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|130|8. Popper und die Philosophie: Methodologie als ‚constitutional science‘[196]?

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(1) Zum dritten Anwendungsbeispiel: Karl Popper ist ein großer Bewunderer und zugleich ein vehementer Kritiker der Philosophie. Einerseits sieht er in der Philosophie den Versuch, den zivilisatorischen Übergang von der geschlossenen Gesellschaft zur offenen Gesellschaft zu reflektieren, d.h. einen i.w.S. politischen Problemdruck zu verarbeiten, mit der durchaus nicht-intendierten Konsequenz, dass gerade hierdurch die griechische Philosophie zur Wiege der Wissenschaften wird.[197] Andererseits spricht Popper bereits in seiner „Logik der Forschung“[198] von dem „traurigen Zustand, den man philosophische Diskussion nennt“ und den er mit seiner Wissenschaftstheorie „überwinden“ will. Und in seiner „Objektiven Erkenntnis“[199] erhebt er den Anspruch, „eine Diskussion wiederzubeleben, die drei Jahrhunderte lang in Vorverhandlungen steckengeblieben ist“. Hier finden sich scharfe Angriffe auf die von ihm so genannten „Fachphilosophen“, die er dafür verantwortlich macht, den realweltlichen Problembezug aus den Augen zu verlieren und die Philosophie zur bloßen Scholastik, zur Wortklauberei degenerieren zu lassen, „zum Argumentieren ohne ein ernsthaftes Problem“ und zum Argumentieren ohne „Maßstäbe“.[200]

|131|Poppers kritische Haltung gegenüber der Philosophie wird vielleicht am besten deutlich im ersten Teilband seiner „Vermutungen und Widerlegungen“[201], vor allem im Einleitungsaufsatz[202]. Hier bemüht er sich um eine konstruktive Kritik des Empirismus und Rationalismus, d.h. jener beiden konkurrierenden Denkschulen, die die Beobachtung bzw. den Intellekt als primäre Quelle menschlicher Erkenntnis auszeichnen. Er führt den Streit dieser Denkschulen auf eine verfehlte Fragestellung zurück. Beide fragen nach dem Ursprung des Wissens, nicht aber nach seiner Gültigkeit. Es ist eine Veränderung dieser Problemstellung, durch die Popper eine – im oben entwickelten Sinne – ‚orthogonale Positionierung‘ zu einem 300jährigen Philosophenstreit anstrebt. Poppers Versuch einer diskursiven Überbietung der beiden Gegenpositionen mündet schließlich in (s)eine „kritische Philosophie des Alltagsverstandes“[203]. Insofern verbindet sich mit seinem kritischem Rationalismus das Anliegen, die Philosophie durch eine Theorie objektiver Erkenntnis wieder auf Vordermann zu bringen: sie an den Stand der Probleme der modernen Wissenschaft heranzuführen und mit Maßstäben zu versorgen, diese Probleme rational diskutieren zu können. Die Stoßrichtung dieser Argumentation zielt also in die Philosophie hinein.[204]

Die Reformulierung des kritischen Rationalismus als eine Theorie argumentationsgestützten sozialen Lernens, das auf konstruktive Kritik angewiesenen ist, bietet hingegen die Möglichkeit, die argumentative Stoßrichtung gleichsam umzukehren, d.h. die Methodologie nicht in die Philosophie hineinzutragen, sondern sie von der Philosophie zu emanzipieren und als ‚constitutional science‘ einzelwissenschaftlich zu etablieren. Es geht um eine Entwicklung aus der Philosophie heraus, hinein in eine eigens spezialisierte Wissenschaftsdisziplin. Einige Überlegungen hierzu seien im folgenden zumindest angedeutet.

(2) Folgt man der hier vorgeschlagenen Reformulierung des kritischen Rationalismus, so sind der wissenschaftliche Diskurs und der politische Diskurs darin analog, dass sie auf soziales Lernen – genauer: auf ein argumentationsgestütztes soziales Lernen – angelegt sind. Argumentationsgestütztes soziales Lernen aber schreitet fort im Wege konstruktiver Kritik, durch die eine diskursive Überbietungsrationalität freigesetzt wird. Diese Überbietungsrationalität ist bereichsübergreifend am Werk. Je nach Rahmenbedingungen, äußert sich die methodische Anwendung des gesunden Menschenverstandes in eigens hochspezialisierten Kontexten als politische Rationalität oder – noch spezifischer – als wissenschaftliche Rationalität. Zwischen diesen Bereichen gibt es folglich kein Rationalitätsgefälle, sondern allenfalls ein Spezialisierungsgefälle. Entscheidend ist jedoch die diskursive Gemeinsamkeit der beiden Bereiche: Sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch innerhalb der Politik hängen Fortschritte vom Verfahren konstruktiver Kritik ab. Die Methode der Wissenschaft ist nicht anders |132|als die Methode der Politik eine Methode des Lernens; mit Popper: eine Methode sozialen Lernens durch Kritik – über Popper hinaus: eine Methode argumentationsgestützten sozialen Lernens durch konstruktive Kritik. Dies zieht folgende Implikation nach sich: Wenn Lernfortschritte – bereichsübergreifend – durch die Methode konstruktiver Kritik zustande kommen, dann besteht die Aufgabe einer Methodologie darin, die diskursiven Bedingungen konstruktiver Kritik zu reflektieren und herstellen zu helfen.

Konkret geht es darum, Diskurse bereichsübergreifend darauf hin zu untersuchen, ob die ihnen zugrunde liegende Problemstellung mit den im Diskurs verfolgten Strategien zur Problembearbeitung kategorial abgestimmt ist, d.h. ob eine gemeinsame Argumentationsbasis vorliegt. Ohne die Möglichkeit konstruktiver Kritik sind diskursive Lernprozesse blockiert. Die Auflösung der damit einher gehenden Denk- und Handlungsblockaden erfordert kategoriale Umstellungen, die das scheinbar Inkommensurable kommensurabel machen. Erst sie ermöglichen es, sich zu einer unproduktiven, festgefahrenen Frontstellung orthogonal zu positionieren, d.h. den widerstreitenden Parteien ein Angebot zu machen, wie sich ihr Streit – nicht unbedingt auflösen, aber doch – produktiver gestalten ließe, und zwar produktiver aus ihrer jeweils eigenen Sicht.

In Anlehnung an – und in Abgrenzung zu – Poppers ‚Situationslogik‘, ließe sich die Methode einer solchen Methodologie treffend als ‚Argumentationslogik‘ bezeichnen. Metaphorisch ausgedrückt, geht es um die Verfassung für den Markt der Meinungen und um Verfassungsänderungen, die dem Meinungsaustausch förderlich sind, indem sie den Meinungswettbewerb forcieren. Es geht um die diskursiven Rahmenbedingungen für kompetitive Argumente. Eine auf die Methode konstruktiver Kritik reflektierende Methodologie, die bereichsübergreifend auf die diskursiven Rahmenbedingungen von Wissenschaft und Politik angewendet werden kann, ist im Kern eine konstitutionelle Theorie, eine Theorie der Verfassung, oder – paradox formuliert – als ‚constitutional science‘ eine Disziplin für Interdisziplinarität. Als These zusammengefasst: Wenn – bereichsübergreifend – die Methode konstruktiver Kritik wichtig ist für zivilisatorischen Fortschritt, wenn ferner die kategoriale Verfassung der diskursiven Argumentationsbasis entscheidend ist für die Möglichkeit konstruktiver Kritik, dann ist die Aufgabe einer allgemeinen Methodologie darin zu sehen, bereichsübergreifend das ‚Denken in Verfassungen‘[205] zu schulen.

|133|Eine solche ‚constitutional science‘ stellt sich als Methodologie das Problem, die Methode konstruktiver Kritik zu untersuchen, und sie bearbeitet dieses Problem, indem sie sich – über die üblichen Disziplingrenzen hinweg – auf die Suche nach orthogonalen Positionierungen spezialisiert: auf die Suche nach kategorialen Umstellungen, nach Perspektivwechseln, mit denen sich Denk- und Handlungsblockaden aufbrechen lassen.[206] Hierbei wird sie sich zunächst an den (modernen) Klassikern der Gesellschaftstheorie orientieren müssen, denn solange – aufgrund mangelnder Spezialisierung? – noch keine Seriositätsstandards diskursiver Methodologie allgemein anerkannt sind, kann eine Theorie über die kategoriale Verfassung argumentationsgestützter Lernprozesse ihre Maßstäbe nur gewinnen, indem sie sie in der Auseinandersetzung mit geeigneten Vorbildern erarbeitet. Zu solchen Vorbildern gehören eher gesellschaftsphilosophisch orientierte Autoren wie etwa John Rawls und James Buchanan, eher gesellschaftstheoretisch orientierte Autoren wie etwa Gary Becker und James Coleman, eher gesellschaftspolitisch orientierte Autoren wie etwa Friedrich August von Hayek oder Walter Eucken, aber auch all jene, die – insbesondere in den Sozialwissenschaften – grundlegende Perspektivwechsel eingefordert und herbeigeführt haben, also etwa Mancur Olson, Ronald Coase, Oliver Williamson und Douglass North oder Max Weber und Niklas Luhmann. Es versteht sich von selbst, dass Karl Popper in dieser zweifellos sehr unvollständigen Liste einen prominenten Platz einnimmt, denn sein Werk ist wie kaum ein zweites geeignet, das Forschungsprogramm einer allgemeinen, Wissenschaft und Politik umfassenden, Methodologie zu inspirieren.[207]

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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