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|90|3. Ökonomischer Imperialismus und Inter-Disziplinarität

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(1) Die methodologische Konsolidierung der Forschungsarbeiten Gary Beckers zum ökonomischen Ansatz – und erst recht die weitere Entwicklung dieser Forschungsarbeiten seit Mitte der 1970er Jahre – enthält Hinweise darauf, wie man sich, ausgehend vom ökonomischen Imperialismus, Inter-Disziplinarität sinnvoll vorstellen kann – und wie nicht. Nicht sinnvoll ist Interdisziplinarität als psycho-logisierende Durchbrechnung oder sozio-logisierende Aufweichung der ökonomischen Modell-Logik. Dabei ist unbestritten, dass menschliches Verhalten durch Beschränkungen der kognitiven (und emotionalen) Fähigkeiten ebenso beeinflusst wird wie durch die Erwartungshaltung der sozialen Umwelt. Strittig ist nur, inwiefern dies für ökonomische Fragestellungen jeweils relevant ist und wie diese Relevanz gegebenenfalls so berücksichtigt werden kann, dass die ökonomische Modell-Logik intakt bleibt und die analytische Leistungsfähigkeit des theoretischen Verfahrens beibehalten und sogar gesteigert werden kann.

Ein gutes Beispiel hierfür ist das bekannte Phänomen, dass Menschen sich in bestimmten Situationen anders verhalten, als es der Axiomatik des ökonomischen Modells zu entsprechen scheint. Hierauf sind mindestens vier Reaktionen möglich. Erstens kann man diese sog. Verhaltensparadoxien ignorieren, nach dem Motto: Was haben psychologische Laboruntersuchungen mit Wirtschaft zu tun? Für einen ökonomischen Imperialisten freilich scheidet diese bereichsontologische Abschirmung von vornherein aus. Die zweite Reaktion besteht darin, menschliche Denkprozesse und deren mögliche Defekte genauer zu erforschen. Eine solche Reaktion ist sicherlich sinnvoll, aber da sie einer psychologischen, kognitionswissenschaftlichen Fragestellung folgt, scheidet sie für einen ökonomischen Imperialisten aus. Er muss sich folglich für eine der verbleibenden Möglichkeiten entscheiden. Die dritte mögliche Reaktion besteht darin, die psychologischen Forschungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen und nach Wegen zu suchen, die ökonomische Modell-Axiomatik entsprechend anzupassen. Hierbei begegnet jedoch die Schwierigkeit, dass die damit zunehmende Komplexität im Modell die analytische Leistungsfähigkeit des Modells beeinträchtigt, nämlich die Fähigkeit, im Rahmen einer mikrofundierten Makroanalyse so zur Komplexitätsreduktion beizutragen, dass Erklärungen und sogar Prognosen möglich werden. Insofern sprechen insbesondere heuristische Gründe für die vierte Möglichkeit. Sie besteht darin, nicht die Annahme einer Nutzenmaximierung zu problematisieren, sondern die Spezifikation der Nebenbedingungen, unter denen die Maximierung des Nutzens erfolgt. Hier werden die psychologischen Forschungsergebnisse also als kognitive Restriktion in Ansatz gebracht. Gefragt wird dann nach dem rationalen Umgang mit „Irrationalität“ (im Sinne kognitiver Beschränkungen) sowie nach den institutionellen Vorkehrungen für |91|einen solchen Umgang, und dies ist eine genuin (institutionen-)ökonomische Fragestellung.[121]

(2) Die neueren Arbeiten Gary Beckers zur Weiterentwicklung der Humankapitaltheorie[122] zeigen einen Weg auf, wie die Erkenntnisse anderer Wissenschaftsdisziplinen im ökonomischen Ansatz verarbeitet werden können: Unterstellt sei eine allgemeine Haushaltsproduktionsfunktion, derzufolge ein Zielgut (Zj) durch den Einsatz von Marktgütern (xi), Zeit (Tj) und Humankapital (Hj) hergestellt wird.


Dieses Humankapital, das als Einsatzfaktor in der Produktion eines Zielgutes dessen Schattenpreis mitbestimmt, lässt sich nun weiter differenzieren in Personal- und Sozialkapital. Es sind diese beiden Kategorien, die einen geeigneten Ansatzpunkt bilden, um insbesondere psychologischen, pädagogischen, physiologischen und soziologischen Erkenntnissen über die Bestimmungsfaktoren menschlichen Verhaltens Rechnung zu tragen.

„Personalkapital“ ist der ökonomische Fachausdruck für das, was man umgangssprachlich als „Körper und Seele“ eines Menschen bezeichnet. Es handelt sich um eine Zusammenfassung von psychischem und physischem Kapital. Man könnte auch von mentalem, geistigem Kapital einerseits und Gesundheitskapital andererseits sprechen. Der entscheidende Punkt hierbei ist, dass das Personalkapital die periodischen Nutzenmaximierungsanstrengungen des modellierten Individuums intertemporal verknüpft. Auf diese Weise lässt sich ökonomisch erklären, „why, for example, the desire to smoke is greater when a person has been smoking heavily for a while, why eating corn flakes regularly for breakfast increases the future demand for this cereal, why telling lies and acting violently increases the tendency to lie and commit violence, why saving becomes habitual, even when people become old and have few years to spend their wealth, why growing up in a religious family greatly increases the likelihood that a person is religious as an adult, or why living with a wife for many years generates such strong dependencies that the husband may experience a mental and physical breakdown after she dies“[123].

In diesem Modell lässt sich berücksichtigen, dass die Vergangenheit einen Schatten auf die Zukunft wirft: Heutige Aktivitäten führen zum Abbau bzw. Aufbau von Personalkapital und bestimmen damit einen Teil der Restriktionen für zukünftige Aktivitäten, ebenso wie heutige Aktivitäten von jenem Bestand an Personalkapital auszugehen haben, der das Resultat früherer Aktivitäten ist. Aus dieser Perspektive ist der Mensch gewissermaßen ein Gefangener seiner Erfahrungen. Aber er ist kein willenloser Sklave dieser Erfahrungen, denn er kann – wenn schon nicht auf seine vergangenen, so doch – auf seine gegenwärtigen und zukünftigen Erfahrungen systematisch Einfluss nehmen. In diesem Sinn hat jeder Mensch sein Schicksal zumindest teilweise selbst in der Hand.

|92|Der Begriff „Personalkapital“ verweist darauf, dass eine Person das ist, was sie geworden ist. Da sich dieser Kapitalbestand zwar in Grenzen, nicht aber beliebig ändern lässt, kommt es zu Pfadabhängigkeiten personaler Entwicklung: „Parents have enormous influence over the experiences of their children, especially during the formative early years, and these childhood experiences can greatly influence adult … choices. For example, adults who had hard-working and caring parents tend to work harder and care more about their children than adults who had abusive parents, or parents who were addicted to drugs.“[124]

„Sozialkapital“ ist der ökonomische Ausdruck dafür, dass rationales Verhalten durch die Erwartungen der Umwelt – zwar nicht fremdbestimmt, wohl aber – zumindest mitbestimmt wird. Im Unterschied zur Kategorie des Personalkapitals steht hier nicht der inter-temporale, sondern der inter-personale Aspekt im Vordergrund: die soziale Einbettung individuellen Handelns: „Men and women want respect, recognition, prestige, acceptance, and power from their family, friends, peers, and others. Consumption and other activities have a major social component partly because they take place in public. As a result, people often choose restaurants, neighborhoods, schools, books to read, political opinions, food or leisure activities with an eye to pleasing peers and others in their social network.“[125]

Mit Hilfe der Kategorie des Sozialkapitals kann die ökonomische Modell-Logik intakt gehalten und dennoch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das Verhalten des einzelnen auch davon bestimmt wird, wie sich seine Umwelt verhält. Der entscheidende Punkt ist, dass dieser soziale Einfluss nun als eine Restriktion individuellen Verhaltens modelliert werden kann. Hier erfolgt also eine Umrechnung: Verhaltensphänomene, die traditionell nur auf Präferenzenänderungen zugerechnet werden konnten, lassen sich aufgrund der kategorialen Umstellungen im Becker-Ansatz nun auf Restriktionenänderungen zurechnen, und zwar unter Verwendung des herkömmlichen Schemas von Preis- und Einkommenseffekten. Während Stigler und Becker Mitte der 1970er Jahre ihre methodologische Botschaft noch auf die Formel brachten „De gustibus non est disputandum“[126], gilt nunmehr im ökonomischen Ansatz: De gustibus est disputandum.

(3) Die bisherigen Überlegungen haben zu zeigen versucht, dass gerade die imperialistisch ausgerichtete Ökonomik ein Interesse an Interdisziplinarität hat, ein Interesse daran, die für ökonomische Problemstellungen relevanten Erkenntnisse anderer Wissenschaften in ihre eigene Problembearbeitung aufzunehmen, wobei das Verfahren dieser Problembearbeitung ein genuin ökonomisches Verfahren bleibt. Interdisziplinarität kann sinnvollerweise nicht heißen, dass die Ökonomik (oder eine andere Wissenschaft) ihren Charakter als Disziplin aufgibt. |93|Der methodische Ansatz, durch den sich die Ökonomik als wissenschaftliche Disziplin konstituiert, steht nicht zur Disposition. Ganz im Gegenteil: Wenn die Aufnahme „weicher“ Faktoren theoretisch fruchtbar sein soll, bedarf es einer „harten“ Methodologie und eines „harten“ Festhaltens an dieser Methodologie.

Wie könnte man sich nun eine Interdisziplinarität vorstellen, bei der die Ökonomik nicht (nur) die Nehmende, sondern (auch) die Gebende ist? Was hat der ökonomische Imperialismus anderen Wissenschaftsdisziplinen zu bieten? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob die Disziplinen, deren Beziehung als Inter-Disziplinarität thematisiert wird, im Verhältnis einer Theorienkonkurrenz oder einer Theorienkooperation zueinander stehen.

Der erste Fall ist vergleichsweise trivial. Dort, wo verschiedene Wissenschaften, insbesondere Sozialwissenschaften, sich den gleichen Problemen stellen, aber unterschiedliche Verfahren der Problembearbeitung verwenden, wird sich im Wissenschaftsbetrieb à la longue das leistungsfähigere Verfahren durchsetzen. Insofern spricht einiges dafür, dass der Rational-Choice-Ansatz in den Sozialwissenschaften seine eigentliche Karriere noch vor sich hat.[127] Dies bedeutet freilich nicht, dass nun alle Vertreter sozialwissenschaftlicher Disziplinen zu Ökonomen mutieren, sondern es bedeutet, dass zumindest einige von ihnen ein ursprünglich in der Ökonomik entwickeltes Zurechnungsschema verwenden und bei dieser Verwendung – d.h. bei der Übersetzung sozialer Sachverhalte in Situationsdeutungen und bei der empirischen Überprüfung der Implikationen solcher Situationsdeutungen – ihre komparativen Vorteile ausspielen. Ein so verstandener ökonomischer Imperialismus führt nicht zur Gleichschaltung der Disziplinen, sondern zu einer neuen Art von Arbeitsteilung mit Spezialisierung und Gedankenaustausch.[128]

Der interessantere Fall ist daher der einer Theorienkooperation. Einerseits ist es sicherlich richtig, dass das Potential der Fragestellungen, die sich mit einer mikrofundierten Makroanalyse erfolgreich, d.h. erkenntnisfördernd, angehen |94|lassen, derzeit noch keineswegs auch nur annähernd ausgeschöpft wäre. Andererseits jedoch wird niemand ernsthaft bestreiten können – und wird kein ökonomischer Imperialist bestreiten wollen –, dass es auch noch andere interessante und wichtige Fragen gibt, die außerhalb des Blickfelds einer ökonomischen Perspektive liegen. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Die ethische Frage danach, was ein gutes Leben auszeichnet, lässt sich nicht ökonomisch beantworten. Nicht ökonomisch beantworten lässt sich auch die systemtheoretische Frage, welche Strukturmerkmale die moderne von der traditionalen Gesellschaftsformation unterscheiden. Dessen unbeschadet, können die Antworten auf beide Fragen für die Ökonomik wichtig werden: als Hintergrundtheorien für Restriktionen, die in der Ökonomik in Ansatz gebracht werden. Inwiefern umgekehrt relevante ökonomische Erkenntnisse in der Moraltheorie oder in der Systemtheorie – nicht eklektizistisch, sondern disziplinimmanent, d.h. im Rahmen einer konsistenten Methode – verarbeitet werden können, kann hier nicht mehr abschließend diskutiert, sondern nur als derzeit weitgehend offenes Forschungsproblem ausgewiesen werden.[129]

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