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3.4 Gesagtes und Gemeintes

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In der Literatur gibt es inzwischen eine Vielzahl prominenter Ansätze, die das oben angedeutete Phänomen zu erklären versuchen. Ein besonders einflussreicher Ansatz ist sicher die von Sperber & Wilson (1986) entwickelte Relevanztheorie, in deren Zentrum die Annahme der (optimalen) Relevanz sprachlicher Äußerungen steht. Der Fixpunkt in dieser Diskussion ist und bleibt aber nach wie vor die Arbeit von H. Paul Grice (1975) zu Logic and Conversation. H. Paul Grice war der Erste, der dem Phänomen, dass wir Mehr meinen als sagenmehr meinen können als wir sagen, systematisch nachgegangen ist.

Der zentrale Gedanke seines Erklärungsansatzes besteht in der Annahme, dass Kommunikation als rationales VerhaltenKommunikation eine Form rationalen Verhaltens ist: Sprecher und Adressat verfolgen in einem Gespräch im Regelfall ein gemeinsames Ziel. Dieses Ziel kann sehr unterschiedlicher Natur sein (Sprecher und Adressat möchten sich vielleicht auf einen Cappuccino verabreden; oder Sprecher und Adressat sind Tischnachbarn bei einer Feier und wollen sich nur unterhalten; oder beide sind Wissenschaftler und diskutieren über eine neue Theorie), und wir können dieses Ziel vielleicht nicht einmal klar formulieren, aber wir unterstellen, dass wir ein solches gemeinsames Ziel haben. Um dieses Ziel zu erreichen, so Grice, orientieren wir uns an bestimmten Regeln oder Maximen. Diese beiden Annahmen bilden gewissermaßen den theoretischen Überbau.

Wenn wir uns jetzt der Kommunikation auf der Ebene einer einzelnen Äußerung zuwenden, dann ist hier der zentrale Gedanke, dass ein Sprecher mit seiner Äußerung immer eine Kommunikative Intention und Hypothesenbildungbestimmte kommunikative Intentionkommunikative Intention (Absicht) verfolgt. Die Aufgabe des Adressaten in einer Kommunikationssituation ist dann, ausgehend von der Annahme, dass der Sprecher eine solche Intention verfolgt, diese Intention zu rekonstruieren, also danach zu fragen, warum der Sprecher das geäußert hat, was er geäußert hat, und was der Sprecher mit seiner Äußerung kommunizieren wollte, was also ihr [43]kommunikativer Sinn ist. Da dieser im Allgemeinen nicht mit dem zusammenfällt, was der Sprecher mit seiner Äußerung explizit gesagt hat, wird der Adressat plausible Hypothesen darüber aufstellen müssen, was die kommunikative Intention des Sprechers sein könnte.

Hier wird sich der Adressat nicht zuletzt davon leiten lassen, was das gemeinsame Ziel der Konversation ist. Und er wird unterstellen, dass sich der Sprecher an denselben Regeln orientiert wie er. Und er wird annehmen, dass auch der Sprecher unterstellt, dass sich der Adressat an denselben Regeln orientiert wie der Sprecher. Und er wird davon ausgehen, dass sie sich nicht nur dieses Verhalten gegenseitig zuschreiben, sondern dass sie sich auch gegenseitig zuschreiben, dass sie sich dieses Verhalten zuschreiben. Diese gestufte Gegenseitige ZuschreibungenForm der gegenseitigen Zuschreibung führt leicht zu einem Knoten im Kopf, sie ist aber absolut zentral dafür, dass wir als Adressat die kommunikative Intention des Sprechers rekonstruieren können: Nur wenn der Adressat davon ausgehen kann, dass auch der Sprecher davon ausgeht, dass Sprecher und Adressat voneinander annehmen, dass sie sich an denselben Regeln orientieren, kann der Adressat unterstellen, dass der Sprecher diese Regeln gezielt einsetzt, um das zu kommunizieren, was er kommunizieren möchte. Und nur weil der Sprecher annimmt, dass der Hörer dies annimmt, kann er die Ausrichtung an diesen Regeln erst gezielt einsetzen.

So viel zu den zentralen Gedanken, die dem Grice’schen Ansatz zugrunde liegen. Wie hat Grice diese Gedanken jetzt aber in seinem Ansatz umgesetzt? Die Annahme, dass Sprecher und Adressat in einem Gespräch ein gemeinsames Ziel verfolgen, geht in ein Kooperationsprinzip und Konversationsmaximenübergeordnetes KooperationsprinzipKooperationsprinzip ein (das nur bei unkooperativem Verhalten in Frage gestellt wird). Die erwähnten Regeln, an denen sich Sprecher und Adressat nach Grice in einem Gespräch orientieren, finden sich in vier KonversationsmaximenKonversationsmaximenMaxime wieder, die in Anlehnung an Immanuel Kants Kategorienlehre in der Kritik der reinen Vernunft als Maxime der QualitätMaximeder Qualität, Maxime der QuantitätMaximeder Quantität, Maxime der RelationMaximeder Relation (oder auch der Relevanz) und Maxime der ModalitätMaximeder Modalität bezeichnet werden. Die Maximen sind in Abbildung 3.2 in vereinfachter Form und in Übersetzung wiedergegeben.


Abb. 3.2: Die Grice’schen Konversationsmaximen

Um es gleich ganz deutlich zu sagen: Grice nimmt weder an, dass die Zum Status der KonversationsmaximenMaximen alle gleichrangig nebeneinander stünden (er gesteht z. B. der Maxime der Qualität eine besondere Rolle zu), noch nimmt er etwa an, dass es eine perfekte Arbeitsteilung zwischen den Maximen gäbe (so ist zum Beispiel ein Zuviel an Information in der Regel irrelevante Information). Auch nimmt Grice nicht an, dass wir uns in unserer alltäglichen Kommunikation sklavisch an diese Maximen halten würden. Im Gegenteil. Eine der zentralen Einsichten von Grice [44]ist gerade, dass wir die obigen Maximen (mehr oder weniger bewusst) in unterschiedlicher Weise einsetzen können, um Inhalte indirekt und auf einer impliziten Ebene zu kommunizieren: Indem wir uns an die Maximen halten, aber auch, indem wir gegen die Maximen (scheinbar) verstoßen. Inhalte, die wir auf der Grundlage der Grice’schen Maximen und auf der Grundlage dessen, was explizit gesagt wurde, kommunizieren, nennt Grice Konversationsimplikaturen. Vor allem in der germanistisch-linguistischen Literatur werden Konversationsimplikaturen auch gerne als das GemeinteGemeintes bezeichnet. Der Begriff der Konversationsimplikatur fällt dabei im Wesentlichen zusammen mit dem des kommunikativen Sinns.

Der Begriff der KonversationsimplikaturKonversationsimplikaturenImplikatur bezeichnet Inhalte, die auf der Basis des Gesagten, auf der Basis der Grice’schen Maximen und auf der Grundlage von allgemeinem und persönlichem Weltwissen (nicht-monoton) kommuniziert werden.

Das GesagteGesagtes im Sinne von Grice (1975) fällt im Wesentlichen mit der als wahr bzw. falsch beurteilbaren Äußerungsbedeutung eines satzwertigen Ausdrucks zusammen.

Machen wir uns die Stellung der (Scheinbarer) Verstoß gegen eine MaximeKonversationsmaximen im kommunikativen Verstehensprozess an einem einfachen Beispiel klar. Im letzten Abschnitt wurde ein Szenario entwickelt, in dem ich einer Kollegin auf die Frage, ob ich mit in die Mensa komme, antworte: »Um 12 Uhr findet die Einführungsvorlesung statt«. Das, was ich mit dieser Äußerung explizit gesagt habe, ist, dass (am [45]Tag der Äußerung) um 12 Uhr die Einführungsvorlesung stattfindet. Das ist aber nicht, was meine Kollegin wissen wollte. Sie wollte wissen, ob ich mit zur Mensa komme. Da meine Äußerung diese Frage nicht direkt beantwortet, ist sie zumindest auf den ersten Blick irrelevant (ein Verstoß gegen die Maxime der Relation). Wieso kann ich dann aber mit dieser Äußerung dennoch kommunizieren, dass ich nicht mit in die Mensa kommen kann?

Nach Grice (1975) räsoniert der Adressat in etwa wie folgt: Ingo Reich hat mir gesagt, dass heute um 12 Uhr die Einführungsvorlesung stattfindet. Das beantwortet aber nicht direkt meine Frage und ist daher streng genommen irrelevant. Da ich aber unterstellen kann, dass er das weiß, kann die Äußerungsbedeutung (das Gesagte) nicht bereits der kommunikative Sinn seiner Äußerung sein. Da es keine erkennbaren Gründe gibt anzunehmen, dass er sich bewusst unkooperativ verhält (sich also nicht an das Kooperationsprinzip hält), muss ich annehmen, dass seine Äußerung einen anderen kommunikativen Sinn hat und dieser kommunikative Sinn für mich von Relevanz ist (also meine Frage beantwortet). Was könnte dieser kommunikative Skizze eines InferenzprozessesSinn sein? Ich weiß, dass Ingo Reich gemeinsam mit Augustin Speyer die Einführungsvorlesung hält. Wenn er mir mit seiner Äußerung sagen möchte, dass er zur Mensazeit die Vorlesung halten muss, dann beantwortet das meine Frage (da ich dann schlussfolgern kann, dass er keine Zeit hat, mich in die Mensa zu begleiten). Also wird er wohl das gemeint haben. Explizit gesagt hat er also, dass heute um 12 Uhr die Einführungsvorlesung stattfindet. Gemeint hat er damit (auf indirekte Weise) aber, dass er nicht mit in die Mensa kann.

Diese in ihrer Explizitheit vielleicht etwas skurril anmutende Rekonstruktion der Herleitung einer Konversationsimplikatur macht die Charakteristika dieser Art von Implikaturen recht deutlich: Das Gesagte für sich genommen stellt einen Verstoß gegen (mindestens) eine der Maximen dar. Gleichzeitig gibt es aber keine erkennbaren Gründe anzunehmen, dass sich der Sprecher nicht kooperativ verhält. Die Implikatur, das Gemeinte, ergibt sich dann letztlich aus der Frage, wie man diese beiden Sachverhalte miteinander in Einklang bringen kann. Grice spricht hier Ausbeutung und Aufhebbarkeitvon AusbeutungAusbeutung. Bei der Beantwortung der Frage, wie beide obigen Annahmen miteinander vereinbart werden können, müssen wir erstens notgedrungen auf unser Weltwissen zurückgreifen und können zweitens nur plausible Vermutungen anstellen, die sich auch als falsch erweisen können. So hätte ich als Sprecher meine Äußerung ergänzen können durch: »Aber ich glaube Augustin Speyer ist heute dran«. Dies widerspricht explizit der Implikatur, dass ich zur Mensazeit die Einführungsvorlesung halten muss, und der Adressat wird daher entweder die Implikatur erst gar nicht ziehen oder sie wieder verwerfen müssen. Grice spricht hier davon, dass [46]Konversationsimplikaturen aufgrund ihres indirekten (nicht-monotonen) Charakters aufhebbarAufhebbarkeit (cancelable) sind.

Ein besonderes Charakteristikum dieser Art von Konversationsimplikatur ist, dass die Implikaturen nur in ganz spezifischen Kontexten überhaupt entstehen, also einen sehr hohen Grad an Kontextabhängigkeit aufweisen. Stellen wir uns zur Illustration einen ganz anderen Kontext vor. In diesem anderen Kontext planen wir mit der ganzen Abteilung die Lehre für das kommende Semester. Ein neuer Mitarbeiter sagt, dass er seinen Grundkurs (zur Einführungsvorlesung) gerne dienstags von 12–14 Uhr halten würde. Darauf erwidere ich: »Um 12 Uhr ist die Einführungsvorlesung«. In diesem Kontext löst die Äußerung eine ganz andere Implikatur aus. Der neue Mitarbeiter wird die Äußerung sicher so verstehen, dass er mit seinem Grundkurs auf einen anderen Termin ausweichen muss. Und in einem Kontext, in dem ein Studierender von mir die Grice’sche Theorie der Konversationsimplikaturen erklärt bekommen möchte, wird er die Äußerung als Aufforderung verstehen, vielleicht doch besser in die Vorlesung zu gehen. Implikaturen, die nur in solchen ganz spezifischen Kontexten entstehen, werden in der Partikulare KonversationsimplikaturenLiteratur partikulare Konversationsimplikaturen genannt. Partikulare Konversationsimplikaturen entstehen typischerweise durch Ausbeutung einer Maxime, beinhalten also meist einen (scheinbaren) Verstoß und sind damit für den Adressaten vergleichsweise leicht wahrnehmbar bzw. auffällig.

Partikulare KonversationsimplikaturenImplikaturpartikulare sind Konversationsimplikaturen, die ganz spezifische Kontexte benötigen, um den fraglichen Inferenzprozess auszulösen.

Generalisierte KonversationsimplikaturenImplikaturgeneralisierte sind Konversationsimplikaturen, die ganz spezifische Kontexte benötigen, um den Inferenzprozess zu blockieren.

Die Beachtung von Konversationsmaximen führt in der Regel ebenfalls zu Konversationsimplikaturen, so genannte Generalisierte Konversationsimplikaturengeneralisierte Konversationsimplikaturen. Diese sind aber eher unauffälliger Natur, da sie gewissermaßen den Normalfall darstellen und es ganz spezifische Kontexte braucht, damit sie nicht entstehen. Geben wir auch hierzu ein einfaches Beispiel: Aufgrund der Maxime der Qualität löst bei Annahme der Beachtung jede Äußerung eines (deklarativen) Satzes S die Implikatur aus, dass der Sprecher glaubt, dass S [47]wahr ist. Diese Implikatur wird jetzt nur unter ganz spezifischen Umständen blockiert. Ein solcher Umstand wäre Ironie.

Da die Maxime der Qualität einen etwas besonderen Status hat, möchte ich das Phänomen der generalisierten Konversationsimplikaturen hier lieber am Beispiel der Beachtung der Maxime der Quantität illustrieren. Nehmen wir an, ich gebe die Klausur zur Pragmatik-Vorlesung zurück und sage in meinen einleitenden Einige sagen, nicht alle meinenWorten: Einige Studierende haben die Klausur bestanden. Wie würden Sie diese Äußerung verstehen? Vermutlich als: Nicht alle Studierende haben die Klausur bestanden. Und entsprechend würde sich wohl etwas Unruhe im Plenum breit machen. Die zentrale Beobachtung ist nun, dass mit der Äußerung von einige X ein Sprecher im Regelfall gleichzeitig nicht alle X kommuniziert: Wenn ich sage, dass einige deutsche Spieler bei der WM 2018 gut gespielt haben, dann lege ich nahe, dass das nicht auf alle zutrifft. Und wenn ich sage, dass einige Würstchen beim Grillen nicht verbrannt sind, dann heißt es für die Adressaten der Äußerung: Augen auf bei der Auswahl der Würstchen.

Die Tatsache, dass in der Regel mit einer Äußerung von einige auch nicht alle kommuniziert wird, könnte zu der Annahme verführen, dass dies Teil der lexikalischen Bedeutung von einige ist: Einige bedeutet eben einige und nicht alle. Tatsache ist aber auch, dass einige nicht in jeder Verwendung einige und nicht alle bedeuten kann. Wenn ich zum Beispiel sage, dass ich gestern Abend einige Gläser Wein getrunken habe, dann will ich damit nicht nahelegen, dass ich nicht alle Gläser Wein getrunken habe. Oder wenn eine Kollegin bei mir zu Hause anruft und mir sagt, dass einige Studierende vor meinem Büro warten, dann wird sie damit ebenfalls nicht sagen wollen, dass nicht alle Studierende vor meinem Büro warten. Diese Beispiele sind nicht einfach zu erklären, wenn man einen Semantik oder Pragmatik?semantischen Ansatz verfolgt. Aus pragmatischer Perspektive kann man dagegen argumentieren, dass die Inferenz von einige auf nicht alle eben in solchen Kontexten blockiert wird, in denen das Quantifizierte (also die Studierenden bzw. der Wein) keine (wie auch immer) abgeschlossene Menge darstellt (innerhalb der wir die eine Gruppe von Personen bzw. Objekten mit der anderen kontrastieren können).

Die Frage aber bleibt, wie diese Generalisierte Quantitätsimplikaturengeneralisierten Konversationsimplikaturen zustande kommen. Im Allgemeinen wird mit Grice angenommen, dass Implikaturen dieser Art auf die Beachtung der Maxime der Quantität zurückgehen. Nehmen wir an, es hätten tatsächlich alle Studierende die Klausur bestanden. Dann ist sowohl die Aussage, dass alle Studierende die Klausur bestanden haben, wahr als auch die Aussage, dass einige Studierende die Klausur bestanden haben. Denn wenn alle die Klausur bestanden haben, dann haben notwendigerweise immer auch einige die Klausur bestanden. Aber die Aussage, dass alle [48]Studierende die Klausur bestanden haben, ist in diesem Kontext die informativere und damit nach der Maxime der Quantität auch angemessenere Äußerung. Wenn nun aber der Sprecher die weniger informative Aussage äußert und wir davon ausgehen können, dass er die Maxime der Quantität beachtet, dann müssen wir daraus schließen, dass die Voraussetzung für die stärkere Aussage nicht gegeben ist. Und diese Voraussetzung ist, dass alle Studierende die Klausur bestanden haben. Also werden wir daraus schließen, dass nicht alle Studierende die Klausur bestanden haben.

Interessanterweise findet sich das obige Muster – die Äußerung eines schwächeren AusdrucksSkalare ImplikaturenImplikaturskalare implikatiertimplikatieren das Nichtzutreffen des stärkeren Ausdrucks – nicht nur im Fall von einige und alle, sondern zum Beispiel auch bei können und müssen: Wenn ich mir einen Keks nehmen kann, dann muss ich ihn mir nicht nehmen. Oder auch bei glauben und wissen: Wenn ich sage, dass ich glaube, dass Augustin Speyer in seinem Büro ist, dann heißt das eben auch, dass ich es nicht (sicher) weiß. Dass dieses Phänomen ein sehr systematisches ist, wurde unter anderem in Horn (1972) beobachtet, der die Idee entwickelte, dieses Muster in so genannten SkalenSkala (heute Horn-Skalen genannt) zu formalisieren. Eine Skala meint in diesem Zusammenhang eine geordnete Liste von gleichartigen Ausdrücken, wobei der links stehende Ausdruck immer echt informativer ist als der rechts stehende Ausdruck. So ist < alle, einige > eine Skala bestehend aus den Quantoren einige und alle, < müssen, können > eine Skala bestehend aus den Modalverben können und müssen, und < wissen, glauben > eine Skala bestehend aus den Verben der propositionalen Einstellung glauben und wissen. Die Generalisierung ist nun, dass bei einer Skala < A2, A1 > der Ausdruck A2 (qua lexikalische Bedeutung) echt informativer ist als der Ausdruck A1 und die Äußerung von A1 (daher) im Normalfall das Nichtzutreffen von A2 kommuniziert. Diese Annahme lässt sich auch auf größere Skalen wie z. B. Numerale < n, n-1, …, 5, 4, 3, 2, 1 > generalisieren: Wenn ich einem Polizisten sage, dass ich 2 Gläser Wein getrunken habe, dann wird er davon ausgehen, dass ich keine 3 getrunken habe, und auch keine 4, und auch keine 5 etc. Die Annahme von Default-Folgerungen, die genau genommen nicht mehr direkt auf den Grice’schen Maximen operieren, nimmt die Weiterentwicklung der Theorie der generalisierten Implikaturen in Levinson (2000) bis zu einem gewissen Grad vorweg.

Die Theorie der skalaren Implikaturen eröffnet unter anderem eine Lösung für ein Problem, das sich im Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung der koordinierenden Konjunktion oderoderinklusivesoderexklusives im Deutschen stellt. Das Pendant zu oder in der Aussagenlogik, das formale Symbol ˅, verknüpft zwei Aussagen p und q zu einer komplexen Aussage (p ˅ q), die genau dann wahr ist, wenn mindestens eine der beiden Teilaussagen p und q wahr ist. In Form einer Wahrheitswerttabelle lässt sich diese inklusive Zur Arbeitsteilung zwischen Semantik und PragmatikSemantik des Junktors ˅ wie folgt darstellen: Die beiden Teilaussagen p und q können jeweils entweder den Wahrheitswert 1 (wahr) oder 0 (falsch) annehmen. Damit ergeben sich insgesamt 2 × 2 = 4 Möglichkeiten: Entweder sind beide wahr oder beide falsch oder genau eine der beiden wahr. Jede Zeile in der Tabelle repräsentiert eine dieser Möglichkeiten (vergleiche hierzu die Einträge in den beiden linken Spalten zu p und q). In der Spalte (p ˅ q) ist dann jeweils angegeben, ob der Satz (p ˅ q) unter dieser Wahrheitswertverteilung wahr ist oder falsch:


Die Frage, die sich nun stellt, ist: Ist die Bedeutungsbeschreibung des Junktors ˅ in der Aussagenlogik auch eine geeignete Bedeutungsbeschreibung für die Konjunktion oder im Deutschen? Auf den ersten Blick möchte man sagen: Nein! Denn oder im Deutschen schließt im Allgemeinen aus, dass beide Aussagen gleichzeitig zutreffen. Wenn ich sage: Ich wasche dir das Auto oder ich mähe den Rasen, dann schließe ich damit offenbar die Möglichkeit aus, dass ich beides mache. Betrachtet man sich nun aber auch die Bedeutungsbeschreibung des Pendants ˄ zu und in der Aussagenlogik, dann sieht man schnell, dass ˅ und ˄ eine Skala <˄, ˅> bilden: Wenn die Aussage (p ˄ q) wahr ist, dann ist immer auch (p ˅ q) wahr, aber nicht umgekehrt. Nach der Theorie der skalaren Implikaturen löst dann aber eine Äußerung von (p ˅ q) die Annahme aus, dass (p ˄ q) nicht zutrifft. Beide Aussagen zusammen, also die komplexe Aussage ((p ˅ q) ˄ ¬ (p ˄ q)), sind aber inhaltlich äquivalent zu einer exklusiven (also ausschließenden) Interpretation von ˅. Übernimmt man also die Bedeutungsbeschreibungen von ˄ und ˅ für die Konjunktionen und und oder, dann lässt sich die exklusive Interpretation von oder auf der Basis einer inklusiven Semantik von oder in Interaktion mit pragmatischen Prinzipien herleiten.

Beschließen wir den Abschnitt zu Konversationsimplikaturen mit einem weiteren Beispiel. Nehmen wir an, Sie stehen mit Ihrem Kollegen vor Ihrer Bürotür, haben einen Kaffee in der Hand und suchen nach Ihrem Schlüssel. Sie finden ihn aber nicht. Darauf hin sagen Sie zu Ihrem Kollegen: Kannst du mir die Türe öffnen? Genau genommen ist diese Frage eine Frage nach der Fähigkeit [50]oder Möglichkeit des Kollegen, die Türe zu öffnen. Dass dem tatsächlich so ist, zeigt die Tatsache, dass der Kollege die Frage im Prinzip mit ja beantworten kann (z. B., weil alle Bürotüren mit demselben Gruppenschlüssel geöffnet werden). Die Frage nach der Möglichkeit ist aber natürlich nicht der kommunikative Sinn der Äußerung. Was der Sprecher primär möchte, ist, dass der Kollege einfach die Bürotür öffnet. Mit anderen Worten: Wir verstehen die Frage nach der Möglichkeit, etwas zu tun, als die Aufforderung, es zu tun. Dieses Phänomen wird in der Literatur unter dem Indirekte SprechakteBegriff der indirekten SprechakteSprechaktindirekter diskutiert.

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