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1. Die Entwicklung des Forschungsprogramms zum ökonomischen Ansatz

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Nicht nur die Begründung der Nobelpreisverleihung durch die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften, auch die beiden Laudationes geben einen Überblick über das Werk Gary Beckers. Alle drei Überblicke weisen die Gemeinsamkeit auf, dass sie primär chronologisch vorgehen und die einzelnen Anwendungs-„Bereiche“ vorstellen, auf denen Becker – oft wegweisend – gearbeitet hat. Hierzu zählen – in der Preisbegründung und in der Laudatio von Rosen (1993) – die Humankapitaltheorie, die Familienökonomik sowie die ökonomischen Theorien der Kriminalität und der Diskriminierung, während in der Laudatio von Sandmo (1993) noch zusätzlich Beckers Arbeiten zur Zeitallokation, zur sozialen Interaktion und zur Theorie der Politik genannt werden.

Demgegenüber ist die folgende Rekonstruktion des Becker-Ansatzes nicht in erster Linie thematisch, sondern systematisch orientiert. Dass sie zur Chronologie weitgehend parallel verläuft, ist ein Reflex des Umstands, dass Becker seine Arbeiten strikt an Problemen ausgerichtet hat, so dass es der Zusammenhang der Probleme ist – und die Theoriestrategie ihrer Bearbeitung –, von der die Entwicklung seines Forschungsprogramms ihre Kohärenz bezieht. Als These formuliert: Die Entwicklungslogik des Forschungsprogramms gelangt erst dann ins Blickfeld, wenn man nicht nach den Bereichen, sondern nach den Problemen fragt, auf die Becker seinen ökonomischen Ansatz anwendet – präziser: aus deren Bearbeitung Beckers ökonomischer Ansatz allererst hervorgeht und allmählich jene Gestalt gewinnt, in der er heute als primär intra-disziplinäre Herausforderung der traditionellen Ökonomik und als erst sekundär inter-disziplinäre Herausforderung der Sozialwissenschaften vorliegt.

(1) Mitte der 1950er Jahre sieht sich Becker mit einer wirtschaftswissenschaftlichen Preistheorie konfrontiert, die streng trennt zwischen Haushalten und Firmen und damit auf einer kategorialen Unterscheidung von Konsum und Produktion beruht.[96] In dieser Theorie sind alle Akteure eingebettet in Märkte. Innerhalb eines Sektors stehen sie in Wettbewerbsverhältnissen zueinander, zwischen Sektoren stehen sie in Tauschverhältnissen. Die Haushalte bedienen den Firmensektor mit Arbeit und Kapital, und die Firmen bedienen den Haushaltssektor mit Gütern und Dienstleistungen (Abbildung 1).

In diesem Modell leiten sich die Preise auf den Faktormärkten letzten Endes von den Preisen auf den Gütermärkten her. Insofern sorgen die Märkte für einen komplexen Nexus zwischen den volkswirtschaftlich verfügbaren Ressourcen einerseits und den individuellen Bedürfnissen andererseits. Oder noch einfacher |73|ausgedrückt: Die Produktion dient – einzig und allein – dem Konsum. Von daher kommt der Güternachfrage eine zentrale Stellung zu.

Abbildung 1:

Produktion und Konsum in der ökonomischen Standardtheorie

Diese Güternachfrage wird wie folgt modelliert. Unterstellt wird ein repräsentativer Haushalt, der eine über Marktgüter (xi) definierte Nutzenfunktion (U) maximiert.

für i = 1, …, n.

Dabei hat er als Nebenbedingung zu beachten, dass er die Güter, die er konsumieren möchte, zuvor am Markt erwerben muss, hierfür aber nicht mehr Geld ausgeben kann, als er in seiner Rolle als Anbieter von Faktorleistungen einnimmt. Für jede Mengeneinheit des Marktgutes xi ist ein Preis in Höhe von pi zu entrichten. Das verfügbare Einkommen beträgt B. Mithin lautet die Budgetrestriktion:


Maximiert ein Haushalt seine Nutzenfunktion unter Berücksichtigung dieser Nebenbedingung, so lässt sich sein Optimalverhalten im Gleichgewicht durch folgende „First-Order-Condition“ kennzeichnen:


Hierbei gibt die linke Seite der Optimalbedingung die Grenzrate der Substitution an. Sie sagt aus, auf wieviel Einheiten von Gut 2 der Haushalt zu verzichten bereit ist, um eine zusätzliche Einheit von Gut 1 zu kaufen. Die rechte Seite der Optimalbedingung hingegen gibt die Grenzrate der Transformation an. Sie sagt aus, auf wieviel Einheiten von Gut 2 er tatsächlich verzichten muss, wenn er am Markt eine zusätzliche Einheit von Gut 1 kaufen will. Insofern thematisieren beide Seiten der Gleichung einen Tradeoff zwischen den beiden Marktgütern x1 und x2: In bezug auf diesen Tradeoff spiegelt die linke Seite das subjektive Wollen, die rechte Seite das – marktvermittelte – objektive Können des Haushalts wider.

Graphisch ergibt sich das optimale Verhaltensgleichgewicht als Tangentialpunkt zwischen einer Indifferenzkurve (U) und einer Budgetgerade (B) (Abbildung 2a). Hierbei wird die Grenzrate der Substitution, d.h. das subjektiv gewünschte Tauschverhältnis, durch die Steigung der Indifferenzkurve repräsentiert, |74|die Grenzrate der Transformation hingegen, d.h. das objektiv gegebene Tauschverhältnis, durch die Steigung der Budgetgerade. Aus diesem Modell lassen sich zwei grundlegende Aussagen analytisch herleiten: erstens die Aussage, dass „normale“ Marktgüter einen positiven Einkommenseffekt aufweisen, d.h. dass sie beide vermehrt nachgefragt werden, wenn – bei Konstanz des relativen Preisverhältnisses – die Budgetrestriktion gelockert wird, und zweitens die Aussage, dass Marktgüter denknotwendig einen negativen Preiseffekt aufweisen, d.h. dass sie weniger nachgefragt werden, wenn – bei Konstanz des Realeinkommens – ihr relativer Preis steigt. In Abbildung 2b ist ein reiner Einkommenseffekt eingezeichnet, was durch die parallele Verschiebung der Budgetgerade nach außen zum Ausdruck kommt. In Abbildung 2c hingegen ist ein reiner Preiseffekt eingezeichnet. Hier erfolgt eine Drehung der Budgetgerade, deren Steigung – gemäß Gleichung (3) – durch das relative Preisverhältnis bestimmt wird. Die Folge ist, dass vom relativ verbilligten Gut x1 mehr, vom relativ verteuerten Gut x2 hingegen weniger nachgefragt wird.

Abbildung 2:

Gleichgewicht, positiver Einkommenseffekt und negativer Substitutionseffekt einer einkommenskompensierten Preisänderung

(2) Es ist dieses grundlegende Modell, das Becker mit seinem Forschungsprogramm elaboriert: Der ökonomische Imperialismus beruht auf der Radikalisierung der „wirtschafts“-wissenschaftlichen Preistheorie zum ökonomischen Ansatz. Diese Radikalisierung erfolgt in mehreren Stufen.

Die erste Stufe bildet seine Theorie der Diskriminierung.[97] Becker untersucht, mit welchen Konsequenzen zu rechnen ist, wenn in der Wirtschaft nicht nur Präferenzen für Güter und Dienstleistungen, sondern auch Präferenzen hinsichtlich der persönlichen Eigenschaften von Tauschpartnern eine Rolle spielen. Insbesondere geht er der Frage nach, von welchen Umständen es abhängt, ob Märkte einen bestehenden Hang zur Diskriminierung entkräften oder verstärken. Der empirische Befund, der aus diesen Untersuchungen hervorgeht, nämlich dass z.B. Frauen oder Schwarze regelmäßig schlechter bezahlt werden als Männer bzw. Weiße, führt Becker zu der Folgefrage, ob diese Lohndifferenzen notwendig |75|auf Diskriminierung zurückzuführen sind oder ob nicht auch andere Faktoren hierfür verantwortlich sein könnten. Diese Frage leitet die zweite Entwicklungsstufe ein: die Formulierung der Humankapitaltheorie.[98] Sie geht davon aus, dass Kapital nicht nur – in der Form von Sachkapital – in Firmen eingesetzt wird, sondern dass auch der Produktionsfaktor Arbeit Kapitaleigenschaften aufweist, die es als gerechtfertigt erscheinen lassen, von Humankapital und folglich von Bildungs- und Ausbildungsinvestitionen in Humankapital zu sprechen, denen vergleichbare Renditekalküle zugrundeliegen wie Investitionen in Sachkapital. Lohndifferenzen können demnach auf unterschiedlich hohe Investitionen in Humankapital zurückgeführt werden.[99]

Diese beiden ersten Entwicklungsstufen weisen eine Gemeinsamkeit auf. In beiden Fällen handelt es sich weitgehend um bloße Anwendungen eines bereits vorfindlichen analytischen Instrumentariums auf neue Probleme. Die erste Anwendung macht sich das etablierte Modell rationalen Individualverhaltens zunutze, indem sie lediglich die Nutzenfunktion leicht variiert und nun eine reichhaltigere Klasse von Präferenzen berücksichtigt. Die zweite Anwendung macht sich das Modell rationaler Produktion zunutze, indem sie das Konzept des Investitionskalküls von der Sphäre der Firma auf die Sphäre des Haushalts überträgt. Beide Anwendungen ‚spielen‘ also gewissermaßen mit den Kategorien der traditionellen Preistheorie, und beide Anwendungen sind hierin außerordentlich erfolgreich.

(3) Zunächst erfolglos hingegen ist die dritte Stufe in der Entwicklung des Forschungsprogramms: Becker (1960, 1982) versucht, das Haushaltsmodell auf generatives Verhalten anzuwenden. Hierzu unterstellt er eine Präferenz für Kinder. Die zugrundeliegende Idee ist, Aussagen darüber abzuleiten, wie sich Veränderungen des individuellen Möglichkeitenraums auf das optimale Haushaltsgleichgewicht auswirken müssten. Es geht Becker also darum, generatives Verhalten auf Preis- und Einkommenseffekte hin zu untersuchen. Dieser Versuch stößt jedoch auf eine unerwartete Schwierigkeit. Er führt nämlich zu folgender Anomalie: Während des 20. Jahrhunderts sind die Einkommen der US-Haushalte drastisch angestiegen. Da es keinen Grund zu der Vermutung gibt, dass Kinder inferiore Güter sind, müsste für sie daher – wie für andere „normale“ Güter auch – eigentlich ein positiver Einkommeneffekt erwartet werden. Demgegenüber lässt sich jedoch empirisch beobachten, dass die Kinderzahl nicht gestiegen, sondern drastisch gesunken ist. Becker ist also mit der Anomalie eines negativen Einkommenseffekts konfrontiert. Familieneinkommen und Familiengröße verhalten sich der Tendenz nach nicht proportional, sondern umgekehrt proportional zueinander.

Durch diese Anomalie sieht sich Becker vor folgende Entscheidung gestellt: Entweder muss er den Anspruch aufgeben, dass der ökonomische Ansatz zur Analyse generativen Verhaltens prinzipiell anwendbar ist, oder er muss den ökonomischen |76|Ansatz so umformulieren, dass die Anomalie erklärt wird. Die erste Alternative ist nicht sonderlich fruchtbar. Sie führt ad hoc eine Einschränkung des preistheoretischen Anwendungsbereichs ein, für die die Preistheorie selbst keine Hinweise liefert. Damit bricht sie einen theoretischen Lernprozess ab, aus dem möglicherweise etwas über die Grenzen der Preistheorie in Erfahrung gebracht werden könnte. Becker entscheidet sich also für die zweite Alternative, und hier muss er nun zwischen verschiedenen theoriestrategischen Optionen wählen.

Bereits in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1960 skizziert Becker verschiedene Möglichkeiten, wie man mit der Anomalie umgehen könnte. Erstens könnte man eine positive Korrelation zwischen Einkommen und Verhütungswissen annehmen. Zweitens könnte man annehmen, Kinder seien nicht „normale“, sondern inferiore Güter. Und drittens könnte man die Annahme stabiler Präferenzen aufgeben und statt dessen unterstellen, dass die Präferenzen für Kinder systematisch mit dem Einkommen variieren. Eine andere, vierte, Möglichkeit, auf die Anomalie zu reagieren, beruht auf der Idee, zwischen Qualität und Quantität von Kindern zu unterscheiden. Dabei wird die Qualität eines Kindes durch die Kosten gemessen, die seine Eltern für Ernährung, Kleidung, Erziehung und Ausbildung in Kauf nehmen. In diesem speziellen Sinne werden teurere Kinder als Kinder höherer Qualität aufgefasst. Becker hält es für möglich, dass ein säkularer Anstieg dieser Kosten den in Wahrheit positiven Einkommenseffekt überdeckt haben könnte, und er weist darauf hin, dass als relevante Kosten nicht nur Geldausgaben, sondern auch „die für Kinder aufgewendete Zeit und Anstrengung zu veranschlagen sind“[100].

Sämtliche Vorschläge sind zum Zeitpunkt der Publikation ad hoc. Trotzdem differenziert Becker: An einem arbeitet er weiter, an den anderen nicht. In den folgenden Jahren bemüht er sich, sowohl die Unterscheidung zwischen der Qualität und Quantität von Kindern als auch das zunächst nur intuitive Kostenargument von ihrem Ad-hoc-Charakter zu befreien.

Es ist diese Anomalie eines scheinbar negativen Einkommenseffekts, d.h. gerade die Erfolglosigkeit einer bloßen Anwendung des vorfindlichen analytischen Instrumentariums, die Becker dazu führt, die Kategorien der Preistheorie noch radikaler umzustellen. Die Verarbeitung der Anomalie erfolgt schrittweise, in einem mehr als 10jährigen Prozess, so dass die einzelnen Verarbeitungsschritte die weiteren Entwicklungsstufen des Forschungsprogramms markieren, in dessen Verlauf der ökonomische Ansatz Gary Beckers allererst konstituiert wird. Anders gesagt: Erst durch die mit der Anomalie des negativen Einkommenseffekts auftretende Problemstellung wird aus den Forschungsarbeiten Gary Beckers ein Forschungsprogramm.

(4) Der erste Schritt zur Verarbeitung der Anomalie besteht in einer Selbstvergewisserung. Becker versucht, sich Klarheit darüber zu verschaffen, inwiefern es überhaupt statthaft sein kann, die Familiengröße als Ergebnis einer rationalen Entscheidung aufzufassen. Zu diesem Zweck geht er der sehr viel allgemeiner gestellten Frage nach, welcher methodische Stellenwert der Rationalitätsannahme im Rahmen der Preistheorie zukommt: Inwiefern ist die Rationalitätsannahme |77|konstitutiv zur Herleitung der Einkommens- und Preiseffekte, mit denen die Ökonomik menschliches Verhalten zu erklären versucht?

Zur Beantwortung dieser Frage entwirft Becker ein Modell irrationalen Verhaltens[101], das zu den gleichen Verhaltensmustern führt, die im allgemeinen aus Modellen rationalen Verhaltens abgeleitet werden – sofern nur der irrationale Akteur in seinen Handlungsmöglichkeiten durch Restriktionen beschränkt wird: Unterstellt man, dass ein Akteur die für ein rationales Verhalten typischen Tradeoff-Überlegungen nicht anstellt und sich statt dessen zwischen den relevanten Verhaltensalternativen völlig zufällig entscheidet, so lässt sich der Erwartungswert für ein solches Verhaltensmuster durch den Mittelpunkt der jeweiligen Budgetgerade repräsentieren (Abbildung 3a). Dass eine Verschiebung der Budgetgerade nach außen zu positiven Einkommenseffekten führt (Abbildung 3b), ist trivial. Nicht trivial hingegen ist, dass sich auch die negativen Substitutionseffekte einer einkommenskompensierten Preisänderung einstellen, die üblicherweise nur bei rationalem Verhalten erwartet werden (Abbildung 3c): Erhöht man, ausgehend vom ursprünglichen Gleichgewicht G0, den Preis des Gutes x2 und hält das Realeinkommen des irrationalen Akteurs konstant, so verläuft seine neue Budgetgerade durch G0. Als neuer Erwartungswert ergibt sich jedoch G1. Mit Bezug auf das Gesetz der großen Zahl ist somit bereits für den einzelnen Akteur, erst recht aber für das Aggregat einzelner Akteure zu erwarten, dass das verteuerte Gut x2 zugunsten des relativ verbilligten Gutes x1 substitutiert wird. Die individuelle und erst recht die marktlich aggregierte Nachfragekurve sind somit negativ geneigt.

Mit diesem Modell gelingt es Becker, die Standardergebnisse der traditionellen Preistheorie herzuleiten, ohne auf die Standardannahmen zurückgreifen zu müssen. Positive Einkommens- und negative Preiseffekte erweisen sich somit als eine Folge von Knappheit, nicht jedoch als Folge von Rationalität, da sie auch aus irrationalem Verhalten resultieren.

Diese Überlegungen führen zu einer neuartigen Rechtfertigung der Rationalitätsannahme, deren methodischer Status dadurch radikal geändert wird. Für Gary Becker ist Rationalität nicht länger eine quasi naturalistische Annahme über die Qualität der Bewusstseinsprozesse, die sich in den Köpfen von Akteuren abspielen. Statt dessen ist für ihn die Rationalitätsannahme ein Kunstgriff zur Komplexitätsreduktion: Die Annahme, Menschen verhielten sich so, als ob sie rational seien, ist ein analytisch leistungsfähiges Instrument, um im Wege einer mikrofundierten Makroanalyse von gesamtwirtschaftlichen Daten-Änderungen via Individual-Modell auf gesamtwirtschaftliche Raten-Änderungen zu schließen. Aus dieser Perspektive ist die Rationalitätsannahme nicht länger eine Rationalitätshypothese. Sie formuliert keine empirische Aussage, sondern sie ist ein theoretisches, d.h. prä-empirisches, Konstrukt, mit dessen Hilfe sich empirische Aussagen analytisch herleiten lassen. Das Ergebnis dieser kategorialen Umstellung lässt sich in der wissenschaftstheoretischen Terminologie von Imre Lakatos wie folgt ausdrücken: Mit Gary Becker wandert die Rationalitätsannahme von |78|der falsifizierbaren Peripherie, dem „Schutzgürtel“, in den nicht-falsifizierbaren – „kritikimmunen“ – Kern des ökonomischen Forschungsprogramms.[102]

Abbildung 3:

Gleichgewicht, positiver Einkommenseffekt und negativer Substitutionseffekt in Beckers Modell irrationalen Verhaltens

Beckers Konzept einer Als-Ob-Rationalität lässt etwaige Zweifel an der Zulässigkeit einer familienökonomischen Vorgehensweise obsolet werden. Ob dem generativen Verhalten bewusste, halb-bewusste oder unbewusste Entscheidungen zugrundeliegen, ob es emotional oder traditional bestimmt wird usw., kann offen bleiben. Der ökonomische Ansatz Gary Beckers unterstellt lediglich, dass der für die Analyse generativen Verhaltens repräsentative Haushalt sich so verhält, als ob er (s)eine Nutzenfunktion rational maximierte.[103] Die Annahme, dass familiale Entscheidungen rational getroffen werden, ist hier nicht mehr als ein analytisch bequemes Instrument, um Implikationen der Knappheitsannahme – genauer: um Implikationen der empirischen Knappheitshypothese – herzuleiten.

(5) Der zweite Schritt zur Verarbeitung der Anomalie besteht in einer weiteren kategorialen Umstellung. Während die traditionelle Preistheorie mit einer strikten Trennung zwischen Firma und Haushalt operiert, nimmt Becker hier eine theoretische Integration vor. Er überträgt das firmentheoretische Konzept der Produktionsfunktion auf die Haushaltstheorie. Die Einführung des Konzepts einer Haushaltsproduktionsfunktion hat sich nicht nur als äußerst fruchtbar erwiesen, mit ihr verbindet sich auch folgende Pointe:

Bis heute entzündet sich immer wieder Unmut an der Terminologie, die Becker verwendet. Dies gilt bereits für den Begriff „Humankapital“. Es gilt in noch stärkerem Maße für den – in der Tat missverständlichen – Qualitätsbegriff.[104] Den größten Unmut dürfte jedoch hervorgerufen haben, dass Beckers ursprüngliche |79|Fassung der Theorie generativen Verhaltens Kinder in Analogie zu langlebigen Konsumgütern analysiert: Sie kosten Geld und stiften Nutzen. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, dass Becker selbst mit dieser Konzeptualisierung nicht ganz zufrieden war. Er macht daher schon in seinem Aufsatz aus dem Jahr 1960 auf wichtige Unterschiede aufmerksam: „Jede Familie muss ihre eigenen Kinder produzieren, da Kinder nicht am Markt gekauft und verkauft werden können.“[105]

Exakt dieser Gedanke markiert den Übergang zur Haushaltsproduktionsfunktion. In diesem Ansatz werden Kinder nicht länger wie Marktgüter analysiert. Vielmehr verhält es sich genau umgekehrt. Die Güter, die Nutzen stiften, werden analytisch wie Kinder behandelt: Zielgüter müssen vom Haushalt selbst produziert werden, bevor sie Nutzen stiften können. Hier liegt also nicht, wie vielfach befürchtet, eine ökonomistische Enthumanisierung des Fertilitätsverhaltens vor, sondern gerade umgekehrt eine generelle Humanisierung des Ökonomischen, und zwar dadurch, dass jegliches menschliche Verhalten nunmehr nach dem Muster des Fertilitätsverhaltens interpretiert wird.

Formal kommt diese kategoriale Umstellung darin zum Ausdruck, dass die Nutzenfunktion (U) nicht mehr über Marktgüter (xi), sondern über Zielgüter (Zj) – die sog. ‚basic commodities‘ – definiert wird:

für j = 1, …, m.

Für jedes Zielgut wird eine Haushaltsproduktionsfunktion definiert. Sie gibt an, mit Hilfe welchen Ressourceneinsatzes die Zielgüter produziert werden.

für j = 1, …, m und i = 1, …, n.

Typischerweise gehen in die Haushaltsproduktion verschiedene Marktgüter (xi) ein. Im Unterschied zur traditionellen Preistheorie stiften sie also nicht direkt Nutzen, sondern müssen zum Zweck der Nutzenproduktion allererst kombiniert werden. Diese Kombination hängt vom Stand des Wissens (W) ab, d.h. von der Konsumtechnologie, über die ein Haushalt verfügt. – Im Becker-Ansatz unterliegt der Haushalt daher mindestens zwei Restriktionen: einer monetären Budgetrestriktion, die bestimmt, wieviel Marktgüter maximal eingekauft werden können, und einer technologischen Restriktion, die bestimmt, wie Marktgüter in Zielgüter transformiert werden können. Unter vereinfachenden Annahmen lassen sich diese beiden Restriktionen zu einer einzigen Restriktion zusammenfassen, indem die Technologiebedingung in die Budgetrestriktion eingesetzt wird.[106] Man erhält:


Hierbei geben die Inputkoeffizienten bij an, wieviel Einheiten des Marktgutes i eingesetzt werden müssen, um eine Mengeneinheit des Zielgutes j zu produzieren. Der in Klammern gesetzte Ausdruck gibt die Faktorkosten einer Zielguteinheit |80|an. Diese Faktorkosten ergeben sich aus der Summe der mit Marktgüterpreisen bewerteten Inputkoeffizienten. Im Becker-Ansatz werden diese Faktorkosten als Schattenpreis (Sj) des Zielgutes j interpretiert:


Mit Hilfe dieses Schattenpreises lässt sich die neue Restriktion umschreiben. Statt Gleichung (6) erhält man:


Diese Budgetrestriktion sagt aus, dass die Ausgabensumme für Basisgüter das verfügbare Einkommen nicht überschreiten darf. Wird die über Zielgüter definierte Nutzenfunktion unter Beachtung dieser Nebenbedingung maximiert, so lässt sich das Verhaltensgleichgewicht des Haushalts durch folgende Optimalitätsbedingung erster Ordnung kennzeichnen:


Vergleicht man die Gleichungen (1), (2) und (3) mit den Gleichungen (4), (8) und (9), so wird sofort deutlich, dass der Becker-Ansatz die formale Struktur des mathematischen Kalküls der traditionellen Preistheorie beibehält. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass der Becker-Ansatz aufgrund kategorialer Umstellungen eine reichhaltigere Klasse von Restriktionen berücksichtigen kann, mit der Folge, dass nun nicht mehr lediglich die monetären Preise der Marktgüter, sondern statt dessen die allgemeiner definierten Schattenpreise der Zielgüter herangezogen werden können, um die jeweils verhaltensrelevanten Opportunitätskosten situationsadäquat – d.h. in einer dem jeweiligen Erklärungsproblem angemessenen Weise – zu bestimmen.

(6) Die Möglichkeit, durch die Haushaltsproduktionsfunktion mehr Restriktionen – und das heißt vor allem: andere als die rein monetären Restriktionen der traditionellen Preistheorie – in Rechnung zu stellen, kommt freilich erst mit dem dritten Schritt voll zum Tragen: der Entwicklung der Zeitallokationstheorie, die neben Geld und Wissen die – zunehmend knappe – Ressource Zeit als Einsatzfaktor der Haushaltsproduktion in Ansatz bringt.[107]

Berücksichtigt man, dass die Haushaltsproduktion Zeit erfordert, so bestimmt die Konsumtechnologie nicht nur, wie sich Marktgüter in Zielgüter transformieren lassen, sondern sie bestimmt auch, wieviel Zeit für die einzelnen Produktionsvorgänge jeweils aufgewendet werden muss. Dies schlägt sich in der Definition des Schattenpreises nieder:


|81|Der Schattenpreis Sj gibt die Faktorkosten an, die bei der Produktion einer Einheit des Zielgutes j anfallen. Diese Faktorkosten setzen sich aus zwei Komponenten zusammen, die symmetrisch aufgebaut sind. Sie enthalten jeweils einen Mengen- und einen Preisbestandteil. Die erste Komponente enthält – wie bisher – die mit den jeweiligen Marktpreisen (pi) gewichteten Inputkoeffizienten der Marktgüter (bij). Die zweite – zusätzliche – Komponente enthält den mit dem Zeitpreis gewichteten Zeitinputkoeffizienten (tj), wobei als Zeitpreis der Opportunitätskostensatz der Konsumzeit, d.h. der Lohnsatz (w), angesetzt wird.

Als unmittelbare Implikation dieser Konzeptualisierung folgt, dass ein gestiegener Lohnsatz den Schattenpreis jener Zielgüter überproportional ansteigen lässt, die relativ zeitintensiv produziert werden: Aus Gleichung (9) lässt sich ersehen, dass ein Anstieg von S1 relativ zu S2 einen rationalen Nutzenmaximierer veranlasst, sein Verhalten marginal dahingehend anzupassen, dass er weniger von Z1 und dafür mehr von Z2 produziert.[108]

Aus diesen Überlegungen folgt ein signifikanter Erklärungsbeitrag für das empirisch beobachtbare Fertilitätsverhalten. Interpretiert man Kinder als Zielgut Z1 und setzt Z2 für das Bündel aller übrigen Zielgüter, so kann unter der empirischen Annahme, dass das Aufziehen von Kindern: ihre Betreuung, Erziehung, Pflege usw., relativ zeitintensiver ist als der Durchschnitt der anderen Konsumaktivitäten, der empirische Befund eines negativen Einkommenseffekts in ökonomischen Kategorien erklärt werden. Er verliert damit seinen Status als Anomalie.

Die Kernidee dieser Erklärung stellt darauf ab, dass in praktisch allen entwickelten Gesellschaften der Lohnsatz für weibliche Erwerbsarbeit im Verlauf der letzten Jahrzehnte stark angestiegen ist. Hiervon gehen Einkommens- und Preiseffekte aus. Einerseits verschiebt der gestiegene Lohn die Budgetgerade parallel nach außen von B0 auf B1. Der Haushalt hat mehr Ressourcen zur Verfügung. Sein Möglichkeitenraum ist erweitert. Andererseits aber wird die Budgetgerade zusätzlich noch gedreht, und zwar von B1 nach B2 (Abbildung 4a). Ihre Steigung verläuft flacher. Da diese Steigung durch das Verhältnis der Schattenpreise bestimmt wird, repräsentiert der flachere Verlauf der Budgetgerade B2 einen Preiseffekt. Er spiegelt wider, dass mit einem steigenden Lohnsatz die Opportunitätskosten der zur Haushaltsproduktion verwendeten Zeit steigen. Die steigenden Zeitkosten verteuern jene Zielgüter (Z1), die vergleichsweise zeitintensiv produziert werden, während sie jene Zielgüter (Z2) relativ verbilligen, deren Herstellung vergleichsweise wenig Zeiteinsatz erfordert.

|82|Abbildung 4:

Beckers Auflösung der Anomalie eines negativen Einkommenseffekts

Rationalverhalten unterstellt, geht von dieser Veränderung der relativen Schattenpreise ein Substitutionseffekt zugunsten zeitsparender Aktivitäten aus. In Bezug auf das relativ teurer werdende Zielgut Z1 ist daher ein negativer Preiseffekt zu konstatieren, der den positiven (sic) Einkommenseffekt teilweise kompensiert (Abbildung 4b) oder sogar überkompensiert (Abbildung 4c).

Die sinkende Geburten-Rate lässt sich also als eine rationale Reaktion auf gesellschaftliche Daten-Änderungen rekonstruieren. Ausgelegt in den Kategorien des Becker-Ansatzes, verliert der empirische Befund einer negativen Korrelation von Familiengröße und Familieneinkommen seinen anomalen Charakter. Die Berücksichtigung nicht nur monetärer, sondern auch nicht-monetärer Restriktionen verändert nämlich die theoretischen Zurechnungsmodalitäten: Sie entbindet davon, den empirischen Befund ausschließlich, d.h. undifferenziert, auf das monetäre Einkommen zurechnen zu müssen. Statt dessen erlaubt sie eine differenziertere Zurechnung auf das monetäre (volle) Einkommen und auf die – auch nicht-monetäre Bestimmungsfaktoren umfassenden – Schattenpreise: Die Anomalie des negativen Einkommenseffekts ist das Resultat eines inadäquat verengten Kategoriensystems. Beckers Erweiterung dieses Systems durch Umstellung der preistheoretischen Kategorien löst die Anomalie auf. Das Zurechnungsproblem wird durch Umrechnung gelöst.

(7) Die vollständige Verarbeitung der Anomalie erfolgt jedoch erst durch einen vierten und letzten Schritt, der auf die bereits entwickelte Humankapitaltheorie zurückgreift.[109] Wiederum wird der Nutzen, den Kinder stiften, als Zielgut aufgefasst. Zusätzlich wird nun jedoch berücksichtigt, dass dieser Kindernutzen (Z1) nicht nur von der Zahl der Kinder (N) abhängt, sondern auch von dem Humankapital (H), mit dem Kinder ausgestattet werden. Unter vereinfachenden Annahmen lässt sich entsprechende Produktionsfunktion schreiben als


Im Modell sind nun drei Schattenpreise zu unterscheiden: zum einen der Schattenpreis des Zielgutes, zum anderen die Schattenpreise für die beiden Bestandteile |83|des Zielgutes. Der Schattenpreis für das Zielgut „Kindernutzen“ betrage S1. Hieraus errechnet sich der Schattenpreis SN für die Quantität von Kindern als


Die Kosten eines zusätzlichen Kindes, gemessen durch SN, sind proportional zur Humankapitalausstattung pro Kind. Analog errechnet sich der Schattenpreis SH für die Qualität von Kindern als


SH misst die Kosten, die entstehen, wenn die durchschnittliche Humankapitalausstattung pro Kind erhöht wird. Diese Kosten sind proportional zur Anzahl der Kinder.

In diesem Modell kommt es zu einer interessanten Wechselwirkung zwischen den beiden Bestandteilen des Zielgutes „Kindernutzen“, denn der Schattenpreis für Quantität hängt ab von der Qualität, und umgekehrt hängt der Schattenpreis für Qualität von der Quantität ab. Hinter dieser multiplikativen Verknüpfung steckt folgender Sachverhalt: Die Kosten, die durch ein zusätzliches Kind entstehen, werden davon beeinflusst, wie hoch der durchschnittliche Ressourceneinsatz pro Kind ist. Wer viel in seine Kinder investiert, hat teurere Kinder als jemand, der wenig investiert. Umgekehrt werden die Kosten, die mit einer höheren Humankapitalauststattung pro Kind verbunden sind, davon beeinflusst, wie groß die Anzahl der Kinder ist. Wer viele Kinder hat, muss für einen gegebenen Qualitätsstandard vergleichsweise mehr Ressourcen einsetzen als jemand, der wenig Kinder hat. Dies betrifft übrigens materielle und immaterielle Ressourcen gleichermaßen. Wer jedem seiner Kinder eine bessere Erziehung oder – via (Aus-)Bildung – ein höheres Einkommenspotential zukommen lassen möchte oder wer jedes Kind mit einem eigenen Zimmer (einem eigenen Fahrrad, Fernseher, Computer usw.) ausstatten möchte, hat bei drei Kindern höhere Kosten auf sich zu nehmen als bei zwei Kindern.

Betrachtet man das Verhältnis der Schattenpreise für Quantität und Qualität


so zeigt sich eine zweite Variante zur Verarbeitung der Anomalie des negativen Einkommenseffekts. Während die erste Variante, im Rahmen der Zeitallokationstheorie, darauf abstellt, dass sich mit steigendem Einkommen auch die Schattenpreise der Zielgüter verändert haben, kann die zweite Variante die Anomalie sogar unter der Annahme auflösen, dass die Schattenpreise der Zielgüter konstant bleiben. Selbst wenn der Kindernutzen Z1 an sich nicht teurer wird, kann ein positiver Einkommenseffekt eine rationale Anpassung zu Lasten der Familiengröße auslösen, wenn die Einkommenselastizität der Qualität größer ist als die Einkommenselastizität der Quantität. Steigt H mit steigendem Einkommen stärker an als N, so nimmt nach Gleichung (14) auch das Verhältnis der Schattenpreise einen höheren Wert an. Quantität wird relativ teurer, so dass eine Substitution von Quantität durch Qualität ausgelöst wird. Rationalverhalten unterstellt, passt |84|sich der repräsentative Haushalt – und folglich das Aggregat aller Haushalte – dahingehend an, dass die Anzahl der Kinder reduziert und zugleich die Investition pro Kind erhöht wird.

Auch hier erfolgt die Auflösung der Anomalie durch eine kategoriale Umstellung. Während bei der ersten Variante die Zeit als eine zusätzliche Restriktion berücksichtigt wird, erhöht die zweite Variante das ökonomische Erklärungspotential dadurch, dass in einer differenzierteren Weise berücksichtigt wird, dass Kinder nicht nur durch ihre bloße Existenz, sondern auch durch ihre (erwarteten) Eigenschaften Nutzen stiften. Für beide Varianten ist daher das Konzept der Haushaltsproduktionsfunktion gleichermaßen konstitutiv. Zusammen mit dem Konzept der Als-Ob-Rationalität bildet es den analytischen Rahmen, in dem Beckers ursprüngliche Intuitionen zur Absorption der Anomalie des negativen Einkommenseffekts systematisch ausgearbeitet worden sind.

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