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3. Gerechtigkeit als Fairness: die gesellschaftspolitische Ausrichtung

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Die Hayeksche Polemik gegen „soziale Gerechtigkeit“, die nicht den zugrundeliegenden Intentionen, sondern dem Missbrauch solcher Intentionen galt, ist einer verständnisvollen Rezeption seines Arguments nicht immer förderlich gewesen. Vor diesem Hintergrund ist es ein ausgesprochener Vorzug der Rawlsschen Gerechtigkeitskonzeption, dass sie eine solche Polemik nicht mitmacht und dennoch der Kategorie der Verfahrensgerechtigkeit eine absolut dominierende Stellung einräumt: Das Programm der Theorie der Gerechtigkeit besteht darin, zwischen der philosophischen Diskurstradition und den Gerechtigkeitsintuitionen der Bürger in bezug auf die grundlegenden Institutionen ihrer Gesellschaft mit Hilfe eines Verfahrens so zu vermitteln, dass über alle Differenzen hinweg ein gemeinsamer Nenner sichtbar wird, der als Basis fungieren kann, um anfallende Politikprobleme in der modernen Demokratie konstruktiv anzugehen. Es handelt sich um das Verfahren einer situativen Übereinkunft, bei der die Fairness der Situation auf das Produkt der Übereinkunft übertragen wird: Die grundlegenden Gerechtigkeitsgrundsätze erscheinen als gerecht, weil und insofern sie unter gerechten Bedingungen, d.h. durch ein gerechtes Verfahren zustandekommen.[6]

Trotz des weitgehenden Verzichts auf Polemik ist auch der Rawlssche Ansatz zum Gegenstand zahlreicher und z.T. weitverbreiteter Missverständnisse |7|geworden. Eine wichtige Quelle solcher Missverständnisse – auch dies ist für Sozialwissenschaftler interessant, wenn auch nicht überraschend – dürfte darin zu finden sein, dass Rawls das Programm seiner Theorie der Gerechtigkeit mit Hilfe von Modellen bearbeitet, die zwar nicht formal, wohl aber begrifflich präzise gefasst sind: Je nachdem, in welchem Modellkontext sie steht, erhält eine Aussage einen völligen anderen Stellenwert, so dass sie missverständlich wird, wenn man diesen Modellkontext nicht angemessen berücksichtigt. Zu den Modellen, die für ein Verständnis der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie besonders wichtig sind, gehören neben dem Begriff einer moralischen Person die Vorstellung einer wohlgeordneten Gesellschaft und die Konstruktion des Urzustands. Beide Modelle haben einen methodisch präzisen, aber unterschiedlichen Status.

(1) Die wohlgeordnete Gesellschaft fungiert als Ideal im normativen Sinn. Sie markiert den Fluchtpunkt, auf den das Programm der Gerechtigkeitstheorie angelegt ist: Eine wohlgeordnete Gesellschaft erfüllt drei Öffentlichkeitsbedingungen (Rawls, 1992; S. 110f. und 1993; S. 66f.). Erstens wird ihre institutionelle Grundstruktur – also nicht unbedingt jedes einzelne Gesetz oder gar jeder Verwaltungsakt, sondern vielmehr die Verfassung und sogar nur die Grundzüge der Verfassung: die Prinzipien der Wirtschafts- und Rechtsordnung – durch öffentliche, d.h. allgemein bekannte und konsentierte Gerechtigkeitsgrundsätze wirksam reguliert: Gerät die Entwicklung des Institutionengefüges in Widerspruch zu den Gerechtigkeitsgrundsätzen, so wird sie an diese angepasst. Zweitens ist in einer wohlgeordneten Gesellschaft das zur Beurteilung und Anerkennung der öffentlichen Gerechtigkeitsgrundsätze erforderliche Wissen selbst öffentlich: Alle Bürger teilen die hierzu nötigen Erkenntnisse über die Natur des Menschen und die Funktionsweise der Institutionen. Darüber hinaus ist in einer wohlgeordneten Gesellschaft, drittens, die Rechtfertigung der Gerechtigkeitsgrundsätze öffentlich, und zwar in dem (eingeschränkten) Sinn öffentlich, dass sie zwar nicht allgemein bekannt, wohl aber allgemein zugänglich sein muss: als inhärenter und zugleich reflektierter Bestandteil der öffentlichen Kultur, als gelebtes Selbstverständnis. Das bedeutet, dass jeder Bürger das begründete Vertrauen haben kann, im Bedarfsfall auf ein theoretisches Verständnis des gesellschaftlichen Institutionensystems zurückgreifen zu können, das ihm den sozialen Sinn der dieses System regulierenden Gerechtigkeitsgrundsätze dechiffriert.

Mit diesen drei Bedingungen gewährt eine wohlgeordnete Gesellschaft ihren Bürgern Autonomie im emphatischen Sinn – Rawls (1992; S. 88) spricht von „vollständiger Autonomie“: Voll autonome Bürger sind in mehrerlei Hinsicht frei. Zum einen hängt ihre Identität nicht an einer besonderen Konzeption des Guten. Sie bleiben sie selbst, auch wenn sie am System ihrer letzten Ziele Revisionen vornehmen. Der Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft ist frei zu lernen und in diesem Sinn unabhängig von den einzelnen besonderen Anschauungen, die er sich im Laufe solcher Lernprozesse jeweils zu eigen macht. Zum anderen sind die Bürger berechtigt, Anforderungen an das gesellschaftliche Institutionensystem zu stellen. Sie dürfen fordern, dieses solle sich an ihren Interessen orientieren, und dieser Anspruch kommt ihnen als Person, d.h. als kooperationsfähiger Bürger, zu. Es ist ihr Recht, institutionelle Strukturen – bzw. Reformen dieser Strukturen – einzufordern, die ihrem Gerechtigkeitssinn entsprechen und die sozialen Bedingungen, d.h. die Mittel bereitstellen, die sie in |8|die Lage versetzen, ihre Konzeption des Guten, d.h. ihr System letzter Ziele, zu verwirklichen.[7] Zusammengenommen findet die Freiheit vollautonomer Bürger somit darin ihre Realisation, dass diese dem gesellschaftlichen Institutionensystem im Bewusstsein ihrer Personalität innerlich zustimmen können. Bei diesem Gerechtigkeitskonzept handelt es sich folglich um eine Reformulierung des insbesondere von Friedrich August von Hayek reaktualisierten liberalen Ideals der Freiheit unter dem Gesetz, bei dem Institutionen nicht als Einschränkung, sondern als Ermöglichung und Erweiterung von Freiheit gedacht werden. In der neueren Terminologie von John Rawls lässt sich dieser zentrale Gedanke auch so formulieren: In einer wohlgeordneten Gesellschaft können die Bürger das Vernünftige rational einlösen.[8] Ihre Anreize sind institutionell so gesetzt, dass sie (der Selbstverständlichkeit) sozialer Kooperation und damit individueller Freiheit – nicht von, sondern – in der Gesellschaft förderlich sind.[9]

(2) Im Urzustand werden die beiden Kategorien des Vernünftigen und des Rationalen systematisch unterschieden und erst auf der Basis dieser Unterscheidung systematisch zusammengeführt: Das Rationale wird in den Parteien verortet, die als künstliche Akteure der Homo-oeconomicus-Konstruktion nicht unähnlich sind; das Vernünftige geht in den Urzustand ein in Form jener – mit Hilfe der Figur eines Schleiers operationalisierten – Bedingungen, die Fairness gewährleisten sollen und hierin in gewisser Weise den Restriktionen eines ökonomischen Modells entsprechen, indem sie den Akt rationaler Entscheidungsfindung in eine bestimmte Bahn lenken. Ganz in diesem Sinne formuliert Rawls (1992; S. 100) mit Blick auf den Urzustand: „Das Vernünftige ist dem Rationalen übergeordnet, |9|denn seine Grundsätze begrenzen … die letzten Ziele, die verfolgt werden können.“[10]

Für ein angemessenes Verständnis des Urzustands und seiner Konstruktion ist es unabdingbar, sich zu vergegenwärtigen, dass es sich hier im Gegensatz zum Modell einer wohlgeordneten Gesellschaft nicht um ein Ideal, sondern um ein Darstellungsmittel handelt. Als solches hat es eine klar umrissene Aufgabe: Es dient dazu, eine Verbindung herzustellen zwischen dem Begriff einer moralischen Person und den Gerechtigkeitsgrundsätzen, und zwar so herzustellen, dass diese Verbindung den Bürgern einer wohlgeordneten Gesellschaft – also einem fiktiven Publikum! – als guter Grund zur Rechtfertigung der Gerechtigkeitsgrundsätze erscheinen kann. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, müssen im Urzustand angemessen repräsentiert sein: erstens die beiden Vermögen, die das Kennzeichen moralischer Personalität sind; zweitens die Öffentlichkeitsbedingungen einer wohlgeordneten Gesellschaft, die den Bürgern vollständige Autonomie verbürgen; und schließlich drittens jene Fairness, die sicherstellt, dass mit Hilfe der Verfahrensgerechtigkeit gerechte Grundsätze abgeleitet werden.

Erstens: Die beiden Vermögen moralischer Personalität sind im Urzustand rein formal repräsentiert (Rawls, 1992; S. 124f.): Der Gerechtigkeitssinn der Parteien ist inhaltlich unbestimmt. Sie kennen die Gerechtigkeitsgrundsätze noch nicht, auf die sie sich im Verlauf des Verfahrens ja erst noch einigen müssen. Auch ist den Parteien unbekannt, welche Konzeption des Guten sie jeweils verfolgen. Sie kennen nicht ihre letzten Ziele. Diese sind für sie hinter dem Schleier des Nichtwissens verborgen, so dass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als allgemein über jene Mittel nachzudenken, die zweckmäßigerweise jedem Gesellschaftsmitglied eingeräumt werden sollten, damit es seine (ihm noch unbekannten) letzten Ziele trotzdem möglichst wirksam verfolgen kann.

Zweitens: Von den drei Öffentlichkeitsbedingungen, die eine wohlgeordnete Gesellschaft kennzeichnen, sind naturgemäß nur die ersten beiden im Urzustand repräsentiert (Rawls, 1993; S. 70f.): Von den Parteien wird verlangt, dass sie sich (nur) auf solche Gerechtigkeitsgrundsätze einigen, die das Institutionensystem wirksam regulieren können und sich mit Hilfe allgemein geteilter Überzeugungen überprüfen lassen. In den Worten von Rawls (1992; S. 114): „Grundsätze, die recht gut funktionieren könnten, vorausgesetzt, sie würden nicht öffentlich anerkannt (wie auf der ersten Stufe definiert), oder vorausgesetzt, die allgemeinen Überzeugungen, auf die sie gegründet sind, würden nicht öffentlich verstanden oder als fehlerhaft angesehen (wie auf der zweiten Stufe definiert), müssen zurückgewiesen werden.“ – Auch die drei Freiheitsmomente vollständiger Autonomie finden sich im Urzustand repräsentiert: Zum einen gibt es für die Parteien keinerlei externe Maßstäbe, keinerlei Vorgaben, sondern nur den einen internen Maßstab, dass sie selbst es sind, die die Regeln ihres Zusammenlebens und die zugrundeliegenden Gerechtigkeitsvorstellungen festlegen. Ihre Bindungen sind Selbst-Bindungen. Rawls (1992; S. 125) fasst diesen Umstand |10|begrifflich als „rationale Autonomie“[11]. Sie repräsentiert Freiheit als Quelle von Ansprüchen. Freiheit als Unabhängigkeit kommt im Urzustand darin zum Ausdruck – so Rawls (1992; S. 126) –, „wie die Parteien dazu bewegt werden, der Sicherung der sozialen Bedingungen zur Verwirklichung ihrer höchstrangigen Interessen einen Vorrang einzuräumen, und dadurch, dass sie, trotz der strengen Informationsbeschränkungen, die der Schleier der Unwissenheit mit sich bringt, Gründe haben übereinzustimmen“. Eine solche Übereinstimmung bezieht sich auf jene Mittel, die eine gerechte Gesellschaft jedem Bürger zur Verfügung stellen sollte, und sie wird von den Parteien mit Hilfe eines Verzeichnisses der für die Konzeptionen des Guten benötigten Grundgüter herbeigeführt. Grundgüter sind die operationalisierbaren Mittel für die Verwirklichung der Systeme letzter Ziele. Dass man sich auf Mittel einigen kann, ohne die Ziele zu kennen, die für die Parteien hinter dem Schleier des Nichtwissens verborgen sind, zeigt die Unabhängigkeit von der jeweiligen Konzeption des Guten und ist hierin Ausdruck von Freiheit. Das dritte Element bürgerlicher Autonomie, Freiheit als Verantwortung, ist im Urzustand dadurch repräsentiert, dass dem Vernünftigen ein Vorrang vor dem Rationalen eingeräumt wird: Die mit Hilfe des Schleiers spezifizierten vernünftigen Bedingungen geben der individuell rationalen Entscheidung einen Rahmen vor, der die Parteien von vornherein nur solche Konzeptionen des Guten in Betracht ziehen lässt, die mit Gerechtigkeitsgrundsätzen vereinbar sind. Diese Verpflichtung des Rationalen auf das Vernünftige spiegelt jene Verantwortung wider, in der sich für Rawls die Freiheit moralischer Personalität ausdrückt: die Verantwortung, dass die individuellen Ziele den sozial verfügbaren Mitteln angemessen sind.

Drittens: Das Konstitutionsprinzip reiner Verfahrensgerechtigkeit besteht darin, die Gerechtigkeit materieller Normen ausschließlich aus der Gerechtigkeit des Normfindungsverfahrens resultieren zu lassen.[12] Der Rawlssche Ansatz fasst Gerechtigkeit als Fairness. Deshalb kommt es darauf an, die Situation eines fairen Urzustands so zu definieren, dass sich die Fairness auf jene Grundsätze übertragen lässt, auf die sich die Parteien in dieser Situation einigen. Dabei ist – so Rawls (1992; S. 128) – im Auge zu behalten, dass sich die Kategorie der Gerechtigkeit nicht auf alle Institutionen, sondern (zunächst) nur auf die institutionelle Grundstruktur der Gesellschaft bezieht; dass es nicht auf die Festlegung |11|sämtlicher, sondern nur auf die Festlegung der obersten Grundsätze für diese Grundstruktur ankommt; und schließlich dass für eine solche Festlegung nicht sämtliche Eigenschaften der Menschen relevant sind, sondern es ausreicht, den dauerhaft kooperierenden Gesellschaftsmitgliedern zu unterstellen, sie verfügten über ein Mindestmaß an den beiden Vermögen moralischer Personalität und seien darin gleich. Nimmt man zu diesen Voraussetzungen hinzu, dass nicht nur die Freiheit, sondern durch die symmetrische Stellung der Parteien zueinander auch die Gleichheit der Personen repräsentiert ist, so ist für Rawls (1992; S. 128f.) garantiert, „dass der Urzustand fair ist zwischen gleichen moralischen Personen, und er daher richtig darstellt, wie die Mitglieder einer wohlgeordneten Gesellschaft einander sehen“. Diese Selbstsicht freier und gleicher Bürger kommt in den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen zum Ausdruck, auf die sich die Parteien im Urzustand einigen.

Damit sind die einzelnen im Urzustand repräsentierten Elemente aufgezählt und jenen Vorstellungen – dem Ideal einer moralischen Person und dem Ideal einer wohlgeordneten Gesellschaft – zugeordnet, zwischen denen vermittelt werden soll: Die (fiktiven!) Bürger sollen sich in den im Urzustand ermittelten Gerechtigkeitsgrundsätzen als Person wiederfinden können. – Für ein angemessenes Verständnis des Urzustands reicht es jedoch nicht aus, nur die Elemente zu kennen. Es ist nötig, darüber hinaus auch zu verstehen, wie das Modell die einzelnen Elemente arrangiert, wie es mit ihnen umgeht. Dies wiederum wird von der Aufgabenstellung gesteuert, und im Rahmen des Rawlsschen Ansatzes lautet die Aufgabe, die minimalen Voraussetzungen zu formulieren, unter denen ein Konsens über die obersten Gerechtigkeitsgrundsätze gerade noch möglich erscheint. Hierfür soll nicht mehr als unbedingt erforderlich in Anspruch genommen werden, und um dies zu erreichen, gehört zum Modell des Urzustands ein elaboriertes Management des zulässigen Wissens und Nichtwissens. Dieses Informationsmanagement erfolgt im Modell des Urzustands mit Hilfe der gedanklichen Figur eines Schleiers, der für die Parteien weitgehend undurchsichtig ist und nicht mehr als ausschließlich jene Informationen durchlässt, die die Parteien für eine rationale Übereinkunft benötigen. Der Sinn dieser minimalistischen Verfahrensweise besteht für Rawls (1992; S. 128) darin, „eine klare Repräsentation des für eine kantische Sichtweise charakteristischen Begriffs der Freiheit zu haben“.

(3) Hierin wird nochmals deutlich, wie differenziert und damit voraussetzungsreich die Rawlssche Theoriearchitektonik angesetzt ist. Insbesondere die Verwendung von Modellen führt dazu, dass scheinbar ähnliche Aussagen – Aussagen über Bürger oder Parteien oder Menschen – in unterschiedlichen Kontexten – im Kontext des Ideals einer wohlgeordneten Gesellschaft oder im Kontext der Konstruktion des Urzustands oder im Kontext der Realität moderner Gesellschaften – höchst unterschiedliche Interpretationen erfordern, die sich allerdings methodisch präzise verorten lassen, sobald man die Problemsteuerung der Theoriekomposition angemessen berücksichtigt. Vor einem solchen Hintergrund tritt deutlich hervor, dass der Ansatz von John Rawls den Sozialwissenschaften nicht nur inhaltlich (Vorrang des Sozialen), sondern auch methodisch (Verwendung von Modellen) entgegenkommt. Dass gerade hierin eine besondere Attraktivität begründet liegt, zeigt sich nicht zuletzt in der – für alle Modell-Wissenschaften |12|charakteristischen – Pointe, dass die Verwendung kontra-intuitiver Elemente im Rahmen einer Theorie möglich wird, die darauf zugeschnitten ist, letztlich plausible, intuitiv erfassbare Ergebnisse hervorzubringen.[13]

Gerade diese Ausrichtung auf intuitiv erfassbare Ergebnisse, das Bemühen um Anschlussfähigkeit an die in der Realität bereits vorhandenen Vorstellungen macht deutlich: Der gesamte Theorieaufriss der Rawlsschen Konzeption von ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ folgt einer gesellschaftspolitischen Problemstellung. Das Ziel der Theoriebildung besteht ausgewiesenermaßen darin, einen wissenschaftlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Selbstverständigung zu leisten, der als solcher selbst Teil der öffentlichen Kultur moderner Demokratien werden soll. Rawls geht es darum, einen öffentlichen Konsens darüber herstellen zu helfen, wie jene Ideale, die sich als Kern der abendländischen Tradition herausgebildet haben: wie Freiheit und Gleichheit in einer modernen Gesellschaft durch die Grundstruktur des Institutionensystems zur Geltung gebracht sind bzw. gegebenenfalls zur Geltung gebracht werden könnten. Zu diesem Zweck stellt er mit ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ eine Konzeption vor, in der die Menschen ihre oft nur latenten oder impliziten Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit in einer Weise expliziert sehen, die ihnen nach reiflicher Überlegung als angemessen erscheinen und dann als Basis dienen kann, einen Konsens zu formulieren, von dem aus schließlich konkrete Politikprobleme auf eine konstruktive Weise angegangen werden können.

Es erleichtert ein angemessenes Verständnis der Rawlsschen Philosophie, wenn man zwischen drei Theorie-Ebenen unterscheidet: der Ebene des Urzustands, der Ebene der wohlgeordneten Gesellschaft und schließlich der Ebene der realen Gesellschaft. Diese drei Ebenen haben einen ganz unterschiedlichen Status, vgl. Abbildung1.

Der Urzustand ist ein Konstrukt zu Darstellungszwecken, die wohlgeordnete Gesellschaft ist ein normatives Ideal, und die reale Gesellschaft ist der Adressat der Theorie. Deshalb werden die drei Ebenen auch von unterschiedlichen Akteuren bevölkert. Im Urzustand handeln rationale Parteien unter vernünftigen Bedingungen. In der wohlgeordneten Gesellschaft leben fiktive Bürger, die mit einem Gerechtigkeitssinn ausgestattet sind, und in der realen Gesellschaft leben Menschen aus Fleisch und Blut. Das Ergebnis der ersten Theorieebene sind Gerechtigkeitsgrundsätze, und das Kriterium hierfür ist eine angemessene Repräsentation der Idee von fairer Kooperation zwischen freien und gleichen Bürgern. Das Ergebnis der zweiten Theorieebene ist eine Gerechtigkeitskonzeption, und das Kriterium hierfür ist ein doppeltes: zum einen die Anerkennung der Gerechtigkeitsgrundsätze von Ebene 1; zum anderen die Stabilität der Gerechtigkeitskonzeption auf Ebene 2. Das Ergebnis der dritten Theorieebene ist eine Gerechtigkeitstheorie. Das entsprechende Kriterium hierfür besteht in einem Überlegungsgleichgewicht zwischen den Ebenen 1 und 2 einerseits und den moralischen Intuitionen andererseits.

|13|Abbildung 1:

Überblickstafel zur Gerechtigkeitstheorie

Zur Erläuterung: In bezug auf die erste Ebene erhebt Rawls den Anspruch, dass die Ableitung der von ihm vorgeschlagenen Gerechtigkeitsgrundsätze aus dem Urzustand zwei Bedingungen genügt: erstens, dass im Urzustand der Begriff moralischer Personalität – präziser: der Begriff einer moralischen Person, die zu dauerhafter sozialer Kooperation mit anderen moralischen Personen auf der Basis von Freiheit und Gleichheit fähig ist – angemessen repräsentiert ist; und zweitens, dass diese Ableitung aus dem Urzustand die beiden Rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze gegenüber allen anderen bekannten Alternativen als überlegen ausweist. Insgesamt betrachtet, konstituiert die Einigung im Urzustand einen hypothetischen Konsens rationaler Modellkonstrukte, der allerdings so beschaffen ist, dass sich ein fiktives Publikum: konstituiert durch die gedachten Bürger einer gedachten idealen Welt, als freie und gleiche Personen in einem solchen Übereinkommen wiederfinden kann. In bezug auf die zweite Ebene stellt Rawls den Anspruch, dass die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze, auf die sich die Parteien im Urzustand einigen, die institutionelle Grundstruktur einer wohlgeordneten Gesellschaft wirksam regulieren können. Darüber hinaus sollen sie den Bürgern einleuchten, und zwar aufgrund des Verfahrens, mittels dessen sie ausgewählt werden. Die Bürger einer wohlgeordneten Gesellschaft erkennen an – so der Rawlssche Anspruch –, dass die Zusammenführung des Rationalen und des Vernünftigen im Urzustand auf eine Weise erfolgt, die die ausgewählten Gerechtigkeitsgrundsätze mit guten Gründen rechtfertigt. Sie finden das Prinzip der reinen Verfahrensgerechtigkeit überzeugend und übertragen die Fairness des Verfahrens auf die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze, denen ebenfalls Fairness zugeschrieben wird. Dieses Konzept von ‚Gerechtigkeit als Fairness‘, das nicht nur die Ableitung der Gerechtigkeitsgrundsätze aus dem Urzustand, sondern auch die Rezeption dieser Ableitung sowie ihre Bedeutung in einer wohlgeordneten |14|Gesellschaft und mithin also auch deren drei Öffentlichkeitsbedingungen umfasst, wird von Rawls den real existierenden Menschen real existierender Gesellschaften als ein Identifikationsangebot unterbreitet. Erst hier, auf dieser dritten Ebene, kommt es darauf an, den Anschluss an die Intuitionen der Menschen herzustellen. Eine solche Anschlussfähigkeit bildet für Rawls den eigentlichen Test für die Güte seiner Theorie. Das Kriterium dieses Tests ist, inwiefern das hergestellt werden kann, was Rawls ein „Überlegungsgleichgewicht“ nennt: die Übereinstimmung – nicht der Gerechtigkeitsgrundsätze, sondern – der Gerechtigkeitskonzeption (!) mit den wohlerwogenen Überzeugungen der Menschen. Erst auf dieser dritten Ebene kommt die gesellschaftspolitische Stoßrichtung des Rawlsschen Ansatzes voll zum Tragen. Gemäß Rawls (1992; S. 264) zielt seine Theoriebildungsstrategie darauf ab, dass ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ „als Grundlage einer informierten und bereitwilligen Übereinkunft zwischen Bürgern dienen kann, die als freie und gleiche betrachtet werden. Wenn sie sicher in den öffentlichen politischen und sozialen Einstellungen verankert ist, stützt diese Übereinkunft die Konzeptionen des Guten aller Personen und Vereinigungen in einem gerechten demokratischen Staat.“ Rawls versteht seine Theorie als einen wissenschaftlichen Beitrag zur politischen Befriedung moderner Gesellschaften, der gewisse bereits vorhandene Elemente öffentlicher Kultur aufnimmt, neu strukturiert und wieder an die demokratische Öffentlichkeit adressiert; als einen Beitrag, der schließlich selbst zum Bestandteil der öffentlichen Kultur wird und hierin eine gesellschaftsstabilisierende Funktion erfüllt. In den Worten von Rawls (1992; S. 265) lautet die Devise seiner kantisch verfahrenden Bemühung um politische Aufklärung: „Das Ziel ist eine freie Übereinkunft, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch. … Solange wir nicht uns selbst dazu bringen zu verstehen, wie dies geschehen könnte, kann es nicht geschehen.“[14]

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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