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1. Zugangsschwierigkeiten

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Karl Poppers Schriften sind vermeintlich leicht zu lesen. Stets bemüht sich der Autor um eine einfache und klare Ausdrucksweise. Redundanzen erleichtern das Verständnis. Fremdwörter werden vermieden oder umschrieben, zentrale Formulierungen vielfach variiert und erläutert. Als Autor ist Karl Popper auf eine geradezu prätentiöse Weise unprätentiös.[140]

Doch stehen einem Verständnis seines Werkes gewisse (zusätzliche) Schwierigkeiten entgegen. Das wohl wichtigste Rezeptionshindernis dürfte darin liegen, dass Popper seine Argumente im Wege einer Kritik der Argumente anderer entwickelt. Sein Werk lebt aus der Kontroverse, so dass man den historischen Hintergrund berücksichtigen muss, wenn man es heute verstehen will. Formelhaft zugespitzt könnte man sagen: Poppers Texte sind Kon-Texte, nicht Setzungen, sondern Auseinander-Setzungen. In ihnen dominiert nicht das Pro, sondern das Contra. Sie sprechen nicht für sich allein; sie widersprechen. Deshalb müssen sie im Horizont der jeweiligen Gegenpositionen gedeutet werden. Dies macht eine angemessene Rezeption oft voraussetzungsvoller und damit schwieriger, als es auf den Blick scheinen mag. Weitere Verständnisschwierigkeiten kommen hinzu.

Erstens behandelt Popper eine extreme Spannweite scheinbar disparater Themen. Abgesehen von seinen Schriften zur Evolution, zur Physik und Statistik sowie zum Leib-Seele-Problem, erstreckt sich das Spektrum der für sein Werk zentralen Arbeiten von Fragen der Wissenschaftstheorie im allgemeinen über Fragen der sozialwissenschaftlichen Methodologie im besonderen bis hin zu politischen Stellungnahmen gegen totalitäre Gefährdungen der Demokratie (Abb. 1).

Abbildung 1:

Die thematische Spannweite

|102|Zweitens wird Popper nicht müde zu betonen, dass all diese Beiträge systematisch zusammenhängen, dass es sich um Anwendungen ein und desselben Denkansatzes handelt, um Anwendungen des kritischen Rationalismus.

Drittens bleibt die Genese dieses Denkansatzes weitgehend im Dunkeln. Schon gar nicht wird sie durch die Reihenfolge der Schriften wiedergegeben: Zum einen klaffen Verfertigung und Veröffentlichung der Schriften zeitlich z.T. weit auseinander. Zum anderen scheinen die grundlegenden politischen und methodologischen Überzeugungen Poppers geraume Zeit vor der ersten (wissenschaftstheoretischen) Buchpublikation – und zudem koevolutiv – entstanden zu sein.

Hinzu kommt eine vierte Zugangsschwierigkeit. Nicht nur setzt das Werk ein, nachdem die Entstehung des Denkansatzes bereits (weitgehend) vollzogen ist; darüber hinaus sind die Schriften von Popper so angesetzt, dass sie auch die weitere Entwicklung seines Denkens eher im Dunkeln lassen, denn auf (vermeintliche) Gegenargumente, die er der Sache nach anerkennt, reagiert Popper regelmäßig mit dem Hinweis – und oft sogar mit dem Nachweis –, dies immer schon, d.h. bereits in seinen Frühschriften, so gesehen zu haben. Poppers Standardantwort auf Kritik besteht darin, missverstanden worden zu sein, und Neuerungen erfolgen bei ihm – von wenigen Ausnahmen abgesehen – stets im Stil einer Ausarbeitung alter Ideen, die sich bis in seine frühe Jugend zurückverfolgen lassen.

In der Tat ist Poppers Werk in einem ungewöhnlichen Ausmaß Primärliteratur und Sekundärliteratur zugleich. Es ist durchzogen von autobiographischen Schilderungen, Eigenzitaten und Selbstkommentaren. Manche Leser werden hiervon abgestoßen und empfinden die Form einer solchen Argumentation als – je nachdem – manieriert, arrogant, selbstverliebt, monologisierend oder gar dogmatisch. Doch sollte man hier nicht allzu empfindlich sein. Neben dem Versuch, gravierende Missverständnisse seiner Position zurückzuweisen und den systematischen Zusammenhang seiner Auffassungen zu verdeutlichen, bilden Poppers autobiographische Selbstinterpretationen nämlich geeignete „Ausgangspunkte“[141] für eine kritische Rekonstruktion des zugrunde liegenden Denkansatzes.

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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