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|29|2. Zur methodischen Umsetzung des Theorieprogramms

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Die methodische Umsetzung dieses Programms konstitutioneller Ökonomik[35] ist mit zahlreichen theoriestrategischen Entscheidungen verbunden, mit z.T. grundlegenden Umstellungen im Kategoriensystem der Ökonomik. Nicht immer sind die Argumente, die für solche Umstellungen sprechen, bei Buchanan explizit ausgeführt. Gelegentlich begnügt er sich mit Forderungen, die teilweise jenen Appellcharakter zu haben scheinen, den er für seine politischen Vorschläge sorgsam, d.h. systematisch, zu vermeiden bedacht ist. In manchen Fällen kleidet er sein methodisches Anliegen sogar in die Form eines Werturteils. Das prägnanteste Beispiel hierfür bietet ein berühmter Aufsatz, dessen Titel charakteristischerweise darauf abstellt, was Ökonomen tun sollten. Ökonomen sollten sich, so Buchanan, stärker mit Koordinations- als mit Maximierungsproblemen beschäftigen.[36] Bei Buchanan (1964, 1979; S. 19) heißt es dann: „In saying this, I am, of course, making a value statement that you may or may not support.“[37]

Ein weiteres Beispiel dafür, dass Buchanan des Öfteren Formulierungen wählt, die seine Theorieentscheidungen eher als eine Frage des Geschmacks denn als eine Frage methodischer Zweckmäßigkeit erscheinen lassen, liefert eine Stellungnahme zum gesellschaftsvertragstheoretischen Ansatz von John Rawls. Bei Buchanan (1989b; S. 182) heißt es: „[M]y sympathy with and affinity for Rawls’s effort has been, I hope, evident. At base, we share … an unwillingness normatively to evaluate politics with nonindividualistic standards or positively to interpret politics exclusively as the clash of conflicting interests.“

Es lohnt sich, diesen ‚Präferenzen‘ für bestimmte Standards positiver und normativer Forschung genauer nachzugehen und nach ihren Konsequenzen für das Kategoriensystem der Ökonomik zu fragen. Dabei wird sich zeigen, dass es Gründe gibt, die von Buchanan eingeforderte methodische Neuorientierung der Ökonomik ernster zu nehmen, als es seine Formulierung nahezulegen scheint, die Argumentation beruhe auf einer ‚Präferenz‘ dafür, was Ökonomen tun ‚sollten‘. Tatsächlich trägt seine Argumentation nämlich weniger seinen ‚Präferenzen‘ als vielmehr jenen ‚Restriktionen‘ Rechnung, mit denen sich eine politische Ökonomik in der modernen Gesellschaft konfrontiert sieht. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich zunächst vor Augen führt, gegen welche zeitgenössischen Entwürfe Buchanan sein Theorieprogramm entwickelt hat.

|30|Der traditionelle und z.T. bis heute noch übliche Einstieg in wirtschaftspolitische Argumentationen erfolgt über einen normativen Effizienzbegriff. Die hierfür zuständige Referenztheorie ist die Wohlfahrtsökonomik. Sie leitet anhand eines Modells vollkommener Konkurrenz Bedingungen ab, durch deren Erfüllung Effizienz definiert ist. Werden diese idealen Bedingungen in der Realität nicht erfüllt, liegen definitionsgemäß Ineffizienzen vor. Die Theorie spricht dann von Marktversagen.

In den 1950er und 1960er Jahren war dies die weithin maßgebliche Konzeption zur Begründung staatlicher Aktivität: Wo der Markt versagt, wurde politischer Handlungsbedarf diagnostiziert. Damit befand sich die Wohlfahrtsökonomik – ursprünglich als Markttheorie angetreten – unversehens auf dem Weg zu einer Interventionswissenschaft.

Bereits in seinen frühesten Schriften weist sich Buchanan als jenen zugehörig aus, die diese Tendenz für politisch bedenklich halten, doch darauf kommt es hier nicht an. Im vorliegenden Zusammenhang ist vielmehr von Interesse, dass es zwei grundlegende Schwierigkeiten gibt, die der wohlfahrtsökonomischen Vorgehensweise inhärent sind und insofern eine methodische Herausforderung darstellen: Zum einen wird die Funktionsweise realer Märkte an einem Ideal gemessen, und zum anderen wird aus dem Vergleich von Ideal und Realität auf eine reale Alternative geschlossen. So kommt es zu einer perspektivischen Verzerrung gleich in doppelter Hinsicht: Wer die reale Welt, in der es bekanntlich keine vollkommene Konkurrenz gibt, aus einer wohlfahrtsökonomischen Perspektive betrachtet, sieht überall nur Marktversagen vorliegen, freilich ohne dass durch die wahrgenommene Omnipräsenz des Marktversagens allein schon sichergestellt wäre, dass die Politik als funktionales Äquivalent jene Ineffizienzen beseitigen kann, die als Versagen des Marktes diagnostiziert werden. Damit läuft das wohlfahrtsökonomische Verfahren Gefahr, als ‚nirvana approach‘ (Demsetz, 1969) einen Vergleich der relevanten Alternativen zu verfehlen.

Wenn man die relevanten Alternativen vergleichen will, bedarf die perspektivische Verzerrung einer doppelten Korrektur. Zum einen darf man sich nicht mit einer Gegenüberstellung von Marktideal und Marktrealität begnügen, sondern muss die Alternative zum Markt in die Analyse einbeziehen. Die erste methodische Konsequenz besteht daher in einem Vergleich alternativer institutioneller Arrangements. Zum anderen bedarf dieser Vergleich eines den jeweiligen Handlungssphären – d.h. der Wirtschaft und der Politik – gleichermaßen angemessenen Vergleichsmaßstabs. Hierfür ist ein nicht-ideales, internes Kriterium erforderlich. Insofern ist die Wahl des Konsenskriteriums die zweite methodische Konsequenz.

Es gehört zu den Kuriositäten ökonomischer Theoriebildung, dass das methodische Erfordernis einer doppelten Korrektur der wohlfahrtsökonomischen Methode nicht allgemein gesehen oder doch zumindest nicht allgemein beherzigt wurde, obwohl Buchanan stets eindringlich auf den inneren Zusammenhang beider Aspekte hingewiesen hat. In der Tat lesen sich große Teile der Public-Choice-Literatur wie eine empirisch ausgerichtete Wohlfahrtsökonomik des politischen Sektors: Zwar vergleicht man alternative Arrangements, doch legt man als Vergleichsmaßstab unverändert das wohlfahrtsökonomische Effizienzkriterium zugrunde. Die Folge ist eine Duplizierung wohlfahrtsökonomischer |31|Paradiesvergleiche. Buchanan (1987c; S. 52) resümiert die triviale Erkenntnis dieser – für ihn: verfehlten – Forschungsanstrengungen recht lapidar: „By comparison with idealized standards, both markets and politics fail.“[38]

Aus dieser Sackgasse kommt man nur durch die von Buchanan stets eingeforderte doppelte Korrektur heraus. Man darf es nicht bei einem Paradiesvergleich institutioneller Arrangements belassen, sondern muss dem Institutionenvergleich ein internes, nicht-ideales Vergleichskriterium zugrundelegen.

Buchanan tritt also in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit einer doppelten Forderung auf. Die erste Forderung bezieht sich auf die positive Analyse. Sie soll Wirtschaft und Politik gleichermaßen umfassen. Die Institutionenökonomik i.w.S. ist hierfür der geeignete Ansatz. Mit ihrer Hilfe lassen sich beide Handlungssphären streng analog als Wettbewerbsspiele auffassen, von deren Ordnungsregeln es abhängt, inwiefern die jeweiligen Akteure zur gesellschaftlichen Zusammenarbeit produktiv beitragen. Die zweite Forderung bezieht sich auf die normative Analyse. Auch sie soll Wirtschaft und Politik gleichermaßen umfassen. Benötigt wird eine theoretische Konzeptualisierung, die es der konstitutionellen Ökonomik erlaubt, als Wissenschaft gesellschaftliche Regelverbesserungen zu identifizieren und vorzuschlagen.

Während Buchanan in Bezug auf seine erste Forderung ein außerordentlicher Erfolg zu bescheinigen ist, wird man dies in Bezug auf seine zweite Forderung wohl eher nicht behaupten können. Während die Renaissance der ökonomischen Institutionenforschung – verwiesen sei hier nur auf die Namen Alchian, Coase, North, Olson und Williamson – dezidiert wiederanknüpft an das Erkenntnisprogramm der ökonomischen Klassiker, ist unter Ökonomen in Bezug auf normative Fragestellungen eine große Zurückhaltung sowie – vielleicht damit zusammenhängend? – ein starres Festhalten an einem normativen Effizienzbegriff und damit letztlich an wohlfahrtstheoretischen Kategorien nicht zu übersehen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Versuch gerechtfertigt, vier verbreiteten Missverständnissen zu begegnen, denen sich Buchanans normatives Aufklärungsprogramm des Öfteren ausgesetzt sieht.

Die Thesen können vorab wie folgt formuliert werden: Die Wahl des Konsenskriteriums folgt nicht vordergründig normativen, sondern methodischen Erwägungen. Es handelt sich um ein ‚realistisches‘, nicht-ideales Kriterium, um ein internes Prozesskriterium, und als solches erfüllt es eine heuristische Funktion, |32|die den Politikproblemen moderner Gesellschaften in besonderer Weise angemessen ist.[39]

(1) Die konstitutionelle Ökonomik arbeitet mit einer mehrstufigen Rekonstruktion, die einen positiven Erklärungszusammenhang zwischen Ergebnissen, Handlungen und Regeln herstellt – genauer: zwischen gesellschaftlichen Ergebnissen, individuellen Handlungen und gesellschaftlichen Regeln. Aggregierte Ergebnisse wie die Raten für Arbeitslosigkeit, Inflation, Kriminalität usw. werden im Wege einer ‚mikrofundierten Makroanalyse‘[40] als das nicht-intendierte Resultat intentionaler Handlungen rekonstruiert, und Handlungen erscheinen in einer solchen Betrachtung als (vor allem) durch Regeln kanalisiert. In normativer Hinsicht, im Konsensparadigma, gelten Handlungsergebnisse als legitim, wenn sie durch legitime Handlungen zustandekommen, und Handlungen gelten als legitim, wenn sie legitimen Regeln folgen. Diesen Regress kann man fortsetzen, indem man (legitime) Regeln als das (legitime) Ergebnis von (legitimen) Handlungen rekonstruiert, die legitimen Meta-Regeln folgen.

Wenn man sich diesen Regress zur Analyse konkreter Politikprobleme zunutze machen will, darf man ihn nicht ad infinitum fortsetzen, sondern muss ein Kriterium angeben können, mit dessen Hilfe der Regress sinnvoll abgebrochen werden kann. Genau dies ist die methodische Funktion des Konsenskriteriums. Es zeichnet jene (Meta-)Regel als legitim aus, der unterschiedslos alle Bürger prinzipiell zustimmen können.[41]

|33|(2) Gibt es überhaupt solche Regeln? Lässt sich das Konsenskriterium tatsächlich anwenden? Handelt es sich also um ein ‚realistisches‘, nicht-ideales Kriterium? Diese Fragen lassen sich eindeutig bejahen. Das Konsenskriterium lässt sich immer anwenden, wenn man die Abstraktionsebene nur hoch genug ansetzt: Konsensfähig in jeder Gesellschaft ist, dass Gesellschaft überhaupt zustandekommt. Im Hobbesschen Dschungel ist die Schaffung eines Rechtsstaats, der den Krieg aller gegen alle beendet, allgemein zustimmungsfähig, weil die Friedensdividende es erlaubt, alle besserzustellen. Der Verzicht auf das Hobbessche „Recht auf alles“[42] – insbesondere der Verzicht auf eigene Gewaltanwendung: die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols – ist eine Investition in das Zustandekommen von Gesellschaft, und es ist die Rendite dieser Investition, die es für jeden einzelnen vorteilhaft macht, die entsprechenden Kosten in Kauf zu nehmen. Ohne diese Kosten lassen sich die Erträge gesellschaftlicher Kooperation nicht aneignen.[43] Freiheit entsteht durch Leviathan. Aus dieser konstitutionellen Perspektive ist der Staat eine Organisation der Gesellschaft, die durch einen kollektiven Tauschakt zustandekommt, in dem die Option gesellschaftlicher Zusammenarbeit – inklusive miteinander integrierter Kooperations- und Konkurrenzsphären – ‚erkauft‘ wird durch einen sanktionsbewehrten Verzicht auf einzelne Handlungsmöglichkeiten, die dieser Zusammenarbeit nicht förderlich wären.[44] Freilich wird Freiheit durch Leviathan auch bedroht. Aufgabe einer klugen Verfassungsbildung ist es daher, erstens einen Staat überhaupt zustandekommen zu lassen und ihn zweitens so auszugestalten, dass er sich als ein Instrument zur Förderung der Gesellschaft als eines Unternehmens wechselseitiger Vorteilsgewährung bewährt.

Wählt man niedrigere Abstraktionsebenen, so lässt sich das Konsenskriterium in Bezug auf genuin politische Probleme ebenfalls immer anwenden, sofern man nur sorgsam auf die relevanten Alternativen abstellt. Folgendes Beispiel macht das deutlich: Es lohnt sich nicht, einen Verbrecher zu fragen, ob er einen kriminellen oder eher einen gesetzestreuen Einkommenserwerb vorzieht, denn diese Frage ist durch sein Verhalten ja bereits faktisch beantwortet: Offensichtlich empfindet er es als individuell vorteilhaft, seinen Lebensunterhalt durch Gesetzesübertretungen zu bestreiten. Betrachtet man diesen Fall als ein Spiel, in dem der Verbrecher (A) gegen den Rest der Gesellschaft (R) spielt – vgl. Abb. 1 –, so wird der Status quo durch den II. Quadranten repräsentiert: Spieler A defektiert, er verletzt das Gesetz, während Spieler R kooperiert, d.h. das Gesetz achtet.

|34|Abbildung 1:

Die relevanten Alternativen im Konsenstest

In dieser Situation hieße es nun, systematisch die falsche Frage zu stellen, wollte man Verhaltensänderungen einem Konsenstest unterwerfen. Konstitutionelle Ökonomik fragt nach der Zustimmungsfähigkeit von Regeln. Die systematisch richtige Frage muss daher auf die relevanten Regelalternativen abstellen. Sie lautet, ob Spieler A eine allgemeine Defektion einer allgemeinen Kooperation vorziehen würde. Genau dies ist natürlich nicht der Fall: Ein Verbrecher lebt davon, dass andere sich an das Gesetz halten. Würden auch alle anderen zu Verbrechern, so stünde er sich schlechter, als wenn alle Gesellschaftsmitglieder – einschließlich seiner selbst – das Gesetz befolgten. Die relevanten Alternativen, die es zu vergleichen gilt, bilden also nicht die Quadranten I und II, sondern die Quadranten I und III. Damit vergleicht man den Status quo minor mit einer pareto-superioren Alternative. Folglich fällt der Konsenstest eindeutig aus: zugunsten einer Regel, die für allgemeine Kooperation sorgt.

Folgende Beispiele führen zu ähnlichen Ergebnissen: Ein Schwarzfahrer, vor die Wahl gestellt, in einer Gesellschaft zu leben, in der alle Bürger den Fahrpreis zahlen oder alle Bürger schwarzfahren, wird sich für ersteres entscheiden, weil es sonst keine öffentlichen Verkehrsmittel gäbe. Ähnliches gilt für einen Monopolunternehmer. Er kann dem Prinzip der Marktwirtschaft zustimmen, weil er lieber in einer Gesellschaft lebt, in der ausnahmslos alle Unternehmer unter Konkurrenzbedingungen handeln, als in einer Gesellschaft, in der alle Unternehmer Monopolisten sind. Der Grund hierfür lässt sich allgemein angeben: Wer als Trittbrettfahrer gesellschaftlicher Kooperation privilegiert ist, präferiert eine allgemeine Deprivilegierung gegenüber einer allgemeinen Privilegierung, d.h. einer allgemeinen Beeinträchtigung des Funktionierens gesellschaftlicher Zusammenarbeit.

An diesen Beispielen lässt sich nicht nur demonstrieren, dass es – will man den Sinn konstitutioneller Konsenstests nicht verfehlen – in besonderer Weise darauf ankommt, die relevanten Alternativen, d.h. Regelalternativen, zu vergleichen. Die Beispiele zeigen auch, dass man zwischen empirischer und hypothetischer Zustimmung unterscheiden muss, weil Handlungsinteresse und konstitutionelles Regelinteresse auseinandertreten können: In sozialen Dilemmasituationen gibt es keine ‚revealed preferences‘; im Gegenteil. Diese Situationen sind ja gerade dadurch definiert, dass von ihnen Anreize ausgehen, die rationale Akteure veranlassen, sich so zu verhalten, dass sie ein pareto-inferiores Ergebnis erzielen, obwohl sie ein pareto-superiores Ergebnis vorgezogen hätten.

|35|Aufgrund des möglichen Auseinandertretens von Handlungsinteresse und konstitutionellem Regelinteresse können empirische Meinungsbekundungen strategisch verfälscht sein, um eine eigene Privilegierung im Status quo möglichst lange aufrechtzuerhalten. Eigeninteressierte Akteure sind hier versucht, auf Zeit zu spielen. Inwiefern ihnen dies gelingt, hängt davon ab, wie sich der Rest der Gesellschaft verhält. Prinzipiell sind sowohl positive wie negative Sanktionen geeignet, der Privilegierung ihre individuelle Vorteilhaftigkeit zu nehmen. Im ersten Fall erfolgt eine Kompensation aus den Erträgen, die durch den Abbau von Privilegien gesellschaftlich angeeignet werden können. Im zweiten Fall erfolgt eine Drohung mit dem Status quo minor – und das heißt im Extrem: die Drohung, in den Hobbesschen Dschungel zurückzukehren. Ist diese Drohung glaubwürdig, dann kann sie von rationalen Akteuren antizipiert werden. Sie haben dann gute Gründe, hypothetische und empirische Zustimmung in Übereinstimmung zu bringen – und das heißt: ihrer Einsicht Taten folgen zu lassen. Die kollektive Deprivilegierung einer weißen Minderheit in Südafrika und einer kommunistischen Funktionärselite im ehemaligen Ostblock – beide weitgehend gewaltlos – gehören in dieser Hinsicht wohl zu den eindrucksvollsten Beispielen, die die Weltgeschichte hervorgebracht hat.

(3) Im Unterschied zum Effizienzbegriff handelt es sich beim Konsensbegriff um ein internes Kriterium. Dies wird sofort deutlich, sobald man sich den Unterschied zur wohlfahrtsökonomischen Kategorienbildung vergegenwärtigt.[45] Die Wohlfahrtsökonomik hat das auf Handlungen bezogene Prozesskriterium der Pareto-Superiorität zum Konzept des Pareto-Optimums weiterentwickelt und damit in ein Ergebniskriterium überführt. Das Prozesskriterium kann dazu verwendet werden, die Funktionsweise von Märkten zu erklären: Freiwillige Tauschakte kommen zustande, weil und solange wechselseitige Tauschgewinne angeeignet werden können. Erst wenn dieses Potential pareto-superiorer Verbesserungsmöglichkeiten ausgeschöpft ist, kommt der Tausch zum Erliegen, und ein Pareto-Optimum ist erreicht. Mit Hilfe dieses Ergebniskriteriums geht nun allerdings die Wohlfahrtsökonomik dazu über, die Funktionsweise von Märkten zu bewerten: Der im Rahmen einer allgemeinen Gleichgewichtstheorie explizierte Effizienzzustand wird zum Effizienideal erhoben. Dies führt zu einer radikalen Änderung der Sichtweise des Marktes. Der Markt erscheint nicht länger als ein Interaktionsprozess. Er wird zunehmend als Mechanismus, als „Kalkulationsmaschine“ aufgefasst, deren Leistung daran gemessen wird, inwiefern sie zu dem normativ als Effizienz vorgegebenen Ergebnis führt. Damit wird der Effizienzbegriff als ein vom Marktprozess losgelöstes Ergebnisideal interpretiert. Effizienz wird dem Marktprozess als externes Bewertungskriterium gegenübergestellt.[46]

Im Unterschied hierzu propagiert Buchanan eine dezidiert andere Kategorienbildung. Er will zum Prozesskriterium der Pareto-Superiorität zurückkehren und |36|dieses nun allerdings nicht auf Handlungen, sondern auf Regeln bezogen wissen. Die Akteure im Prozess sollen den von der Theorie vorgeschlagenen Änderungen zustimmen können. Insofern handelt es sich beim Konsenskriterium in der Tat um ein internes Kriterium, das gezielt den Anschluss an die real vorfindlichen Interessen realer Bürger in realen Situationen sucht.[47]

(4) Als internes Kriterium weist das Konsensprinzip mehrere Vorteile auf. Es gehört nicht zu den geringsten dieser Vorteile, dass es dem Selbstverständnis bürgerlicher Autonomie entgegenkommt, wie es sich in den pluralistischen Gesellschaften des Westens entwickelt hat.[48] Seine besondere Eignung für eine ökonomische Politikberatung in der Demokratie speist sich jedoch auch noch aus anderen Quellen, die nicht übersehen werden sollten: Das Konsensprinzip erfüllt innerhalb des Forschungsprogramms konstitutioneller Ökonomik eine wichtige heuristische Funktion. Diese Funktion betrifft die Vermittlung positiver und normativer Analyse.

Erstens: Mit der Vorgabe, nach gemeinsamen Interessen zu suchen, fokussiert das Konsensprinzip die positive Forschungsperspektive auf eine Untersuchung der gesellschaftlichen Funktionalität institutioneller Arrangements. Damit wird es zur Aufgabe der Ökonomik, mit ihren Erklärungsleistungen den sozialen Sinn der diversen Kooperations- und Konkurrenzspiele zu dechiffrieren und insbesondere das Verständnis der institutionellen Voraussetzungen zu fördern, von denen die Spielergebnisse abhängen.

Zweitens: Das Aufzeigen gemeinsamer Interessen im politischen Prozess ermöglicht es, in die politische Diskussion Zweckmäßigkeitsargumente einzuführen, d.h. Erklärung in Aufklärung umzusetzen. Mithin versorgt das Konsensprinzip die normative Analyse mit diskursiver Kompetenz: Konsens fungiert als konzeptioneller Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion politischer Konfliktlagen, und (erst) von diesem Punkt aus lassen sich Zieldiskussionen auf Mitteldiskussionen umstellen. Damit wird die politische Ökonomik zur Argumentationsgrammatik politischer Diskurse, und hierin liegt der eigentliche Beitrag ökonomischer Politikberatung in der Demokratie: Es geht darum, die i.d.R. mit Bekenntnissen zu umstrittenen Werturteilen belasteten und daher gelegentlich hoch emotionalisierten politischen Diskussionsprozesse in der demokratischen Öffentlichkeit auf die relevanten Alternativen zu fokussieren und gerade dadurch zu versachlichen.[49] Indem sie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf |37|die Zweckmäßigkeit institutioneller Arrangements lenkt, kann – und ‚soll‘ – die Ökonomik als Wissenschaft die Bürger darin unterstützen, ihre eigenen Interessen zu verwirklichen, d.h. als Gesellschaft nicht unter ihren Möglichkeiten zu bleiben.[50]

Die heuristische Funktion des Konsenskriteriums besteht also darin, die positive Forschung so auszurichten, dass jene intellektuellen Orientierungsleistungen möglich werden, mit denen die normative Analyse dazu beiträgt, demokratische Politikprozesse – verstanden nicht als Suche nach Wahrheit, sondern als Suche nach rationalen Kompromissen – konstruktiv voranzubringen. Hierzu ist es erforderlich, status-quo-orientiert an den vorfindlichen Interessen der Bürger anzusetzen: Ausgehend vom Status quo, an dem sich politische Interessenkonflikte entzünden, fungiert der – (gesellschafts-)vertragstheoretisch gedachte – Konsens als Referenzkonzept zur Strukturierung der Situation und dient damit der Identifizierung der politisch relevanten Alternativen. Ziel und methodisches Vorgehen konstitutioneller Ökonomik lassen sich mit Buchanan (1987a; S. 249) wie folgt angeben:

„The purpose of the contractarian exercise is … justificatory in that it offers a basis for normative evaluation. Could the observed rules that constrain the activities of ordinary politics have emerged from agreement in constitutional contract? To the extent that this question can be affirmatively answered, we have established a legitimating linkage between the individual and the state. To the extent that the question prompts a negative response, we have a basis for normative criticism of the existing order, and a criterion for advancing proposals for constitutional reform.“

Der Beitrag konstitutioneller Ökonomik zur wissenschaftlichen Politikberatung in der Demokratie besteht nicht darin, dass sie mit ihrem Konsenskriterium den Begriff der Demokratie quasi permanent im Munde führt, sondern darin, dass sie mit Hilfe der Konsensorientierung die positive Analyse heuristisch so ausrichtet, dass sie in normativer Hinsicht von deren umfänglichen Erklärungsleistungen Gebrauch machen kann. Es ist diese Leistungsfähigkeit, die – so Buchanan – gesteigert werden kann, wenn man den Einstieg in eine wissenschaftlich seriöse Normativität nicht über ein externes Ergebniskriterium idealer Effizienz, sondern über ein internes Prozesskriterium nicht-idealer Zustimmung wählt. Der Vollsinn des Konsenskriteriums erschließt sich erst dann, wenn man es als ein theoretisches Instrument interpretiert, dessen methodisch kontrollierter Einsatz darauf abzielt, die Realisationschancen ökonomischer Politikvorschläge forschungsimmanent zu erhöhen.

Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie

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