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1. Der ökonomische Gerechtigkeitsdiskurs

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Der Begriff „Gerechtigkeit“ ist ein Fokus nahezu aller gesellschaftspolitischen Probleme: Die Differenz zwischen reich und arm unter dem Aspekt gesellschaftlicher Integration wurde immer schon als Gerechtigkeitsproblem – z.B. als Problem des gerechten Preises –, seit dem 19. Jahrhundert spezifischer als Problem „sozialer“ Gerechtigkeit, als Problem des gesellschaftlichen Institutionensystems diskutiert.[4] Neben dem Problem des gerechten Friedens werden auch neuere Probleme mit Hilfe dieses Leitbegriffs thematisiert: Probleme der Ökologie als Fragen intergenerationeller Gerechtigkeit etwa oder das Nord-Süd-Problem als Frage einer gerechten Weltwirtschaftsordnung. In demokratischen Gesellschaften mit institutionalisierten Öffentlichkeiten werden Politikprozesse weitgehend von solchen Gerechtigkeitsdiskursen gesteuert. Hier bilden sich jene Hintergrundvorstellungen, von denen es abhängt, wie die Bürger ihrer Gesellschaft gegenüberstehen: ob sie ihr innerlich frei zustimmen können, oder ob sie sie als ungerecht und illegitim empfinden – mit gravierenden Folgen für die Bestands- und Entwicklungsaussichten einer Gesellschaft sowie die Ausrichtung der in ihr ablaufenden Politikprozesse.

Diese Funktion des Gerechtigkeitsbegriffs bringt Vor- und Nachteile mit sich. Ein besonderer Vorteil liegt zweifellos darin, dass Gerechtigkeitsdiskurse in bezug auf langanhaltende Probleme eine eigene Tradition ausbilden, die sich kritisch selbst rationalisiert und mit der Zeit das Gerechtigkeitsempfinden der Bürger prägt, also mehr unbewusst als bewusst absorbiert wird und schließlich in die Intentionen und Intuitionen eingeht. Ein weiterer Vorteil besteht sicherlich darin, dass sich auch neu auftretende Probleme in Gerechtigkeitsdiskursen thematisieren lassen, ihre Verarbeitung daher in (vor)strukturierte Bahnen gelenkt und mit Hilfe von Routinen prozessiert werden kann. Gerade in der Aufnahmefähigkeit und der daraus resultierenden Vielfalt der Gerechtigkeitsdiskurse ist die Möglichkeit zu Übertragungen und Vergleichen, ist die Möglichkeit zu gesellschaftlichen Lernprozessen und fortschreitender Rationalisierung angelegt.

Auf die möglichen Nachteile hat mit besonderem Nachdruck vor allem Friedrich August von Hayek (1976, 1981) aufmerksam gemacht. Zwar ist auch für ihn die Kategorie der Gerechtigkeit nicht nur zentral, sondern geradezu unaufgebbar – eine zivilisierte Gesellschaft könnte er sich ohne Gerechtigkeit, und das heißt für ihn: ohne das liberale Ideal einer Freiheit unter dem Gesetz, gar nicht vorstellen. Doch unterliegt für ihn ein diffuser Gerechtigkeitsbegriff stets auch der Tendenz, gerade jenes Zivilisationspotential der modernen Gesellschaft zu zerstören, das nur durch eine richtig verstandene Gerechtigkeit erhalten und weiterentwickelt werden kann. Gerade weil in der Demokratie die Gerechtigkeitsdiskurse so bedeutend sind, werden von ihnen ausgehende Fehlsteuerungen der |3|Politikprozesse so gefährlich. Um solchen Gefahren entgegenzusteuern, bemüht sich von Hayek um intellektuelle Klarheit, um Aufklärung. Zu diesem Zweck unterscheidet er zwei Varianten des Gerechtigkeitsbegriffs. Die erste ist für ihn mit den Grundsätzen einer zivilisierten Gesellschaft vereinbar, die zweite ist es nicht. Für zivilisationskompatibel hält er die Vorstellung einer Verfahrensgerechtigkeit, die in der Forderung zum Ausdruck kommt, Regeln ohne Ansehen der Person anzuwenden. Verfahrensgerechtigkeit erhöht die Erwartungssicherheit und ist so dezentraler Wissensverarbeitung förderlich. Für nicht kompatibel mit den Prinzipien einer zivilisierten Gesellschaft hingegen hält er die Vorstellung einer Ergebnisgerechtigkeit, die in der Forderung zum Ausdruck kommt, Ungleiches ungleich zu behandeln, um gleiche Ergebnisse herbeizuführen. Ergebnisgerechtigkeit schreibt dem sozialen Prozess ein ‚abstraktes‘, als von diesem Prozess unabhängig gedachtes, Verteilungsmuster vor. Aus von Hayeks Sicht verkennt die Kategorie der Ergebnisgerechtigkeit damit zum einen die Funktion individueller Ungleichheit im gesellschaftlichen Fortschrittsprozess, der in allen Bereichen des Lebens auf wettbewerbliche Innovationen konstitutiv angewiesen ist, für die es ohne Ungleichheiten keine Anreize gäbe, und zum anderen besteht für ihn die Gefahr, dass diese Kategorie unter der Bezeichnung ‚soziale Gerechtigkeit‘ von verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen dazu missbraucht wird, höchst partikuläre Interessen auf Kosten der Allgemeinheit zu verfolgen und dabei Maßnahmen durchzusetzen, die die Anreizkompatibilität und damit die einer ‚spontanen Ordnung‘ eigene Kapazität dezentraler Wissensverarbeitung letztlich zerstören können.

Ausgehend von dieser Problemexposition: einer kategorialen Unterscheidung zwischen Ergebnis- und Verfahrensgerechtigkeit, nehmen Geoffrey Brennan und James Buchanan (1985, 1993) eine Ortsbestimmung von Gerechtigkeit in der Demokratie vor. Diese Ortsbestimmung liegt auf der Linie der Hayekschen Argumentation und schreibt diese fort, indem sie eine radikale Konsequenz daraus zieht, dass es sich bei der Verfahrensgerechtigkeit um eine prozedurale, (Verfahrens)Regeln voraussetzende, Kategorie handelt: Wenn man normatives Sollen nicht mehr durch Berufung auf eine den Bürgern externe Instanz wie Gott, Kosmos, Natur, Geschichte, Evolution usw. begründen und legitimieren will, sondern statt dessen das Wollen der Menschen als einzige Quelle von Werten ansetzt – und nur einen solchen ‚normativen Individualismus‘ halten sie für einer modernen Gesellschaft angemessen –, dann kann Sollen immer nur intern, immer nur aus dem Wollen derer abgeleitet werden, die dem Sollen prinzipiell zugestimmt haben. Genau dies ist der Vollsinn von Demokratie, der in demokratisch verfassten Gesellschaften zur Geltung gebracht wird: Aus dem Wollen resultiert Sollen, indem Individuen sich auf konstitutionelle Regeln einigen, die zu befolgen verbindlich gemacht wird. Auf der Grundlage konstitutioneller Regeln werden subkonstitutionelle Regeln vereinbart, und nur in bezug auf diese subkonstitutionellen Regeln lässt sich – Brennan und Buchanan zufolge – sinnvoll von Verfahrensgerechtigkeit sprechen. Folglich ist für sie der systematische Ort der Verfahrensgerechtigkeit die subkonstitutionelle Regelhierarchie, denn nur hier ist es möglich, Gerechtigkeitsurteile nicht ‚abstrakt‘, nicht kontextunabhängig zu fällen, sondern aus dem bestehenden System institutioneller Arrangements regelinhärent abzuleiten.

|4|Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive ist nun interessant, dass eine solche Verfahrensgerechtigkeit sich primär auf Handlungen und allenfalls sekundär auf den institutionellen Handlungsrahmen bezieht. Die Kategorie der Verfahrensgerechtigkeit kann das Thema sozialer Gerechtigkeit: die Gerechtigkeit des gesellschaftlichen Institutionensystems, nur insofern abdecken, als es Handlungen gibt, die das Institutionensystem gestalten, und zugleich Regeln für diese Handlungen, in bezug auf die Gerechtigkeitsurteile gefällt werden können. In diesem Sinne lassen sich etwa die Handlungen des Gesetzgebers daraufhin überprüfen, ob sie die Verfassung einhalten, oder Rechtsverordnungen daraufhin überprüfen, ob sie die Gesetze einhalten, oder Organisationsverhalten daraufhin überprüfen, ob es Rechtsverordnungen einhält usw. Für Brennan und Buchanan lässt sich die Kategorie der Verfahrensgerechtigkeit zwar auf subkonstitutionelle Ebenen, nicht jedoch auf die konstitutionelle Ebene selbst anwenden, denn hier fehlt es an jenen vorgängigen Regeln, die ein prozedurales Gerechtigkeitsurteil überhaupt erst ermöglichen. Für sie werden konstitutionelle Regeln nicht an Gerechtigkeitsüberlegungen gemessen, sondern am Wollen der Bürger. Nicht Gerechtigkeit, sondern Demokratie bestimmt demnach die Verfassungsentscheidung. In diesem Sinn handelt es sich in der Tat um eine Ortsbestimmung von ‚Gerechtigkeit in der Demokratie‘: Gerechtigkeit ist dieser Auffassung zufolge nicht weniger, aber auch nicht mehr als ein wichtiges Hilfskonstrukt, mit dessen Hilfe sich Handeln, auch reformerisches, Institutionen gestaltendes Handeln auf Regelbefolgung: auf den Schutz legitimer Erwartungen und so daraufhin untersuchen lässt, inwiefern dieses Handeln zur Stabilität demokratisch verfasster Gesellschaften beiträgt.

An dieser Stelle lässt sich nun exakt jener Punkt markieren, an dem sich der Rawlssche Ansatz vom ökonomischen Gerechtigkeitsdiskurs unterscheidet: Rawls will eine Konzeption von Gerechtigkeit vorstellen, die sich nicht auf Handlungen, sondern auf den institutionellen Rahmen der Handlungen bezieht, nicht auf die subkonstitutionellen Regelebenen, sondern auf die konstitutionelle und suprakonstitutionelle Ebene: auf die (geschriebene) Verfassung und auf die (ungeschriebenen) Prinzipien, die der Verfassung einer modernen Gesellschaft zugrundeliegen. Pointiert zugespitzt könnte man sagen, Rawls geht es nicht um Gerechtigkeit in der Demokratie, sondern um Gerechtigkeit für die Demokratie. Ihm geht es darum, Gerechtigkeit als eine Heuristik für die demokratische Verfassungsgebung vorzustellen. Deshalb verzichtet er darauf, soziale Gerechtigkeit als eine Ausweitung von Handlungsgerechtigkeit zu konzeptualisieren. Stattdessen wählt er einen anderen Ansatz, einen Ansatz, der zudem weniger defensiv als vielmehr offensiv ausgerichtet ist, weniger die möglichen Nachteile der gesellschaftlich vorfindlichen Gerechtigkeitsdiskurse eindämmen als vielmehr die möglichen Vorteile der nachweislichen Gerechtigkeitsorientierung demokratischer Politikprozesse aneignen und für die Bürger nutzbar will.

Neben dieser programmatischen Relevanz sind es vor allem drei Merkmale, die die Rawlssche Philosophie für die Sozialwissenschaften und insbesondere für die Ökonomik interessant machen: der gesellschaftstheoretische Kern des Ansatzes; die gesellschaftspolitische Ausrichtung der Gerechtigkeitstheorie, und zwar in ihrer inhaltlichen und methodischen Dimension; sowie neuerdings eine Zeitdiagnose, die das Rawlssche Forschungsprogramm heuristisch anleitet.

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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