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|5|2. Gerechtigkeit als Fairness: der gesellschaftstheoretische Kern

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Für John Rawls (1971, 1979; S. 20) ist die Gesellschaft „ein Unternehmen zur Förderung des gegenseitigen Vorteils“. Gesellschaft wird hier ausdrücklich nicht im Nullsummenparadigma gedacht, sondern im Positivsummenparadigma. Dies ist eine folgenreiche Theoriebildungsentscheidung. Sie macht es, erstens, unmöglich, über Verteilungsfragen ‚abstrakt‘ zu reden, d.h. losgelöst von der Frage, wie der zu verteilende Kuchen, das Sozialprodukt, zustandegekommen ist bzw. in Zukunft zustandekommen soll. In Nullsummenspielen hat die Verteilung keinen Einfluss auf die Produktion. Hier gewinnt der eine, was der andere verliert. In Positivsummenspielen jedoch werden mit der Verteilung zugleich die Produktionsanreize gesetzt: Allokation und Distribution sind interdependent. Über sie kann nicht getrennt, sondern immer nur simultan entschieden (und angemessen diskutiert) werden, denn der zu verteilende Kuchen hat keine konstante Größe, sondern wächst oder schrumpft je nachdem, wie verteilt wird. Das aber bedeutet, dass es einen Spielraum gibt, in dem alle Spieler einer Ungleichverteilung zustimmen können, weil auch noch die relativ schlechter Gestellten von absolut größeren Anteilen profitieren. Durch die Wahl dieser Perspektive stellt Rawls sicher, dass sein Ansatz einen wichtigen Standard sozialwissenschaftlicher Seriosität nicht schon von vornherein philosophisch unterschreitet. Knappheit und soziale Knappheitsbewältigung, kanalisiert durch Institutionen, werden hier für die Philosophie konstitutiv, und nicht zuletzt darin liegt jenes Niveau gesellschaftstheoretischer Kompetenz begründet, das den Rawlsschen Ansatz für sozialwissenschaftliche Diskurse in besonderer Weise interessant und anschlussfähig macht.

Wichtig ist aber auch, zweitens, dass die von Rawls gewählte Perspektive in seinem Ansatz einen besonderen methodischen Status erhält: Sie fungiert als Referenzmaßstab selbst für zentrale philosophische Kategorien. An dieser Stelle sei nur ein Beispiel angeführt.[5] Was eine moralische Person ist, wird nicht ‚abstrakt‘ bestimmt, sondern orientiert sich an den Erfordernissen fairer Kooperation. Auf diese Weise eröffnet das Positivsummenparadigma einen gesellschaftstheoretischen Zugang zur philosophischen Anthropologie: Rawls verwendet einen Begriff, demzufolge Personen frei und gleich und in der Lage sind, mit ihresgleichen zusammenzuarbeiten. Dieser Begriff moralischer Personalität stellt auf zwei Vermögen ab: auf die Fähigkeit, sich Gerechtigkeitsgrundsätze aktiv zu eigen zu machen, und auf die Fähigkeit, eine Konzeption des Guten auszubilden. Beides hängt eng zusammen. Für Rawls ist eine Konzeption des Guten ein geordnetes System letzter Ziele, das Individuen ihrem Handeln zugrundelegen. In eine solche Konzeption geht ein, inwiefern diese Ziele im sozialen Zusammenhang verwirklicht werden können. Genau darüber aber geben die Gerechtigkeitsgrundsätze Auskunft. Sie bilden so einen Prüfstein für soziale Kompatibilität und bewahren damit die Konzeption(en) des Guten vor privatistischer, sektiererischer Isolation. Eine Konzeption des Guten kann für Rawls nicht unabhängig von den Gerechtigkeitsgrundsätzen formuliert werden, und sie ist an diese anzupassen, sobald Widersprüche auftreten. Mit dieser Begriffsbildung werden Lernprozesse |6|konstitutiv: Kennzeichen einer moralischen Person ist das Interesse, Gerechtigkeitsgrundsätze zu erkennen – besser: anzuerkennen – und nach ihnen zu handeln sowie das Interesse, eine Konzeption des Guten auszubilden und in rationaler Weise zu verfolgen. Letztere ist also nichts Fertiges, sondern ein Projekt, das es zu verwirklichen gilt – und zwar unter gesellschaftlichen Bedingungen. Darauf macht Rawls (1992; S. 131) selbst ausdrücklich aufmerksam: Für ihn ist die Bildung des Personbegriffs in einem in mancher Hinsicht kantischen Theorieaufriss angesiedelt, unterscheidet sich von Kants Personbegriff allerdings durch einen ausgesprochenen „Vorrang des Sozialen“. Es handelt sich folglich um einen philosophischen – und hierin dezidiert normativen – Personbegriff, der mit sozialwissenschaftlichen Modellen positiver Analyse nicht verwechselt werden sollte, obwohl er in besonderer Weise durch solche Analyseergebnisse und die mit ihnen verbundenen sozialwissenschaftlichen Einsichten informiert ist.

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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