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|70|Gary Becker (1930–2014)

„Nicht die ‚sachlichen‘ Zusammenhänge der ‚Dinge‘, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde: wo mit neuer Methode einem neuen Problem nachgegangen wird und dadurch Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeutsame Gesichtspunkte eröffnen, da entsteht eine neue ‚Wissenschaft‘.“ Max Weber (1922, 1988; S. 92, H.i.O.)

„[W]as die Ökonomi[k] als Disziplin von anderen Disziplinen in den Sozialwissenschaften hauptsächlich unterscheidet, ist nicht ihr Gegenstand, sondern ihr Ansatz.“ Gary S. Becker (1976, 1982; S. 3)

Gary S. Beckers ökonomischer Imperialismus[93]

Reduziert man den Begriff „ökonomischer Imperialismus“ nicht von vornherein auf das pejorative (Miss-)Verständnis, mit dem er von manchen geradezu als Schimpfwort verwendet wird, sondern fasst man ihn zunächst einmal auf als eine neutrale Bezeichnung für das Phänomen, dass der ökonomische Ansatz auch auf Probleme angewendet wird, die nicht zum traditionellen Problemkanon der Wirtschaftswissenschaften gehören, dann ist Gary Becker sicherlich der ökonomische Imperialist par excellence. Zur ökonomischen Theorie der Politik und zur ökonomischen Theorie des Rechts hat er frühe und wegweisende Beiträge geliefert, und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die ökonomische Theorie der Familie von ihm allererst ins Leben gerufen – bzw. in Anerkennung der klassischen Arbeiten von Malthus: ins Leben zurückgerufen – wurde. Auch die Karriere, die der Rational-Choice-Ansatz in der Soziologie – und, wenn auch zaghaft, sogar in der deutschsprachigen Soziologie – zu machen beginnt, wäre |71|ohne die Pionierarbeiten Gary Beckers schlechterdings nicht denkbar gewesen.[94]

Üblicherweise wird der ökonomische Imperialismus im allgemeinen und das wissenschaftliche Werk Gary Beckers im besonderen als Ausdehnung des Anwendungsbereichs ökonomischer Analyse aufgefasst, und diese Bereichsausdehnung wird dann regelmäßig als inter-disziplinäre Herausforderung wahrgenommen. Ein typisches Beispiel hierfür bietet die Begründung, mit der der Nobelpreis 1992 an Gary Becker verliehen wurde. In der Pressemitteilung der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften heißt es: „Gary Becker’s research contribution consists primarily of having extended the domain of economic theory to aspects of human behavior which had previously been dealt with – if at all – by other social science disciplines such as sociology, demography and criminology.“[95]

Erst vor einem solchen Hintergrund wird verständlich, warum der ökonomische Imperialismus, dessen Protagonist Gary Becker ist, auf so viel Ablehnung und Widerstand getroffen ist – und immer noch trifft. Hinter der ökonomischen „Bereichs“-Ausdehnung wird die Tendenz vermutet, anderen Wissenschaftsdisziplinen könne bzw. solle „deren“ (sic) „Gebiet“ (sic) streitig gemacht werden. Und in der Tat: Wenn man die Wissenschaftslandschaft mit einer Schrebergartenkolonie gleichsetzt, in der die einzelnen Parzellen den jeweiligen Einzelwissenschaften zur exklusiven Bearbeitung zugewiesen werden, dann muss es notgedrungen schwerfallen, im ökonomischen Imperialismus etwas anderes zu sehen als eine – an sich illegitime – Grenzüberschreitung, d.h. Grenzverletzung. Insofern spielt die pejorative Verwendung des Begriffs „ökonomischer Imperialismus“ nicht nur mit der „Bereichs“-Metapher, sondern sie ist selbst Ausdruck eines Revierverhaltens, das auf eine (vermeintliche) Grenzverletzung reagiert, die man sich als Besatzung, d.h. als Einmischung in fremde Angelegenheiten, verbittet.

Wie sieht demgegenüber ein konstruktives Verständnis von ökonomischem Imperialismus aus? Im folgenden wird eine Lesart vorgestellt, die das Werk Gary Beckers primär als eine intra-disziplinäre Herausforderung rekonstruiert: Mit Gary Becker ändert sich zunächst einmal das Selbstverständnis von Ökonomik, und erst aufgrund dieses radikal veränderten Selbstverständnisses wird die Möglichkeit sichtbar, dass ein ökonomischer Imperialismus anderen Disziplinen nichts weggnimmt, sondern ihnen etwas zu bieten hat. Aber mehr noch: Bei der Veränderung des Selbstverständnisses von Ökonomik spielt der ökonomische Imperialismus eine wichtige Rolle. Er hat also – was oft übersehen wird – nicht nur eine Außenwirkung, sondern auch eine Binnenwirkung. Er betrifft nicht nur die „benachbarten“ Disziplinen, sondern er hat eine Bedeutung auch – und sogar vor allem – für die eigene, d.h. ökonomische, Disziplin. In Anspielung auf die Einleitungsmotti und als These formuliert: Eine sinnvolle Lösung für das |72|Problem der Inter-Disziplinarität lässt sich erst dann entwickeln, wenn man die intra-disziplinäre Transformation der traditionellen Wirtschaftswissenschaft zum ökonomischen Ansatz angemessen in Rechnung stellt.

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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