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6. Demokratie in Europa

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(1) Zum ersten Anwendungsbeispiel: Karl Popper gehört zu den vehementesten Verfechtern der Demokratie, die er als eine politische Methode interpretiert, aus Fehlern zu lernen, und die er (deshalb) gegen totalitäre Gefährdungen verteidigt. Sein Problem besteht darin, ein Argument zu entwickeln, das es Demokraten erlaubt, einen demokratisch gewählten Tyrannen zu bekämpfen. Zu diesem Zweck löst er den Demokratiebegriff von dem Wahlakt als Ursprung politischer Herrschaft und bindet ihn statt dessen an die verfassungskonforme Ausübung politischer Herrschaft. Sie soll einer Kontrolle durch die Bürger, d.h. die Beherrschten, unterworfen sein. Nicht die Wahl, sondern die Abwahl(möglichkeit) ist für Poppers Demokratiebegriff konstitutiv. Analog zu Poppers wissenschaftstheoretischem Perspektivwechsel weg von den Quellen (vermeintlich) sicherer Erkenntnisautorität hin zu den prozessualen Bedingungen für Erkenntnisfortschritt, verbindet sich mit seinem Demokratiebegriff ein Perspektivwechsel weg von den Quellen politischer Autorität hin zu den prozessualen Bedingungen politischer Fortschritte. Beide Perspektivwechsel verändern die jeweilige Fragestellung und rücken so die institutionellen Bedingungen sozialen Lernens in den Mittelpunkt.

Poppers Demokratiebegriff, sein Begriff einer Abwahldemokratie, enthält eine Botschaft, die nur vor dem Hintergrund einer ganz bestimmten Problemsituation, der Machtergreifung Hitlers, zu verstehen ist. Die Botschaft besteht darin, dass eine Regierung als undemokratisch, d.h. als Tyrannei, zu (dis-)qualifizieren ist, sobald sie sich durch Verfassungsmanipulation einer demokratischen Abwahlmöglichkeit entzieht, und zwar unabhängig davon, ob sie von einer Mehrheit der Bürger per Wahlakt ins Amt gesetzt worden ist. Die Pointe dieser Botschaft liegt darin, jene Anhänger der Demokratie aus einer Denk- und Handlungsblockade zu befreien, deren Demokratiebegriff an einem bloßen Oberflächenphänomen haftet: am Ursprungsakt politischer Herrschaft durch Mehrheitsbeschluss. Popper geht es darum, im Wege konstruktiver Kritik demokratische (Selbst-)Missverständnisse |121|aufzuklären, die einem demokratischen Widerstand gegen Hitler im Wege stehen. Vor diesem Hintergrund lautet die im folgenden einzulösende These, dass aufgrund der mittlerweile radikal veränderten Problemsituation nicht Poppers Pointe, sondern nur das Prinzip seiner Pointe aktualisiert werden kann.

(2) Die heutige Problemsituation ist dadurch gekennzeichnet, dass ein oberflächlicher Demokratiebegriff bewährte Institutionen in Frage stellt. Neben Forderungen nach einer sog. ‚Demokratisierung der Wirtschaft‘, die einer Enteignung privater Eigentumsrechte gleich käme, sind ‚demokratische‘ Vorbehalte gegenüber der Europäischen Union das derzeit wohl gravierendste Beispiel. Der Grund für diese Vorbehalte liegt in einer strukturellen Diskrepanz zwischen der Unionsverfassung und der Verfassung ihrer Mitgliedstaaten. In den Mitgliedstaaten wird die Regierung durch ein Parlament kontrolliert, das zugleich als Gesetzgeber tätig ist. In der Europäischen Union hingegen wird die Gesetzgebungsfunktion von den Vertretern der nationalen Regierungen ausgeübt, während das Europäische Parlament kaum über Kompetenzen verfügt. Diese strukturelle Diskrepanz wird von vielen als Demokratiedefizit, d.h. als Legitimationsdefizit, wahrgenommen.

Solange – nach nationalstaatlichem Vorbild – Demokratie mit parlamentarischer Demokratie gleichgesetzt wird, entsteht der missliche Eindruck, es gebe einen Widerspruch zwischen der Europäisierung und der Demokratisierung von Politik, denn die Verlagerung politischer Kompetenzen von den Mitgliedstaaten auf die Union kommt einer Entparlamentarisierung gleich. Es entsteht der Eindruck, als würden die materiellen und immateriellen Vorteile der Union – angefangen von friedlicher Koexistenz über kulturellen Austausch bis hin zur Freizügigkeit von Gütern und Dienstleistungen, von Arbeit und Kapital – mit Einbußen an demokratischer Grundsatztreue (teuer) erkauft.

Abbildung 5:

Die Wahrnehmungsperspektive der öffentlichen Diskussion

Anders ausgedrückt, ist die heutige Problemsituation dadurch gekennzeichnet, dass weit verbreitete Legitimationsvorstellungen einer Aneignung europäischer Kooperationserträge im Wege stehen, so als müsste man sich zwischen Europäisierung und Demokratisierung im Sinne eines Entweder-Oder entscheiden (Abb. 5).

(3) Eine Lösungsstrategie für diese Problemsituation besteht darin, den Demokratiebegriff von vornherein, d.h. systematisch, als Legitimationsbegriff zu |122|entwickeln[185]: Das einer Demokratie einzig angemessene Legitimationskriterium politischer Herrschaft ist der Konsens, die Zustimmung der Bürger zum Gesellschaftsvertrag, durch den politische Herrschaft konstituiert wird. Unter realen Knappheitsbedingungen wäre eine einstimmige Übereinkunft ausnahmslos aller Bürger jedoch nur zu prohibitiv hohen Kosten herbeizuführen. Sie ist also nicht realisierbar. Deshalb lässt sich die Zustimmung der Bürger nicht einfach durch Abstimmung sicherstellen. Vielmehr tritt an die Stelle kollektiver Mitbestimmung – in der Wirtschaft nicht anders als in der Politik, aber auch in der Wissenschaft – eine Delegation gesellschaftlicher Entscheidungsbefugnisse. Diese Delegation weist Vor- und Nachteile auf. Sie eröffnet die Möglichkeit von Spezialisierungserträgen, und zugleich ruft sie Anreizprobleme hervor. Zum einen erhöht die Delegation von Entscheidungsbefugnissen an die Akteure in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik das Kompetenzniveau; der Verzicht auf Mitbestimmung ist produktiv. Zum anderen entsteht das Problem, dass diejenigen, die letztlich in gesellschaftlichem Auftrag handeln, also z.B. Wissenschaftler, Unternehmer und Politiker, sich nicht ohne weiteres am Gemeinwohl orientieren und als Agenten die Interessen ihrer Prinzipale vernachlässigen; der Verzicht auf Mitbestimmung ist gefährlich. Deshalb sind institutionelle Sicherungen erforderlich, um die nötige Anreizkompatibilität herzustellen. Zu den im allgemeinen bewährten Sicherungen im Bereich der Politik gehört die Einrichtung von Parlamentswahlen, aber auch die Beschränkung parlamentarischer Kompetenzen, z.B. durch den in einer Verfassung verankerten Schutz von Minderheitsrechten. Hinzu gehört auch die Kontrolle des Parlaments durch eine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit sowie durch eine massenmedial und pluralistisch verfasste kritische Öffentlichkeit.

Worin genau liegt nun der Lösungsbeitrag eines solchen Denkansatzes zur skizzierten Problemsituation? Hier ist auf drei Aspekte hinzuweisen[186]: Erstens beendet die Konsenstheorie der Demokratie die weit verbreitete Konfundierung von Fragen der Legitimation politischer Herrschaft und Fragen ihrer Organisation. Legitimationsprinzip ist der Konsens, wohingegen der Parlamentarismus ein Organisationsprinzip ist, ein zugegebenermaßen wichtiges Organisationsprinzip, aber eben nur ein Organisationsprinzip neben und in Verbindung mit wichtigen anderen.

Dies führt, zweitens, dazu, dass die politische Diskussion einer europäischen Verfassung von normativen Kurzschlüssen befreit und als Zweckmäßigkeitsdiskussion sachlich(er) geführt werden kann. Die kategoriale Umstellung von Parlamentsdemokratie auf Konsensdemokratie lässt nämlich die relevanten Alternativen in einem neuen Licht erscheinen. Letztlich geht es um die Frage, durch wen die Akteure europäischer Politik kontrolliert und wie diese Kontrolleure ihrerseits mit Anreizen versorgt werden können, sich im Interesse der Bürger zu verhalten: Quis custodiet ipsos custodes? Entweder werden die Akteure europäischer Politik durch ein europäisches Parlament direkt kontrolliert, oder sie werden indirekt kontrolliert durch die nationalstaatlichen Parlamente, die die jeweiligen Regierungsvertreter auch in ihrer Rolle als Akteure europäischer Politik zur Verantwortung ziehen können. Die erste Variante kopiert das nationalstaatlich eingespielte Verfassungsmuster auf die Unionsebene. Die zweite Variante |123|trägt dem supra-nationalen Kontext Rechnung durch ein Verfahren, das sich die nationalstaatlich eingespielten Verfassungsmuster zunutze macht. In beiden Fällen erfolgt die Delegationskontrolle durch Delegierte. Es entsteht also ein Delegationsproblem zweiter Ordnung. Bei sorgfältiger Prüfung spricht einiges dafür, dass sich dieses Anreizproblem (bis auf weiteres) auf der Ebene nationalstaatlicher Parlamente leichter lösen lässt als auf der Ebene eines europäischen Parlaments, und zwar einfach deshalb, weil es (noch) keine europäische Öffentlichkeit gibt, die die seit langem erfolgreich tradierte Kontrollfunktion nationaler Öffentlichkeiten übernehmen könnte. Eingeschränkte Kompetenzkataloge europäischer Politik und qualifizierte Mehrheitserfordernisse bis hin zur Einstimmigkeit gehören zu den flankierenden Maßnahmen, durch die die beiden Verfassungsvarianten zu funktionalen Äquivalenten werden, zwischen denen folglich rein unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten entschieden werden kann. Jedenfalls verfügt keine dieser beiden Varianten – abgesehen von ihrer überlegenen Zweckmäßigkeit – über eine von vornherein höhere demokratische, d.h. legitimatorische, Dignität.

Abbildung 6:

Orthogonale Positionierung als Veränderung der Denkrichtung um 90°

Dies leitet über zum dritten Aspekt. Die Konsenstheorie der Demokratie löst den Widerspruch zwischen Europäisierung und Demokratisierung als vermeintlichen Widerspruch auf: Systematisch betrachtet, sind die Vor- und Nachteile von Delegation interdependent. Die institutionelle Kontrolle der Fehlanreize für Agenten ist sogar eine Voraussetzung dafür, dass sich die Bürger als Prinzipale auf die Delegation gesellschaftlicher Entscheidungsbefugnisse einlassen. Demokratische Vorkehrungen stehen, sofern sie zweckmäßig sind, im Dienst der Aneignung europäischer Kooperationserträge. Damit gelingt eine ‚orthogonale Positionierung‘ zur üblichen Frontstellung der öffentlichen Debatte, in der entweder (vermeintliche) Demokratiedefizite um realer Vorteile willen hingenommen werden oder aber die Aneignung europäischer Kooperationserträge mit normativen Vorbehalten belastet wird (Abb. 6). Erst diese orthogonale Positionierung: eine Veränderung der Denkrichtung um 90° bzw. 270°, löst den Anspruch konstruktiver Kritik ein, indem sie die beiden einander (vermeintlich) widersprechenden Positionen diskursiv überbietet und damit aufhebt.[187]

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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