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1. Der rote Faden im Werk James Buchanans

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Das Werk James Buchanans deckt ein breites Spektrum ab, von der Finanzwissenschaft über ökonomische Analysen der Politik und Streifzüge in die politische Philosophie bis hin zur Verfassungsökonomik. Das macht es nicht leicht, den roten Faden in seinem Werk zu erkennen, und doch gibt es einen solchen roten Faden, einen grundlegenden Basisgedanken, dem Buchanan über Jahrzehnte hinweg treu geblieben ist.

Die Rekonstruktion dieses roten Fadens setzt am einfachsten biographisch ein, denn dem eigentlichen Werk sind zwei intellektuelle ‚Erweckungs‘-Erlebnisse vorgelagert, die Buchanan selbst mehrfach beschrieben hat. Mehr oder weniger zufällig sind beide Erlebnisse mit dem Ort Chicago verbunden. Erstens: Sechs Wochen Unterricht bei seinem akademischen Lehrer Frank Knight reichten aus, um den Sozialisten Buchanan konvertieren zu lassen und ihn zu jenem überzeugten Verfechter marktwirtschaftlicher Prinzipien zu machen, als der er die liberale Tradition der ökonomischen Klassiker wieder aufnimmt und fortführt. Zweitens: Unmittelbar nach seiner Promotion in Chicago fällt ihm in den Kellern der Harper Library ein Exemplar der 1896 erschienenen Finanztheoretischen Untersuchungen Knut Wicksells in die Hände, dessen Einstimmigkeitskriterium |26|für Buchanan als liberales und zugleich demokratisches Legitimationsprinzip wegweisend wird.[31]

Beide Erlebnisse gehören eng zusammen: Die Konvertierung, der politische Perspektivwechsel, am eigenen Leibe erfahren, macht Buchanan zu einem vehementen Vertreter intellektueller Aufklärung, wobei solche (normative) Auf-Klärung zunächst einmal auf der (positiven) Er-Klärung basiert, wie ein Markt funktioniert. In einem nächsten Schritt lässt sich eine solche Erklärung ausweiten: Der Rückgriff auf Wicksell erlaubt es, den Gedanken freiwilliger Tauschakte von der Wirtschaft auf die Politik zu übertragen. Die wünschenswerten Eigenschaften freiwilliger Tauschakte sind der Basisgedanke, das Paradigma, des Buchananschen Werks, das sich im Rückgriff auf diesen roten Faden in drei Stufen rekonstruieren lässt. Es handelt sich um einen – nicht unbedingt historischen, wohl aber – logischen Dreischritt, in Bezug auf den eine inhärente, problemgesteuerte Entwicklungslogik des Werks sichtbar wird.

(1) Am Anfang des Werks steht ein Ansatz normativer Finanzwissenschaft: Konfrontiert mit einer Orthodoxie, die die Einnahmen- und Ausgabenseite staatlicher Budgets getrennt voneinander behandelt, versucht Buchanan (1949) den Gedanken zu lancieren, dass beide Seiten konstitutiv zueinander gehören: als Leistung und Gegenleistung. Aus seiner Perspektive handelt es sich bei staatlichen Aktivitäten um komplexe Tauschakte, für deren Beurteilung im wesentlichen die gleichen Kriterien angelegt werden können wie für die einfachen Tauschakte in der Wirtschaft. Buchanans normative Finanzwissenschaft beruht auf der Analogisierung von ‚private choice‘ und ‚collective choice‘: Private Tauschhandlungen auf Märkten setzen eine konsensuelle Übereinkunft voraus. Sie kommen freiwillig nur dann zustande, wenn ihnen ausnahmslos alle Tauschpartner zustimmen. Analog – so Buchanans normatives Argument – sollten kollektive Tauschhandlungen im staatlichen Sektor so beschaffen sein, dass ihnen alle Bürger zustimmen können.[32]

(2) Dieser finanzwissenschaftliche Ansatz, der den Gemeinwohlgedanken dadurch operationalisiert, dass er ein normatives Beurteilungskriterium von ‚market decision-making‘ auf ‚non-market decision-making‘ überträgt, dient in erster Linie intellektueller Orientierung: Mit seiner Hilfe lassen sich Referenzvorstellungen entwickeln, denen staatliche Aktivitäten genügen sollten. Intendiert als eine Richtschnur für politisches Handeln in der Demokratie, waren die Erfahrungen mit diesem normativen Ansatz jedoch eher ernüchternd: Die Theorie liefert den Politikern Ratschläge, die diese systematisch nicht befolgen. Mit diesem Befund konfrontiert, steht Buchanan vor der Wahl, entweder das normative oder das positive Element seines Forschungsprogramms zu verstärken. Die erste Möglichkeit bestünde darin, mit verstärkten Forderungen zu reagieren, die Politiker sollten sich am Gemeinwohl orientieren. Buchanan jedoch entscheidet sich für die zweite Möglichkeit. Er nimmt den Problembefund so ernst, dass es den Versuch nicht |27|lohnt, ihn einfach normativ zu überspielen. Stattdessen analysiert er die Faktoren, durch die sich Politiker daran gehindert sehen, Ergebnisse herbeizuführen, denen alle Bürger im Prinzip (leichter) zustimmen können. Das normative Problem mangelhafter Realisationschancen politischer Ratschläge wird also positiv abgearbeitet – durch verstärkte Erklärungsanstrengungen für das Verhalten von Politikern: Aus ‚non-market decision-making‘ wird ‚public choice‘.[33]

Die zunächst normative Analogisierung von ‚private choice‘ und ‚collective choice‘ wird nun weiterentwickelt zu einer positiven Analogisierung von Wirtschaftsakteuren und politischen Akteuren: Beide verfolgen eigene Interessen. Damit lässt sich nicht nur wirtschaftliches, sondern auch politisches Verhalten als rational rekonstruieren. Das aber bedeutet, dass man nun erklären kann, warum sich Politiker so verhalten, wie sie es tun: warum sie gegen Äquivalenzkriterien verstoßen, Steuerdiskriminierung nicht abbauen und Steuergesetze nicht vereinfachen; warum sie Pakete schnüren, die nicht Transparenz, sondern Intransparenz fördern; warum sie diskretionäre Handlungsspielräume einer strikten Regelbindung (etwa in der Geldpolitik) vorziehen, ‚logrolling‘ betreiben, Handlungskompetenzen zentralisieren, Staatsverschuldung einem ausgeglichenen Haushaltsbudget vorziehen, Subventionen verteilen usw. Zugleich kann man erklären, warum bloße Appelle an die Politiker in der Regel nicht fruchten: weil sie den Politikern zumuten, gegen ihre eigenen (situationsbedingten) Interessen handeln zu sollen.

(3) Indem er Politiker als rationale Akteure ernst nimmt, füllt der Public-Choice-Ansatz die normative Lücke des ursprünglich eng finanzwissenschaftlichen Ansatzes durch positive Erklärungen auf: Wenn Politiker sich nicht so verhalten, wie die Bürger – oder im Wege einer vikarischen, die Bürgerinteressen in Ansatz bringenden Analyse: die Wissenschaftler – es gerne sähen, dann gibt es hierfür Gründe, die nicht appellativ zu überspielen, d.h. zu ignorieren, sondern angemessen in Rechnung zu stellen sind. Damit aber stellt sich die Frage, ob – und gegebenenfalls: wie – die ursprünglich normative Stoßrichtung der Analyse aufrechterhalten werden kann. Die Antwort auf diese Frage besteht in einer Analogisierung von Wirtschaftsordnung und politischer Ordnung: Aus ‚public choice‘ wird ‚constitutional economics‘.

Indem die Ökonomik erklärt, warum Politiker sich so verhalten, wie sie es tun, macht sie zugleich darauf aufmerksam, unter welchen Bedingungen sich Politiker |28|gemeinwohlorientiert verhalten und unter welchen Bedingungen sie gerade dies nicht tun (können). Indem sie rationales Handeln als restriktionsgeleitet rekonstruiert, kann die Ökonomik zeigen, wie Spielzüge durch Spielregeln kanalisiert werden, und damit rücken Institutionen ins Zentrum der theoretischen Betrachtung. Von ihnen hängt es ab, mit welchen Anreizen sich die Akteure konfrontiert sehen. Ob in der Wirtschaft eigeninteressierte Unternehmer zum Konsumentenwohl beitragen, hängt vom Charakter des jeweiligen Konkurrenzspiels ab, und dieser wird im wesentlichen durch die Regeln der Wettbewerbsordnung bestimmt, die die Eigentumsrechte und damit die Verhaltensanreize so festlegen, dass das Verhältnis der Marktgegenseiten – also das Verhältnis zwischen Produzent und Konsument – letztlich gesteuert wird über die Verhältnisse auf den Marktnebenseiten – also über den Wettbewerb zwischen den Produzenten und zwischen den Konsumenten. Damit wird es zur Aufgabe der Rahmenordnung, Konkurrenz in den Dienst der Kooperation (zwischen Tauschpartnern) treten zu lassen. Aus der Perspektive konstitutioneller Ökonomik verhält es sich in der Politik strikt analog. Ob eigeninteressierte Politiker zum Gemeinwohl beitragen, hängt vom Charakter des parlamentarischen Konkurrenzspiels ab, und dieser wird im wesentlichen durch die Regeln der politischen Wettbewerbsordnung bestimmt. Aufgabe der Verfassung ist es, die einzelnen Handlungskompetenzen und Handlungsanreize so festzulegen, dass auch in der Politik das Verhältnis der ‚Markt‘-Gegenseiten – also das Verhältnis zwischen Bürger und Politiker – letztlich über die Verhältnisse auf den ‚Markt‘-Nebenseiten gesteuert wird – also über die öffentliche Konkurrenz zwischen Interessengruppen und insbesondere über die parlamentarische Konkurrenz zwischen Politikern. Damit wird es für Buchanan zur Aufgabe der Verfassungsökonomik, den Bürgern bei der Einrichtung und Ausgestaltung der Verfassung Hilfestellung zu leisten. Sie soll positiv erklären, welche Regeln zu welchen Ergebnismustern führen, und auf der Basis einer solchen Erklärung dann normative Hypothesen darüber ableiten, wie die Regeln aussehen müssten, wenn man ‚bessere‘ – das heißt: zustimmungsfähigere, pareto-superiore – Ergebnismuster erzielen will.

Mit dieser Aufgabenbestimmung ist ein Adressatenwechsel ökonomischer Politikberatung verbunden: Konstitutionelle Ökonomik wendet sich nicht in erster Linie an die Akteure im politischen System, sondern an die demokratische Öffentlichkeit. Sie betreibt primär nicht Politiker-Beratung, sondern stattdessen Politik-Beratung. Ihr geht es um eine intellektuelle Aufklärung der Bürger – genauer: um eine intellektuelle (Selbst-)Aufklärung und schließlich (Selbst-)Gestaltung der demokratischen Gesellschaft. Buchanans konstitutionelle Ökonomik will als Theorie praktisch werden, indem sie als politische Institutionenökonomik, als ‚political constitutional economy‘ der Wahrnehmung des politischen Prozesses konstruktive Perspektiven aufzeigt und über diese intellektuelle Orientierungsleistung schließlich integrativer Bestandteil der politischen Kultur demokratischer Gesellschaften wird.[34]

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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