sind.[147] Letztlich zielt diese Frage auf die Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion: Verfügt die Wissenschaft über eine Methode, aus einzelnen Beobachtungen allgemeingültige Aussagen generieren zu können? Seine Antwort auf diese Frage ist ein klares nein: Popper ist Fallibilist. Für ihn gibt es keine sichere Erkenntnis, keine letzten Gewissheiten, kein unfehlbares Wissen. Aus seiner Sicht ist jedes Wissen Vermutungswissen; es ist konjektural, hypothetisch, fallibel. Dies gilt auch und erst recht für wissenschaftliches Wissen. Niemand, auch |105|die Wissenschaft nicht, verfügt über einen Königsweg zur sicheren Erkenntnis. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse sind stets vorläufiger Natur und können sich jederzeit als falsch erweisen. Dennoch kann die Wissenschaft Fortschritte machen. Freilich hängt ihre Fortschrittsfähigkeit von der Methode ab. Worin aber besteht nun die Methode einer fortschrittsfähigen Wissenschaft, wenn nicht in der Induktion? Poppers Antwort auf diese Frage ist ein radikaler Deduktivismus. Er vertritt die Auffassung, dass alle denkbaren Methoden, sich der (prinzipiell vorläufigen) Gültigkeit einer Aussage wissenschaftlich zu versichern, „ausnahmslos auf streng logischer Deduktion beruhen und dass es keine wie immer geartete Induktion als wissenschaftliche Methode gibt“[148]. Dieser Auffassung liegen zwei Argumente zugrunde.

Erstens hält Popper die induktive Methode für eine Fiktion, für eine auf erkenntnistheoretischen Missverständnissen und empiristischen Selbstmissverständnissen beruhende Einbildung, und zwar einfach deshalb, weil es aus seiner Sicht reine Beobachtungstatsachen nicht geben kann. Vielmehr gehen jeder Beobachtung bereits bestimmte Erwartungen voraus. Erwartungen – gerade auch enttäuschte Erwartungen, d.h. Probleme – sind stets vorgängig; sie sind das systematisch Primäre jeder Erkenntnis. Popper weist die Vorstellung einer induktiven Erfahrungsgrundlage für Theorien zurück und vertritt die diametral entgegengesetzte Auffassung, dass Erfahrungen ihrerseits auf einer theoretischen Grundlage beruhen. Für ihn steht fest, „dass Beobachtungen … immer Interpretationen der beobachteten Tatsachen sind und dass sie Interpretationen im Lichte von Theorien sind“[149]. Deshalb sind Beobachtungstatsachen nicht jene theorie-unabhängige Basis, deren ein induktives Verfahren notwendig bedarf. Dies verurteilt die Induktion zur weitgehenden Bedeutungslosigkeit. Als wissenschaftliche Methode spielt sie keine Rolle.

Zweitens hält Popper eine theoretische Aussage dann für vorläufig gültig, wenn sie ernste Widerlegungsversuche (bis auf weiteres) erfolgreich überstanden hat. Aus seiner Sicht können theoretische Aussagen über die Wirklichkeit niemals verifiziert, wohl aber (wiederum vorläufig) falsifiziert werden. Logisch betrachtet, beruht ein solcher Falsifikationsschluss auf dem ‚modus tollens‘, also darauf, die Falschheit theoretischer Implikationen auf die Falschheit der diesen Implikationen vorausgehenden Annahmen zu übertragen. Dieser Übertragungsschluss jedoch ist deduktiver Natur. Folglich kann über die vorläufige Gültigkeit theoretischer Aussagen nur mittels deduktiver Methoden entschieden werden.[150] Poppers Lösung des Induktionsproblems besteht also in einer konsequent fallibilistischen Deduktion. Wie hängen nun die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie zusammen? Und in welcher Verbindung stehen sie mit den Ereignissen des Jahres 1919?

(3) Der Zusammenhang der beiden Probleme ergibt sich daraus, dass die induktive Methode von zahlreichen Wissenschaftlern – implizit oder explizit – als |106|Abgrenzungskriterium aufgefasst worden ist. Nach dem Motto „it needs a theory to beat a theory“ musste also erst ein anderes Abgrenzungskriterium als überlegene Alternative formuliert werden, um Poppers Lösung des Induktionsproblems akzeptabel zu machen. Aus diesem Grund hat Popper von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass das Abgrenzungsproblem das grundlegendere Problem darstellt und dass das Induktionsproblem sogar auf das Abgrenzungsproblem zurückgeführt werden kann.[151] Dies hat zur Folge, dass auf beide erkenntnistheoretischen Grundlagenfragen letztlich die gleiche Antwort gegeben werden kann. Der Problemselbigkeit korrespondiert eine Identität der Lösungen: Die Lösung des Abgrenzungsproblems besteht im Kriterium der Falsifizierbarkeit, und die Lösung des Induktionsproblems besteht in einer auf Falsifizierungsversuche ausgerichteten deduktiven Methode.

(4) Was nun aber die Verbindung zu den beiden Ereignissen des Jahres 1919 anbelangt, so ist augenfällig, dass das erste, politische Ereignis der Formulierung des Abgrenzungsproblems und das zweite, wissenschaftliche Ereignis der Formulierung des Induktionsproblems den Weg weist. Poppers Reaktion auf den tragischen Tod politisierter Jugendlicher im Wien des Jahres 1919 bestand in einer jähen Wende vom Marxismus zum Anti-Marxismus, denn er machte den Marxismus politischer Führer dafür verantwortlich, dass hier Menschenleben einer Ideologie geopfert worden waren, die den historischen Sieg sicher auf ihrer Seite wusste. Fortan wollte Popper – aus Gewissensgründen – dem marxistischen Anspruch entgegentreten können, eine marxistische Sozialwissenschaft könne in ähnlicher Weise ein Geschichtsgesetz aufstellen wie die Naturwissenschaft ein Naturgesetz. Wie lässt sich der ‚wissenschaftliche Sozialismus‘ als Pseudo-Wissenschaft überführen? Es ist exakt diese Frage, durch die Popper zur Formulierung des Abgrenzungsproblems geführt wurde.[152]

Die Formulierung des Induktionsproblems hingegen erfolgte erst einige Jahre später, aber sie erfolgte unter dem Eindruck der Theorie-Erfolge Albert Einsteins.[153] Zum einen hatten die in zahllosen Experimenten erfolgten Bestätigungen der Physik Newtons nicht verhindern können, dass Newton durch Einstein überholt wurde. Die induktive Basis erwies sich – völlig wider Erwarten – als schwankende Grundlage. Zum anderen hatte Einstein seine Theorie nicht durch Induktion gewonnen, sondern mit Hilfe kühner Vermutungen: kühner Annahmen und kühner (deduktiver) Folgerungen, um deren empirische Testbarkeit er dezidiert bemüht war. Einstein nahm die Möglichkeit eines empirischen Scheiterns seiner Theorie nicht nur passiv in Kauf. Vielmehr setzte er seine Theorie sogar aktiv dem Risiko des Misserfolgs aus. Hierin wurde er Popper zum Vorbild einer kritischen Einstellung gegenüber Theorien – und insbesondere zum Vorbild |107|einer selbstkritischen Einstellung gegenüber eigenen Theorien. Mehr noch: Poppers Zurückweisung der induktiven Methode und seine Propagierung der auf Falsifizierbarkeit ausgerichteten deduktiven Methode (ent-)standen direkt unter dem Einfluss von – Poppers Interpretation von – Albert Einsteins Theoriestrategie und ihren Erfolgen.[154] Sie sind somit eine intellektuelle Verarbeitung des zweiten, wissenschaftlichen Ereignisses des Jahres 1919.

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