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2. Ökonomischer Ansatz und ökonomischer Imperialismus

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Die bisherige Rekonstruktion hat zu zeigen versucht, wie sich Gary Beckers Forschungsarbeiten von 1960 bis 1973 entwickelt haben: wie sie von einem familienökonomischen Erklärungsnotstand ausgehen und dann schrittweise im Kategoriensystem der traditionellen Preistheorie Umstellungen vornehmen. Der Gedanke, dass es sich bei der solchermaßen modifizierten Preistheorie um einen allgemeinen Ansatz zur ökonomischen Analyse menschlichen Verhaltens handeln könnte, hat sich bei Gary Becker – eigenem Bekunden zufolge[110] – erst Mitte der 1970er Jahre eingestellt.[111] Nur in bezug auf dieses Forschungsprogramm wird verständlich, dass Gary Beckers ökonomischer Ansatz nicht einfach den Anwendungs-„Bereich“ einer traditionell verstandenen „Wirtschafts“-Wissenschaft ausdehnt, sondern eine Radikalisierung der Preistheorie vornimmt, die das traditionelle Verständnis von Wirtschaftswissenschaft geradezu revolutioniert. Innerhalb dieses Forschungsprogramms spielt der ökonomische Imperialismus eine wichtige Rolle. Als These formuliert: Der ökonomische Imperialismus ist kein Akzidens des ökonomischen Ansatzes, sondern ein Ingrediens; er ist keine inhaltliche Zugabe, sondern ein substantieller Bestandteil der Forschungsmethode. Nicht seine Außenwirkung, sondern seine Binnenwirkung ist von primärer Wichtigkeit.

(1) Das Forschungsprogramm Gary Beckers kann man zu dem Satz verdichten, dass sich menschliches Verhalten an Kosten orientiert. Diese Kosten werden in den Kategorien von Preis- und Einkommenseffekten ausgelegt, die sowohl monetären als auch nicht-monetären Restriktionen Rechnung tragen. Die positive Heuristik des ökonomischen Ansatzes schreibt vor, individuelle Verhaltensänderungen auf Restriktionenänderungen – und nur auf solche Restriktionenänderungen – zuzurechnen. Dieser Programmatik entspricht eine negative Heuristik, die angibt, worauf nicht zugerechnet werden soll, wenn sich der ökonomische Ansatz mit hartnäckigen Erklärungsproblemen konfrontiert sieht.

|85|Das theoriestrategische Problem, das durch diese Methodologie gelöst werden soll, lässt sich mit Hilfe von Abbildung 5 veranschaulichen. Eingerahmt ist das ökonomische Verhaltensmodell. In ihm werden individuelle Verhaltensänderungen ∆V rekonstruiert als eine rationale Anpassung an Restriktionenänderungen ∆R bei konstanten Präferenzen (Pconst.). Eingezeichnet sind vier theoriestrategische Optionen, wie mit diesem Modell im Fall eines Erklärungsnotstands umgegangen werden kann.

Die erste mögliche Reaktion besteht darin, die ökonomische Modell-Logik zu durchbrechen, indem die Annahme rationalen Verhaltens in Frage gestellt wird. Die zweite mögliche Reaktion besteht darin, die ökonomische Modell-Logik aufzuweichen, indem die Annahme konstanter Präferenzen in Frage gestellt wird. Die dritte mögliche Reaktion besteht darin, die ökonomische Modell-Logik zu immunisieren, indem die Annahme, das ökonomische Modell sei zur Erklärung menschlichen Verhaltens universell anwendbar, in Frage gestellt wird. Die vierte mögliche Reaktion schließlich besteht darin, die ökonomische Modell-Logik intakt zu lassen und – der positiven Heuristik folgend – solche Restriktionenänderungen ausfindig zu machen, die es erlauben, die (scheinbare) Verhaltensanomalie als rationale Anpassungsreaktion an einen veränderten Möglichkeitenraum zu rekonstruieren.[112]

Abbildung 5:

Beckers Theoriestrategie

Der ökonomische Ansatz Gary Beckers beruht nicht auf der empirischen Aussage, dass Menschen rational „sind“. Er beruht nicht auf der empirischen Aussage, dass die Präferenzen der Menschen konstant „sind“. Und er beruht auch nicht auf der empirischen Aussage, dass alle menschlichen Verhaltensweisen ökonomisch erklärbar „sind“. Wohl aber beruht der ökonomische Ansatz Gary Beckers auf der Aussage, dass es theoretisch fruchtbarer ist, die der jeweiligen Verhaltensanomalie zugrundeliegende Modellierung des situativen Möglichkeitenraums zu problematisieren, anstatt die Rationalitätsannahme oder die Annahme konstanter Präferenzen oder die Annahme einer – zwar problemspezifischen, aber – (bereichs-)universalen Anwendbarkeit des ökonomischen Ansatzes auf menschliches |86|Verhalten zur Disposition zu stellen, und in der Tat liefern seine im 1. Abschnitt rekonstruierten Forschungsarbeiten den besten Beleg für den empirischen Gehalt dieser methodologischen Aussage: Das Konzept der Zeitkosten musste ja allererst erfunden und ausgearbeitet werden, ebenso wie das Konzept einer Substitution zwischen Qualität und Quantität sowie das Konzept einer Haushaltsproduktionsfunktion, das für die beiden ersten Konzepte den analytischen Rahmen liefert. Hier wurde die Ökonomik weiterentwickelt. Was hätte man demgegenüber aus einer Durchbrechung, Aufweichung oder Immunisierung der ökonomischen Modell-Logik gelernt?

Die Entscheidung zwischen den skizzierten theoriestrategischen Optionen ist also nicht dogmatisch, sondern heuristisch zu verstehen. Sie orientiert sich rein am Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit. Es geht einfach darum, wie man am besten aus Fehlern lernen kann: Welches Verfahren ist vergleichsweise eher geeignet, theoretische Lernprozesse anzuleiten?

Das methodologische Argument zugunsten des Rationalitätsprinzips ist ein Argument zugunsten theoretischen Lernens.[113] Auf einem Argument zugunsten theoretischen Lernens beruht aber auch – in strikter Analogie – die methodische Anweisung, von konstanten Präferenzen und einer universalen Anwendbarkeit des ökonomischen Ansatzes auszugehen. Insofern ist der ökonomische Imperialismus keine Anmaßung im Sinne einer inhaltlichen Übertreibung, er ist kein Zeichen von Größenwahn oder intellektueller Unbescheidenheit, sondern er ist ein integraler Bestandteil der negativen Heuristik des ökonomischen Forschungsprogramms. Er beugt dem unproduktiven Abbruch ökonomischer Erklärungsversuche vor und zwingt dazu, etwaige Verhaltensanomalien auch jenseits eines i.e.S. wirtschaftlichen „Bereichs“ ernstzunehmen.

(2) Der ökonomische Ansatz Gary Beckers reduziert die Freiheitsgrade im Umgang mit dem ökonomischen Modell, aber er erhöht die Freiheitsgrade im Modell. Dies verändert die ökonomischen Zurechnungsmodalitäten, mit gravierenden |87|Auswirkungen auf die theoretischen Lernprozesse, d.h. auf das Fortschrittsmuster ökonomischer Erklärungen.

Die traditionelle Preistheorie rechnet nur mit monetären Kosten, und die hierfür relevanten Restriktionen sind leicht beobachtbar. Marktgüter, Marktpreise, Markteinkommen sind empirische, quantifizierbare Größen, die relativ exakt gemessen werden können. Aber gerade diese Eigenschaft restringiert die traditionelle Preistheorie, denn sie kann auftretende Anomalien nur im Wege einer Korrektur von Messfehlern verarbeiten.

In exakt dieser Hinsicht sorgt der Becker-Ansatz für zusätzliche Freiheitsgrade. An die Stelle objektiv messbarer monetärer Kosten treten subjektive Opportunitätskosten, die allenfalls geschätzt werden können. Becker nimmt so lange kategoriale Umstellungen vor, bis ihm schließlich eine Modellierung gelingt, in der man mit Opportunitätskosten wie mit monetären Kosten rechnen kann. Dies zieht die Konsequenz nach sich, dass auftretende Anomalien im Wege verbesserter Kostenschätzungen verarbeitet werden. Dem ökonomischen Ansatz Gary Beckers liegt eine Kostenheuristik zugrunde, die den Theoretiker dazu anhält, diejenigen Kosten – und sogar Kostenkategorien! – zu identifizieren, die es erlauben, beobachtbare Verhaltensmuster als rationale Reaktion auf veränderte monetäre und nicht-monetäre Restriktionen zu rekonstruieren.[114]

(3) Damit wiederholt sich im ökonomischen Ansatz, was bereits für den ökonomischen Ansatz dargelegt wurde: Der methodische Status zentraler Theorie-Elemente ändert sich. Die ursprünglich empirischen Konzepte der traditionellen Preistheorie werden durch theoretische Konstrukte ersetzt.[115] An die Stelle von nutzenstiftenden Marktgütern treten nutzenstiftende Zielgüter, d.h. produktive Konsumaktivitäten; anstelle des Markteinkommens wird ein umfassenderes, „volles“ Einkommen, und anstelle der Marktpreise werden umfassendere „Schatten“-Preise in Ansatz gebracht. Auf diese Weise wird das traditionelle Konzept monetärer Kosten nicht einfach um ein Konzept nicht-monetärer Kosten (bereichs-)additiv ergänzt, sondern zu einem auf subjektiven Situationswahrnehmungen beruhenden Opportunitätskostenkonzept radikalisiert.

Die radikale Folge dieser Radikalisierung besteht darin, dass sogar der methodische Kernsatz: „Menschliches Verhalten orientiert sich an Kosten“ seinen methodischen Status verändert. Wären hier, wie in der traditionellen, „wirtschafts“-wissenschaftlichen Preistheorie, mit Kosten nur monetäre Kosten gemeint, so handelte es sich bei diesem Satz um eine Hypothese, deren Gültigkeit in empirischen Tests überprüft werden könnte. Seine Aussage wäre im Prinzip falsifizierbar. Im ökonomischen Ansatz sind mit Kosten jedoch Opportunitätskosten |88|gemeint. Dies verwandelt den – mathematisch formalisierten – Nutzenmaximierungskalkül in eine reine Logik: Der Satz, dass sich menschliches Verhalten an Kosten orientiert, beansprucht im Anschluss an Gary Becker nicht länger einen empirischen, sondern einen prä-empirischen Status – er enthält keine Aussage über die Realität, sondern formuliert ein Analyse-Schema, das die Generierung von Aussagen über die Realität anleitet.[116] Die Annahme kostenorientierten Verhaltens wird an die empirischen Phänomene herangetragen, ohne selbst schon empirisch gehaltvoll zu sein. Sie ist Form, nicht Inhalt.

(4) Erst vor diesem Hintergrund dürfte verständlich werden, inwiefern sich mit Beckers ökonomischem Ansatz und seinem ökonomischen Imperialismus in der Tat zunächst einmal eine intra-disziplinäre Herausforderung verbindet: Das Konzept der Haushaltsproduktionsfunktion eröffnet Freiheitsgrade für eine produktive Anomalienverarbeitung, die freilich nur dann konsequent genutzt werden können, wenn die Freiheitsgrade für einen unproduktiven Umgang mit Erklärungsnotständen verschlossen werden. Diese Schließung des Modells verändert den methodischen Status zahlreicher Theorie-Elemente. Aus ursprünglich empirischen Annahmen werden methodische Prinzipien mit teilweise apriorischem Charakter.[117] Dies gilt nicht nur für das Rationalitätsprinzip, das Prinzip konstanter Präferenzen und das Prinzip universaler Anwendbarkeit, sondern auch für das Kostenprinzip selbst und sogar noch für die Kategorien, in denen diese Kosten ausgelegt werden. Nicht nur einzelne Modell-Elemente, sondern das gesamte Verhaltensmodell wird zu einem Zurechnungs-Schema, zu einem Schema von Einkommens- und Preiseffekten. Dieses Schema wird im Rahmen einer mikrofundierten Makroanalyse wie folgt eingesetzt (Abbildung 6): Rationalverhalten unterstellt, wird für das jeweils vorliegende Erklärungsproblem eine Situationsanalyse vorgenommen, die die jeweils situationsrelevanten Ziele und Mittel spezifiziert. Modelliert wird diese Spezifikation als Maximierung einer Nutzenfunktion unter Nebenbedingungen. Aus der „First-Order-Condition“, die ein individuelles Verhaltensoptimum charakterisiert, wird auf die verhaltenskanalisierende Wirkung von gesellschaftlichen Daten-Änderungen geschlossen, die individuell als Veränderung des situativen Möglichkeitenraums wahrgenommen werden. Dieser Schluss wird dann per Aggregation hochgerechnet zu einer gesellschaftlichen Raten-Änderung.

|89|Abbildung 6:

Das Schema einer mikrofundierten Makroanalyse

Der ökonomische Ansatz ist somit nichts anderes als ein Zurechnungsverfahren. Er stellt eine analytische Verbindung her beispielsweise zwischen der Geburten-Rate und dem Lohnsatz für weibliche Erwerbsarbeit, dessen Erhöhung als gesellschaftliche Daten-Änderung verhaltenswirksam wird, oder eine Verbindung zwischen der Kriminalitäts-Rate und dem gesellschaftlichen Datum der Bestrafungswahrscheinlichkeit oder eine Verbindung zwischen der wirtschaftlichen Wachstums-Rate und den gesellschaftlichen Daten, die etwa mit dem System sozialer Sicherung verändert werden können und daher die Anreize für elterliche Investitionen in Kinder setzen (bzw. nicht setzen). Der entscheidende Punkt ist, dass innerhalb dieses Analyseverfahrens sämtliche Theorie-Elemente ihre vorgängige – lebensweltliche, phänomenologische usw. – Plausibilität verlieren. Ihre methodische Berechtigung beziehen sie denn auch nicht als empirische Aussagen, sondern als theoretische Konstrukte, die sich bei der Generierung empirischer Aussagen als zweckmäßig erweisen.[118]

Dreh- und Angelpunkt des ökonomischen Forschungsprogramms ist eine methodisch kontrollierte „pragmatische Reduktion“[119] von Komplexität: die Übersetzung von gesellschaftlichen Daten-Änderungen (Explanans) in individuelle Preis- und Einkommenseffekte, die dann auf gesellschaftliche Raten-Änderungen (Explanandum) schließen lassen. Diese Komplexitätsreduktion enthält radikale Vereinfachungen – und wird gerade dadurch voraussetzungsreich. Und genau dies sollte gezeigt werden: Der ökonomische Imperialismus ist nicht erst die Folge davon, dass der ökonomische Ansatz erfolgreich ist, sondern er ist eine Voraussetzung für diesen Erfolg. Er ist kein Ex-Post-Phänomen, sondern eine Ex-Ante-Bedingung. Der ökonomische Imperialismus erfüllt im ökonomischen Ansatz eine heuristische Funktion. Sein methodischer Sinn besteht darin, bereichsontologische Immunisierungen zu vermeiden, d.h. einen der Wege für eine unproduktive Verarbeitung von Anomalien zu versperren. Der Imperialismus der Ökonomik leistet damit – wie der Imperialismus anderer Wissenschaftsdisziplinen auch – einer größeren Systematizität Vorschub.[120]

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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