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2. Popper über Popper: Die autobiographische Selbstinterpretation

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Poppers eigener Auskunft zufolge sind es zwei Ereignisse, die ihn – als Siebzehnjährigen – besonders geprägt haben. Das erste Ereignis ist politischer Natur.[142] Im Sommer 1919 wurden junge Arbeiter beim Versuch, gefangene Kommunisten zu befreien, von der Wiener Polizei erschossen. Sie waren unbewaffnet – und auch ansonsten weitgehend unvorbereitet – in einen Kampf geschickt worden, von dem ihre Parteiführer annahmen, dass er mit historischer Notwendigkeit gewonnen werde. Hieraus zog Popper diverse intellektuelle Konsequenzen. So machte er es sich zur Auffassung, dass man für die eigenen Ideen allenfalls sich selbst, nicht jedoch andere opfern dürfe und dass jene Gesellschaftsordnungen |103|besonders vorzugswürdig seien, in denen es möglich ist, politische Auseinandersetzungen friedlich auszutragen.[143]

Das zweite Ereignis ist wissenschaftlicher Natur.[144] Anlässlich der Sonnenfinsternis am 29. Mai 1919 konnten bestimmte Aussagen der Relativitätstheorie Albert Einsteins erstmals experimentell überprüft werden und wurden in der Tat bestätigt. Die bis dahin erfolgreichste Theorie aller Zeiten, die schlechterdings für wahr gehaltene Physik Isaac Newtons, wurde nachdrücklich in Frage gestellt und erschien nunmehr als bloßer Spezialfall der allgemeineren Theorie Einsteins, die Bedingungen angeben konnte, wann mit einem Scheitern der Newtonschen Physik zu rechnen sei und wann nicht. Popper war nicht nur vom Erfolg dieser Prognose nachhaltig beeindruckt, sondern auch und vor allem davon, dass Einstein das Risiko eines Misserfolgs überhaupt eingegangen – und sogar gezielt eingegangen – war: Zunächst maßgeblich beeinflusst durch die Lektüre von Karl Marx, Sigmund Freud und Alfred Adler, dessen zeitweiliger Mitarbeiter er später war, hatte Popper ein latentes Unbehagen gegenüber allen drei Ansätzen entwickelt. Auf die Marxisten, Freudianer und Adlerianer in seinem Bekanntenkreis wirkte es faszinierend, in jedem tatsächlichen oder auch nur denkbaren Sachverhalt eine Bestätigung der jeweiligen Theorie sehen zu können, während – so Poppers Interpretation – Einstein seiner eigenen Theorie gegenüber eine völlig andere Einstellung zeigte. Einstein gab Bedingungen an, unter denen er sich genötigt sähe, seine Theorie verwerfen oder doch nachbessern zu müssen. Hieraus zog Popper die Konsequenz, sich eine solchermaßen (selbst-)kritische Einstellung zu eigen machen zu wollen.

Diese beiden Ereignisse bilden eine nützliche Hintergrundfolie für das Verständnis der wissenschaftstheoretischen Schriften Poppers auf der einen Seite, seiner politischen Schriften auf der anderen Seite, aber auch für das Verständnis ihres systematischen Zusammenhangs, der durch Poppers Methodologie der Sozialwissenschaften vermittelt ist. Als These formuliert: Poppers politische Stellungnahmen beruhen auf einer Anwendung seiner sozialwissenschaftlichen Methodologie; diese ist ihrerseits eine Anwendung seiner Wissenschaftstheorie; Poppers Wissenschaftstheorie wiederum ist eine Anwendung seines konzeptionellen Denkansatzes, des kritischen Rationalismus; diese Hintergrundkonzeption ist ihrerseits das Produkt einer systematisch integrierten Lösung der beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie; und jedes dieser beiden Grundprobleme steht in einem unmittelbaren Zusammenhang zu den beiden prägenden Ereignissen des Jahres 1919. Der Erläuterung und Einlösung dieser These sind die beiden nächsten Abschnitte gewidmet.

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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