Читать книгу Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung - Ingo Reich - Страница 10
[20]2.3 Von der Äußerung zum Text
ОглавлениеNach allem, was wir in Abschnitt 2.1 gesagt haben, können wir jede sprachliche Äußerung, mit der ein kommunikatives Ziel verbunden ist, als eine Einheit sprachlicher Kommunikation auffassen. Als kleinste Einheit sprachlicher Kleinste Einheiten sprachlicher KommunikationKommunikation werden wir also diejenigen sprachlichen Äußerungen betrachten, mit denen wir eine sprachliche Handlung vollziehen, mit denen wir eine Frage stellen, jemandem etwas anbieten, jemanden warnen, etwas versprechen oder einfach etwas behaupten. Im Kapitel zur Pragmatik werden wir solche Sprachhandlungen auch SprechakteSprechakt nennen.
Dass die kleinsten Einheiten sprachlicher Kommunikation nicht notwendigerweise Sätze sein müssen, wurde bereits mit unserem Eingangsbeispiel deutlich. Weitere gute Beispiele wären etwa Begrüßungen (Hallo!) oder Flüche (Verdammt!). Umgekehrt muss natürlich auch nicht jeder Satz notwendigerweise mit einer kommunikativen Intention bzw. einer sprachlichen Handlung verbunden sein (z. B. Nebensätze). Es scheint also zumindest deskriptiv nicht sinnvoll zu sein, kommunikative Einheiten über rein formale Eigenschaften zu definieren. Ob Äußerungen wie Eine Tasse Kaffee? am Ende möglicherweise doch auf Sätze zurückzuführen sind, ist eine empirische Frage und kann hier nicht diskutiert und schon gar nicht entschieden werden.
Komplexe Einheiten sprachlicher KommunikationKommunikation erschöpft sich natürlich nicht in einzelnen Äußerungen, sondern beinhaltet in der Regel eine Folge mehrerer Äußerungen. So könnte man sich vorstellen, dass Erna auf Lisbeths Frage in (2.1) mit den Äußerungen in (2.2) und (2.3) antwortet.
[21]Die Folge der Äußerungen in (2.1) bis (2.3) weist nun zwei zentrale strukturelle Eigenschaften auf: Zum einen beziehen sich die Äußerungen offenbar inhaltlich aufeinander und sind in diesem Sinne miteinander verbunden. Man sagt, dass sie eine kohärenteKohärenz Folge von Äußerungen darstellen. Zum anderen bilden sie als Ganzes in dem Sinne eine thematische Einheit, als sich alle Äußerungen letztlich um die (hier explizit aufgeworfene) Frage drehen, ob Erna eine Tasse Kaffee möchte. Wir werden später von einer QuaestioQuestioDiskurstopik (lateinisch für Frage), einem DiskurstopikDiskurstopik oder einer Question under Discussion (QUD)Question under DiscussionDiskurstopik sprechen. Kohärente und thematisch (im Wesentlichen) einheitliche Abfolgen von Äußerungen werden in der einschlägigen Literatur als Text oder Diskurs bezeichnet. (Wir werden im Folgenden zunächst die Rolle des Kohärenzbegriffs in den Vordergrund stellen und erst danach auf Quaestiones/Diskurstopiks eingehen.)
Wir bezeichnen eine Abfolge von Äußerungen als einen TextText oder DiskursDiskursText, wenn sie (in einem noch zu präzisierenden Sinne) kohärent und thematisch einheitlich ist.
Ob eine gegebene Sequenz von mündlichen oder schriftlichen Äußerungen als ein Text oder Diskurs bezeichnet werden kann, hängt natürlich zunächst von der Was alles ist ein Text?Definition ab. In der Textlinguistik ist die Definition des Textbegriffs eine vieldiskutierte Frage und entsprechend gibt es eine Vielzahl unterschiedlichster Ansätze (man vergleiche z. B. Adamzik 2016 für eine ausführliche Darstellung). So kann man z. B. die Frage stellen, ob die Kurznachrichten in Abbildung 2.3 und damit insbesondere die benutzten Emojis und Emoticons als Text bzw. als Teile eines Texts aufzufassen sind. Beantwortet man diese Frage positiv (und es spricht wohl einiges dafür), dann wird man in der Textdefinition neben rein sprachlichen Äußerungen generell auch symbolische Äußerungen (mit einem kommunikativen Ziel) zulassen müssen. (Wir haben das in der obigen Definition bewusst offengelassen.) Auf der anderen Seite wird man dann auch in Extremfällen (wie z. B. bei einem Stoppschild) von einem Text sprechen müssen (was vielleicht nicht mehr ganz so intuitiv ist). Und was ist mit der Zutatenliste in einem Rezept? Oder mit der bildlichen Illustration, die uns einen Eindruck vermitteln soll, wie das Resultat unserer kulinarischen Bemühungen am Ende aussehen sollte? Hier wird letztlich entscheidend sein, ob man überzeugend argumentieren kann, dass mit diesen Elementen ein kommunikatives Ziel (im Sinne eines Sprechakts) verbunden ist.
Eine ebenfalls häufig gestellte Frage ist, ob es überhaupt Sequenzen von (natürlichen) Äußerungen gibt, die nichtGibt es inkohärente Texte? kohärent und damit auch kein Text sind. Was ist beispielsweise mit einem Dada-Gedicht? Oder wenn Erna auf Lisbeths Frage mit Die Quadratwurzel von 49 ist 7 ›antwortet‹? Es ist sicherlich möglich, dass ein Sprecher Folgen von Äußerungen produziert, die als nicht kohärent intendiert sind. Tatsache ist aber auch, dass ein Rezipient immer nach einem inhaltlichen Zusammenhang suchen wird, auch wenn die fraglichen Äußerungen völlig zusammenhangslos erscheinen. So wird am Ende ein Dada-Gedicht dennoch zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Betrachtung und Lisbeth wird Ernas Äußerung wahrscheinlich in der Art von Natürlich will ich einen Kaffee! Wie kannst du da nur fragen?! interpretieren.
Die Frage, was alles ein Text ist und ob man zwischen Texten und Nicht-Texten unterscheiden kann bzw. muss, wird häufig mit Bezug auf einen sehr einflussreichen Vorschlag von de Beaugrande & Dressler (1981) diskutiert (vgl. hierzu z. B. die Diskussion in Gansel & Jürgens 2009 oder Averintseva-Klisch 2013), die insgesamt 7 Text(ualitäts)kriterienTextualitätskriterien Textualitätskriterienannehmen, die alle für sich genommen notwendigen und gemeinsam hinreichenden Charakter haben (sollen): Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität und Intertextualität. Wir werden uns im Folgenden auf Fragen der Kohärenz und Kohäsion beschränken, da sich die meisten der verbleibenden Kriterien bereits aus der Definition von Kommunikation (Intentionalität), Eigenschaften der Kommunikationssituation (Situationalität), und unabhängigen pragmatischen Prinzipien (Informativität) erklären lassen. Ergänzt wird die Diskussion dagegen um den Aspekt der Topikalität.