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4. Das Hintergrundkonzept: kritischer Rationalismus als Theorie sozialen Lernens

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Die Problemselbigkeit der beiden Grundprobleme und die letztliche Identität ihrer Lösungen münden in einen kritischen Rationalismus, der als Hintergrundkonzept allen weiteren Schriften Poppers eine eigentümliche Prägung verleiht. Als These formuliert: Der kritische Rationalismus Karl Poppers ist im Kern eine Lerntheorie, und zwar eine Theorie sozialen Lernens. Die Einlösung dieser These erfolgt in zwei Schritten. Zunächst geht es um eine philosophische Kennzeichnung des kritischen Rationalismus. Sodann wird gezeigt, inwiefern der chronologischen Reihenfolge vier zentraler Veröffentlichungen Poppers eine systematische Reihenfolge entspricht, weil sich alle vier Veröffentlichungen als Anwendungen des kritisch-rationalen Ansatzes interpretieren lassen.

Ausgangspunkt der philosophischen Kennzeichnung des kritischen Rationalismus ist folgendes Zitat: „Bezeichnet man (nach Kant) das Induktionsproblem als ‚Humesches Problem‘, so könnte man das Abgrenzungsproblem ‚Kantsches Problem‘ nennen.“[155] Popper selbst sieht sich als Nachfolger Immanuel Kants. Er hat sich – so seine Selbstinterpretation – die erkenntnistheoretische Frage Kants zu eigen gemacht und aufgrund einer signifikant anderen Problemsituation eine neue Antwort gefunden. Diese Antwort ist der kritische Rationalismus. Durch ihn wird, so Poppers Anspruch, Kants Kritik der reinen Vernunft überholt.

Popper zufolge war Kants Problemsituation durch David Hume und Isaac Newton gekennzeichnet. Auf der einen Seite hatte Hume das Induktionsprinzip scharf kritisiert, und Kant sah sich genötigt, diese Kritik als berechtigt anzuerkennen. Auf der anderen Seite aber hatte Newton eine Physik vorgelegt, deren weltbewegende Theorie-Erfolge anzuerkennen Kant sich ebenfalls genötigt sah. Wie aber war beides zu vereinbaren? Kants geniale Antwort auf diese Frage bestand darin, zwischen empirischen Aussagen einerseits und den Kategorien empirischer Aussagen andererseits, etwa den ‚Anschauungsformen‘ von Zeit und Raum oder der Kausalitätskategorie, zu unterscheiden und auf Humes Induktionskritik |108|mit einer deduktiven Wendung zu reagieren, einer – für Kant: kopernikanischen – Wendung hin zu einer apriorischen Deduktion, die in dem berühmten Satz kulminiert: „Der Verstand schöpft seine Gesetze … nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.“[156] Kant hielt diese Gesetze – unter dem Eindruck der Newtonschen Theorie-Erfolge – für unumstößlich wahr, für infallibel.

Vor diesem Hintergrund ist Poppers eigene Problemsituation durch Immanuel Kant und Albert Einstein gekennzeichnet. Auf der einen Seite hatte Kant – unter dem Einfluss Newtons – die unbezweifelbare Gültigkeit kategorialer Gesetzesaussagen behauptet. Auf der anderen Seite hatte Einstein die Physik Newtons überholt und gerade dadurch jeglichem Vertrauen in die Möglichkeit letztgültiger Erkenntnis die Basis entzogen. Poppers Reaktion auf diese radikal veränderte Problemsituation besteht darin, Kants Hypothetizismus in bezug auf empirische Aussagen – seine transzendentale Kritik synthetischer Urteile a priori – zu radikalisieren und nun auch jene Kategorien als prinzipiell fallibel aufzufassen, die der Generierung empirischer Aussagen vorangehen. Für Popper haben durchgängig alle theoretischen Aussagen einen hypothetischen Status. Damit vollzieht er eine fallibilistische Wendung, eine – für Popper: sokratische – Wendung, die die Vorstellung sicheren Wissens durch die Vorstellung eines stets unsicheren Vemutungswissens ersetzt.

Im Bereich des Vermutungswissens – und für Popper ist alles Wissen Vermutungswissen – gibt es keine sichere Basis, keine verlässliche Grundlage; wohl aber gibt es Erkenntnisfortschritt. Lernprozesse sind möglich. Enttäuschte Erwartungen können korrigiert werden. Eine erste Kernbotschaft des kritischen Rationalismus lautet: Wir lernen aus Fehlern. Versuch und Irrtum sind die zentralen Bestandteile methodischen Erkenntnisfortschritts. Eine zweite Kernbotschaft des kritischen Rationalismus lautet: Wir lernen im Modus der Kritik. Es ist dem Erkenntnisfortschritt förderlich, von anderen auf Fehler hingewiesen zu werden, die man selbst nicht gesehen hat. Folglich können Lernprozesse durch kritische Diskussionen wesentlich befördert werden. Diese zweite Botschaft verwandelt die kritisch-rationale Lerntheorie in eine Theorie sozialen Lernens. Als These formuliert: Poppers kritischem Rationalismus zufolge entfaltet sich Rationalität durch Kritik, durch einen sozialen, inter-personellen Lernprozess kritischer Diskussion.

Im Folgenden wird zu zeigen versucht, dass sich Poppers Schriften zur Wissenschaftstheorie im allgemeinen, zur Methodologie der Sozialwissenschaften im besonderen, seine politischen Stellungnahmen gegen totalitäre Gefährdungen der Demokratie und darüber hinaus auch sein Entwurf objektiver Erkenntnis als Anwendungen des kritischen Rationalismus interpretieren lassen, d.h. als Anwendungen einer Theorie sozialen Lernens.

(1) Die Anwendung des kritischen Rationalismus auf das Problem wissenschaftlicher Erkenntnis führt zu einer radikalen Änderung der erkenntnistheoretischen Fragestellung. Es geht nicht länger um das Subjekt, sondern um das Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis, nicht um Erkenntnisfindung, sondern um Erkenntnisgeltung, d.h. um die (vorläufige) Gültigkeit wissenschaftlicher |109|Erkenntnisse, also um das Resultat wissenschaftlicher Diskussionen, in denen versucht wird, theoretische Vermutungen zu widerlegen. Poppers kritisch-rationale Wissenschaftstheorie setzt an die Stelle einer zu seiner Zeit weit verbreiteten Erkenntnispsychologie eine „Logik der Forschung“, eine „Lehre von der deduktiven Methodik der Nachprüfung“[157]. In der Tat ist Poppers Wissenschaftstheorie eine Lehre von der deduktiven, d.h. logisch gestützten, Methode inter-subjektiver Nachprüfung und gerade darin eine Anwendung der kritisch-rationalen Theorie sozialen Lernens.

(2) Poppers ‚Logik der Forschung‘ zufolge sind wissenschaftliche Diskussionen eine extreme Spezialform kritischer Diskussionen, ein institutionen- und traditionengestützter Sonderfall, der es dem gesunden Menschenverstand ermöglicht, eine extreme Leistungsfähigkeit zu erreichen. Demnach ist Wissenschaft nicht nur durch das Genie einzelner Forscher und ihre kühnen Vermutungen, sondern auch durch die Widerlegungsversuche der Forschergemeinschaft gekennzeichnet. Eine solche Arbeitsteilung ist auf geeignete Anreize angewiesen. Folglich kann die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse durch Fehlanreize behindert werden. Störungen dieses Produktionsprozesses treten vor allem dann ein, wenn sich die Spezialisierung und Zusammenarbeit der Wissenschaftler an einer verfehlten Methodologie orientiert. In dieser Hinsicht hält Popper nicht so sehr die Naturwissenschaften als vielmehr die Sozialwissenschaften für besonders störanfällig. Sie haben, so Popper, ihren Galilei bis heute nicht gefunden, d.h. sie verfügen (noch?) nicht über eine hinreichend robuste Erkenntnistradition.[158] Auf diese Problemsituation reagieren Versuche, die naturwissenschaftliche Erkenntnistradition in den Sozialwissenschaften zu kopieren. Diese Versuche sind umstritten, und zu diesem Streit nimmt Poppers Methodologie der Sozialwissenschaften Stellung.

In seinem Buch über das „Elend des Historizismus“[159] – das Elend einer Auffassung, die die Sozialwissenschaften auf historische Voraussagen festlegen will –, unterscheidet Popper zwei historizistische Varianten. Die eine nennt er pro-, die andere anti-naturalistisch. Erstere befürwortet „die Anwendung physikalischer Methoden in den Sozialwissenschaften“[160], letztere lehnt eine solche Anwendung ab. Popper wirft beiden Varianten im Prinzip denselben Fehler vor: nämlich ein grundlegendes Missverständnis der physikalischen Methode.

Hinsichtlich der anti-naturalistischen Variante des Historizismus diagnostiziert Popper, dass sie zu holistischen Sozialexperimenten neige, bei denen das gesellschaftliche Ganze aufs Spiel gesetzt wird, und dass sie mithin die Bedeutung kontrollierter Experimente in der Physik verkenne. In Anlehnung an solche kontrollierten Experimente formuliert Popper den Gegenentwurf einer „Stückwerks-Sozialtechnologie“, derzufolge institutionelle Reformen inkrementalistisch, Schritt für Schritt zu erfolgen haben, weil sich nur so das Zurechnungsproblem lösen lässt, welche Institutionen für welche Missstände überhaupt verantwortlich sind. Popper macht geltend, dass sein Konzept über eine überlegene |110|Lernfähigkeit verfüge. Es ist also ein lerntheoretisches und in diesem Sinne kritisch-rationales Argument, das für inkrementalistische und gegen holistische Reformversuche spricht. Popper (1944–45, 1987; S. 70): „[E]s ist sehr schwer, aus sehr großen Fehlern zu lernen.“

Hinsichtlich der pro-naturalistischen Variante des Historizismus diagnostiziert Popper, dass die Annahme historischer Entwicklungsgesetze auf einem Missverständnis der Verwendung von Naturgesetzen in der Physik beruhe. Die logische Struktur wissenschaftlicher Erklärungen und Prognosen werde grundlegend verkannt, mit der Folge, dass der sozialwissenschaftliche Erkenntisfortschritt nachhaltig behindert werde. Wiederum ist es ein letztlich lerntheoretisches Argument, dessen sich Popper hier bedient. Dieses Argument lässt sich in drei Schritten rekonstruieren, die in eine vernichtende Kritik des Pro-Naturalismus münden.

Der erste Schritt besteht in einer aussagenlogischen Erläuterung des (natur-) wissenschaftlichen Erklärungskonzepts: Erklärung heißt, ein Explikandum aus einem Explikans herzuleiten. Das Explikandum besteht aus Sätzen, die einen empirischen Sachverhalt beschreiben. Das Explikans hingegen besteht aus zwei Arten von Prämissen. Zum einen handelt es sich um universale Sätze, zum anderen um singuläre Sätze. Die universalen Sätze formulieren hypothetische Naturgesetze, d.h. sie beanspruchen allgemeine Gültigkeit. Die singulären Sätze jedoch beziehen sich auf den jeweiligen Einzelfall; sie spezifizieren die konkreten Bedingungen und beanspruchen als Hypothesen daher lediglich situative Gültigkeit. Eine Erklärung besteht nun in dem Versuch, den beschriebenen Sachverhalt aus singulären und universalen Sätzen folgen zu lassen.

Im zweiten Schritt erfolgt eine aussagenlogische Erläuterung des wissenschaftlichen Prognosekonzepts. Während eine Erklärung bei einem bereits vorliegenden Explikandum ansetzt und dieses auf ein allererst zu entwickelndes Explikans zurückführt, geht eine wissenschaftliche, d.h. bedingte Prognose genau anders herum vor. Sie setzt beim Explikans an und schließt auf ein Explikandum, d.h. auf einen Sachverhalt, der erst in der Zukunft eintreten wird. Wissenschaftliche Erklärungen und Prognosen weisen eine gleichartige aussagenlogische Struktur auf; ihre Argumentationsrichtung ist jedoch diametral entgegengesetzt.

Der dritte Schritt besteht in einer aussagenlogischen Erläuterung des wissenschaftlichen Fortschrittskonzepts: Fortschritt heißt, Erklärungen und Prognosen zu verbessern, d.h. aus Fehlern zu lernen. Scheitert die deduktive Verknüpfung von Explikans und Explikandum, so kann dies unter bestimmten Umständen – nämlich dann, wenn die situative Gültigkeit der singulären Sätze ebenso wie die Beschreibung des Explikandums vergleichsweise unproblematisch ist – als eine Prüfung des universalen Satzes aufgefasst werden und als erfolgreiche Anwendung des ‚modus tollens‘ einen Anstoß zu theoretischen Weiterentwicklungen geben, d.h. zu Verbesserungen der universalen Sätze.

In diesen drei gedanklichen Schritten wird die Aussagenlogik als Darstellungsmittel einer – nicht aussagenlogischen, sondern – methodologischen Argumentation verwendet. Diese Argumentation mündet in Poppers Kritik, dass die in der pro-naturalistischen Historizismusvariante verwendeten Gesetzesaussagen nicht universale, sondern singuläre Sätze sind, die sich auf historische Einzelereignisse oder Folgen solcher Einzelereignisse beziehen, z.B. auf das historische ‚Gesetz‘ |111|einer Stufenfolge gesellschaftlicher Entwicklungsstadien. Dieses durch eine Äquivokation des Gesetzesbegriffs – wenn nicht hervorgerufene, so doch – verstärkte Selbstmissverständnis der eigenen Methode sei vor allem deshalb so bedeutsam, weil es das Auffinden wirklicher Gesetze durch die Sozialwissenschaften erschwere oder sogar verhindere. Popper argumentiert, dass eine (Rück-)Übertragung dieser sozialwissenschaftlichen Praxis auf die Naturwissenschaften theoretischen Fortschritt zunichte machen würde: „Wir können … nicht hoffen, eine universale Hypothese prüfen und ein für die Wissenschaft annehmbares Naturgesetz finden zu können, wenn wir dauernd auf die Beobachtung eines einzigartigen Prozesses beschränkt sind.“[161] Wieder ist es also ein lerntheoretisches und in diesem Sinne kritisch-rationales Argument, auf das er sich stützt: Auch in den Sozialwissenschaften erfolge Erkenntnisfortschritt durch Kritik, und ebendieser Kritik werde durch historizistische Methodendefizite der Boden entzogen, mit der Konsequenz eines vergleichsweise geringeren Erfolgs der Sozialwissenschaften. Für Popper steht der Historizismus der Falsifizierbarkeit im Wege und führt zur Pseudo-Wissenschaft.

(3) Poppers zweibändiges Buch über die „offene Gesellschaft“[162] ist ein Zwillingsprodukt seines Buches über den Historizismus. Beide sind nahezu zeitgleich entstanden. An ihnen wurde simultan gearbeitet. In seiner methodologischen Studie geht es Popper um den pseudo-wissenschaftlichen Charakter des Historizismus. In seiner Streitschrift für die offene Gesellschaft geht es ihm um die politischen Konsequenzen historizistischer Denkfehler. Hier wird die wissenschaftstheoretische Kritik des Historizismus durch eine gesellschaftspolitische Kritik ergänzt. Auch diese Ergänzung steht ganz im Zeichen des kritischen Rationalismus, d.h. einer Theorie sozialen Lernens.

Popper reagiert auf die totalitären Politikentwicklungen seiner Zeit mit einer Interpretation, die es ihm erlaubt, als Philosoph – d.h. als Methodologe: als Spezialist für Methodenreflexion – gegen den Totalitarismus dezidiert Stellung zu beziehen. Er interpretiert den Totalitarismus als eine Begleiterscheinung der Zivilisation, als (untauglichen) Versuch, sich der „Last der Zivilisation“[163] zu entledigen. Popper unterstellt dem Totalitarismus hehre Motive. Er sieht in ihm einen Ausdruck des politischen Willens, das Los der Mitmenschen zu verbessern – genauer: einen Ausdruck extremer Fehler, die einer durchaus wohlmeinenden Politik unterlaufen können. In diesem Sinne interpretiert Popper die Ergebnisse totalitärer Politik als nicht-intendierte Folgen intentionaler – soziale Verbesserungen intendierender – Handlungen. Für Popper besteht der Kardinalfehler totalitärer Politik darin, gesellschaftliche Lernprozesse abzuwürgen, durch zentrale Planung zum Stillstand zu bringen. Deshalb zielt sein demokratischer Gegenentwurf darauf ab, gesellschaftliche Lernprozesse institutionell zu unterstützen. Popper geht es um das Verfahren – d.h. die Methode – sozialer Reformen, und hier vertritt er die Auffassung, dass „die Demokratie – und sie allein – einen institutionellen Rahmen darstellt, innerhalb dessen eine Reform ohne Gewaltanwendung |112|und damit die Anwendung der Vernunft auf die Fragen der Politik möglich ist“[164]. Insofern ist Poppers Plädoyer für die offene Gesellschaft – genauer: für die demokratische Verfassung der offenen Gesellschaft – zugleich ein Plädoyer für gesellschaftliches Lernen, für sozialen Fortschritt durch Kritik, insbesondere durch kritische Diskussion, ein Plädoyer für soziale Verbesserungen durch schrittweise Reformen.

(4) Poppers Aufsatzsammlung mit dem Titel „Objektive Erkenntnis“[165] liegt – so der Untertitel – ein „evolutionärer Entwurf“ zugrunde. Dieser Entwurf mündet in die sog. ‚Drei-Welten-Theorie‘ und lässt sich in drei Schritten rekonstruieren.

Erstens bedient sich Popper zur Darstellung seiner Lerntheorie eines formalen Schemas[166] (Abb. 3). Demnach nimmt Lernen seinen Ausgang von Problemen (P1). Diese Probleme werden zu lösen versucht. Es entstehen alternative Lösungsvorschläge (VL1, …, n). Die Verbesserung dieser Lösungsvorschläge erfolgt durch Fehlerelimination (FE) und mündet in neue Problemstellungen auf höherem Niveau (P2).

Abbildung 3:

Poppers Lernschema

Zweitens interpretiert Popper dieses Lernschema als Evolutionsschema, d.h. er verlängert seine Lerntheorie, den kritischen Rationalismus, bis in die Biologie hinein. Die beiden mittleren Elemente des Schemas repräsentieren Mutation und Selektion. Popper betont, dass auch die biologische Evolution als aktiver Lernprozess aufgefasst werden kann: „Alles Leben ist Problemlösen“[167]. Diese Auffassung kulminiert in der Aussage, dass die Amöbe und Einstein letztlich die gleiche Lernmethode verwenden, nämlich die kritisch-rationale Methode von Versuch und Irrtum, des Lernens aus Fehlern.[168]

Drittens kann vor diesem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit die Frage neu gestellt werden, wodurch sich biologische und kulturelle Evolution unterscheiden. Poppers Antwort sieht den Unterschied im jeweiligen Selektionsobjekt: |113|Bei der Fehlerelimination im Rahmen kultureller Evolution sterben Ideen, nicht Menschen. Diese Antwort mündet unmittelbar in die begriffliche Trennung dreier unterschiedlicher Welten – Welt 1: Gegenstände und Organismen; Welt 2: subjektive Bewusstseinszustände; Welt 3: objektive Gedankeninhalte – und in zahlreiche theoretische Folgerungen dieser kategorialen Unterscheidung.[169]

Auf zwei dieser Folgerungen sei hier hingewiesen. Erstens kann Popper mit Hilfe der Drei-Welten-Unterscheidung seine erkenntnistheoretische Fragestellung präzisieren. Die vorpopperianische Erkenntnistheorie – so seine Selbsteinschätzung – war mit der Frage beschäftigt, wie sicheres Wissen möglich sei, und suchte demzufolge nach Objektivierungsmöglichkeiten subjektiven Wissens, z.B. mit Hilfe von Induktion. Auf diese Weise wurde der gesamte Komplex der Wissenschaft (fälschlicherweise) der Welt 2 zugeordnet, als Bereich gesicherten subjektiven Wissens. In dieser jahrhunderte-alten Tradition stehend, war die zeitgenössische Wissenschaftstheorie auf Welt 2 fokussiert, sie folgte einer primär erkenntnispsychologischen Orientierung. Für Popper liegt hier ein Kategorienfehler zugrunde, denn aus seiner Sicht ist die Wissenschaft nicht der Welt 2, sondern der Welt 3 zuzuordnen. ‚Biologisch‘ betrachtet, sind Theorien, Probleme, gelungene und gescheiterte Lösungsversuche, aber auch Heuristiken als exosomatische Produkte des Lebewesen ‚Mensch‘ ebenso real und ebenso autonom wie die exosomatischen Produkte anderer Lebewesen, z.B. „Spinnweben oder Wespennester, Ameisennester, Dachsbaue, Biberdämme oder Wildwechsel im Wald“[170]. Die Erforschung der objektiven Eigenschaften dieser – mit sprachlichen Mitteln – künstlich geschaffenen Welt 3 erklärt Popper zur Aufgabe seiner Erkenntnistheorie. Es geht ihm um die Produkte, nicht um die Produzenten, und in diesem Sinne gibt er als Motto aus: „Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt“[171]. Zweitens bleibt Popper nicht bei einer bloßen Unterscheidung der drei Welten stehen, sondern untersucht ihr Zusammenspiel im Evolutionsprozess. Dies führt ihn zu weiteren anti-psychologischen Folgerungen. So vertritt er etwa die These, dass das allgemeine Problem des Verstehens – angefangen von der Wissenschaftsgeschichte über die Sozialwissenschaften bis hin zur geisteswissenschaftlichen |114|Hermeneutik – als Problem falsch gestellt wird, wenn man es in Welt 2 und nicht in Welt 3 ansiedelt, wohingegen das Verstehen gefördert werde, indem man psycho-logisches Nachempfinden durch situations-logische Analysen ersetzt, die nicht den subjektiven Bewusstseinsprozessen der zu verstehenden Handlungen nachgehen, sondern ihre objektive Problemsituation zu rekonstruieren versuchen.[172]

Abbildung 4:

Poppers Werk im Überblick

(5) Abb. 4 vermittelt einen Überblick über die bisher entwickelte Lesart. Poppers Werk ist inspiriert von zwei Ereignissen, die in die Formulierung der beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie münden. Für diese Grundprobleme präsentiert Popper eine einheitliche Lösung: den kritischen Rationalismus als eine Theorie sozialen Lernens. Poppers Wissenschaftstheorie ist eine Anwendung des kritisch-rationalen Ansatzes, ebenso wie seine Methodologie der Sozialwissenschaften und sein Plädoyer für die demokratische Verfassung einer offenen Gesellschaft. Selbst seine Evolutionstheorie erweist sich im Kern als eine bis in die Biologie hinein verlängerte Lerntheorie.[173]

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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