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[36]3.2 Äußerungssituation und deiktische Interpretation

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Da die Interpretation deiktischer Ausdrücke den Bezug auf die Äußerungssituation erfordert und damit ein hohes Kontextabhängigkeit deiktischer AusdrückeMaß an Kontextabhängigkeit aufweist, ist es sicher nicht verkehrt, deiktische Ausdrücke im Rahmen der Pragmatik zu diskutieren. Eine zentrale Eigenschaft deiktischer Ausdrücke wurde bereits im letzten Abschnitt angedeutet: Im Gegensatz zu Eigennamen wie Lisbeth oder Erna weisen deiktische Ausdrücke wie ich oder du keinen festen inhaltlichen Bezug, keine feste Referenz auf. Worauf deiktische Ausdrücke in einer konkreten Äußerung referieren, wird über ihre Ausdrucksbedeutung und relevante Eigenschaften der Äußerungssituation festgelegt.

Wird die Referenz deiktischer Ausdrücke allein über die Ausdrucksbedeutung und relevante Eigenschaften der Äußerungssituation festgelegt, dann spricht man auch Rein indexikalische und echt demonstrative Ausdrückevon rein indexikalischenrein indexikalisch Ausdrücken. Tatsächlich sind die Pronomina ich und du in diesem Sinne rein indexikalisch, genauso wie das Temporaladverb jetzt oder das Lokaladverb hier. Demonstrative Ausdrücke wie der, dieser Mann oder auch das lokale Adverb dort sind dagegen nicht rein indexikalisch, da für die eindeutige Identifizierung der (intendierten) Referenz im Allgemeinen noch weitere Informationen erforderlich sind wie z. B. ein gestischer Verweis auf die gemeinte Person. So wird ein Sprecher bei der [37]Äußerung des Satzes »Diesen Mann dort drüben, den konnte ich noch nie leiden!« in Richtung der fraglichen Person nicken oder vielleicht sogar mit dem Finger auf sie zeigen (ZeigegestusZeigegestus). Ist die fragliche Person auch auf andere Art und Weise identifizierbar (z. B., weil er gerade großspurig eine Runde Champagner spendiert hat), dann kann der Zeigegestus auch entfallen. Echt demonstrativDeixisecht demonstrativ deiktische Ausdrücke sind dadurch charakterisiert, dass sie ohne einen Zeigegestus überhaupt nicht inhaltlich interpretiert werden können. Ein gutes Beispiel dafür ist die Partikel so in einem Satz wie »Ich habe gestern einen Fisch gefangen, der war SO groß!«.

Der Begriff des rein indexikalischen Ausdrucks geht im Wesentlichen auf die Vorstellung zurück, dass die für die Interpretation von Ausdrücken wie ich, du, hier oder jetzt relevanten Eigenschaften des Äußerungskontexts (Wer ist der Sprecher? Wer ist der Adressat? Wo fand die Äußerung statt? Wann fand die Äußerung statt?) über Indexeinen Index, also eine geordnete Liste von (abstrakten) Gegenständen der Art <Sprecher, Adressat, Ort, Zeit …>, modelliert werden können. Der Index einer Äußerungssituation beinhaltet damit alle relevanten Informationen zur Interpretation dieser Ausdrücke. In diesem Sinne sind sie nur vom Index der Äußerungssituation abhängig (vgl. hierzu z. B. die Arbeiten von Lewis 1970 und Kaplan 1989; weitere Diskussion, insbesondere zum Deutschen, findet sich z. B. in Ehrich 1992a).

Mit der Art der Referenz (Person, Ort, Zeit) werden in der Regel mindestens drei Typen deiktischer Ausdrücke unterschieden: personale DeixisDeixispersonale, lokale DeixisDeixislokale und temporale DeixisDeixistemporale. Für alle diese deiktischen Ausdrücke ist nicht nur charakteristisch, dass sie über die Äußerungssituation zu interpretieren sind. Es ist auch charakteristisch, dass diese Interpretation auf eine ganz spezifische Art und Weise erfolgt: Deiktische Ausdrücke wie ich, jetzt oder hier werden systematisch auf ein mehrdimensionales Koordinatensystem bezogen, in dessen Mittelpunkt (im Normalfall) der Sprecher zu lokalisieren ist. Dieser Mittelpunkt wird mit Bühler (1934) die Ich-Jetzt-Hier-Origo oder einfach Origobezug deiktischer Ausdrückekurz die OrigoOrigo (der Ursprung, das deiktische ZentrumZentrumdeiktischesOrigo) genannt.

Als deiktisch oder indexikalisch bezeichnet man sprachliche Ausdrücke, die nicht aus eigener Kraft direkt auf einen (abstrakten) Gegenstand referieren, sondern deren Referenz relativ zum deiktischen Zentrum, der Origo, über relevante Eigenschaften der Äußerungssituation und weitere Hinweise wie z. B. Gesten festgelegt wird.

Dieser relationale Bezug auf die Origo lässt sich am besten an einem Ein BeispielBeispiel illustrieren: Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Promotionsfeier und Sie hören eine Ihnen unbekannte Person in der Ferne sagen: »Dort hinten habe ich gestern ganz alleine das Buffet aufgebaut.« Nehmen wir außerdem an, Sie stehen gerade direkt neben dem Buffet. Dann werden Sie keine Probleme haben aufzulösen, was die fragliche Person mit »dort hinten« gemeint hat, und Sie werden sich etwas denken in der Art: »Ah, hier hat er gestern (angeblich) ganz alleine das Buffet aufgebaut«. Vergleicht man nun die beiden Äußerungen, dann ist klar, dass sich die beiden lokalen Adverbien dort und hier in den Äußerungen auf denselben Ort beziehen (den Ort des Buffets) und die beiden Personalpronomina ich und er auf dieselbe Person (die Person, die das Buffet nach eigener Aussage ganz alleine aufgebaut hat). Aber während der Sprecher der ersten Äußerung das Adverb dort benutzt, um sich auf den Ort des Buffets zu beziehen, und das Pronomen ich, um auf sich selbst zu referieren, benutzen Sie in ihrer gedanklichen Äußerung bei gleichem Bezug das Adverb hier und das Pronomen er. Die Wahl des pronominalen Ausdrucks hängt also offenbar erstens davon ab, wer der Produzent der Äußerung ist: Mit ich bezieht sich der Produzent einer Äußerung auf sich selbst, mit er bezieht er sich (im Normalfall) auf eine dritte Person (und mit du bezieht er sich auf den Adressaten der Äußerung). Zweitens hängt sie aber (mindestens) im Fall von dort und hier auch davon ab, wie der fragliche Ort relativ zum Sprecher zu verorten ist: Ist er in seiner unmittelbaren Nähe, dann wird der Sprecher hier verwenden. Ist der Ort aber hinreichend weit vom Sprecher entfernt, dann wird er dort verwenden.

Dieses Beispiel zeigt, dass man bei lokaler Deixis zwischen Nahraum und (gerichteter) Distanzraumeinem NahraumNahraum, dem Hier, der den Ort des Sprechers inkludiert, und einem komplementären DistanzraumDistanzraum, dem Dort, unterscheiden kann. Die Ausdehnung des Nahraums ist dabei selbst wieder stark kontextabhängig (ich kann von hier in meinem Büro, von hier in Saarbrücken oder auch von hier in Europa sprechen) und die Grenze zwischen Nah- und Distanzraum ist im Allgemeinen vage. Die Richtung, in der das distaledistal (vom Sprecher entfernte) Objekt zu lokalisieren ist, ist dagegen zumindest im Fall von dort für die Unterscheidung zwischen Nahraum und Distanzraum zunächst unerheblich.

Im Fall der temporalen Deixis ist das etwas anders. Zeit hat (in unserer Vorstellung) eine gerichtete lineare Struktur und der Zeitpunkt der Äußerung, das Jetzt, teilt diese gerichtete Zeitlinie ein in ein Davor und ein Danach, in eine Vergangenheit und eine Zukunft. Diese Zweiteilung schlägt sich natürlich auch in der Art der Versprachlichung nieder: Mit gestern beziehen wir uns eben auf den Tag vor dem Tag der Äußerung und mit morgen auf den Tag nach dem [39]Tag der Äußerung. Mit vorhin bezeichnen wir einen Zeitraum, der zwar Teil des Davor ist, dabei aber relativ nahe am Jetzt, und mit nachher bezeichnen wir einen ebenfalls Jetzt-nahen Zeitraum im Danach.

Ob die Unterscheidung zwischen Nähe und Distanz auch bei der personalen Deixis sinnvoll ist, ist nicht völlig klar. Für die Charakterisierung von ich und du ist eigentlich die Unterscheidung zwischen Produzent und Adressat ausreichend. Dennoch wird nicht selten angenommen, dass die erste Person ich ein proximalesproximal (inkludiert den Sprecher) und die zweite Person du ein medialesmedial Verhältnis ausdrückt in dem Sinne, dass der Adressat zwar nicht mehr Teil der Origo, aber noch Teil der Äußerungssituation ist. Die dritte Person er, sie, es dagegen würde man eher als distal charakterisieren: Sie ist im Gegensatz zu ich und du eben nicht mehr notwendig Teil der Äußerungssituation.

Abschließend sei noch erwähnt, dass der Bezugspunkt deiktischer Ausdrücke, die Ich-Jetzt-Hier-Origo, entlang jeder der drei Dimensionen Das Verschieben der Origoverschoben werden kann. Man spricht hier auch von Deixis am PhantasmaDeixisam Phantasma (vgl. Bühler 1934). Am deutlichsten ist dies wohl im Fall der lokalen Deixis: Wenn eine Ärztin in einer Krankenakte notiert, dass das linke Bein des Patienten gebrochen ist und operiert werden muss, dann meint links hier links vom Patienten aus gesehen, und nicht links von der Ärztin aus gesehen. Die Ärztin nimmt hier bei der Formulierung per Konvention (aus guten Gründen) gedanklich die Perspektive des Patienten ein.

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