Читать книгу Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung - Ingo Reich - Страница 5
[8]1.2 Teilgebiete der (Germanistischen) Linguistik
ОглавлениеNähern wir uns also unserem Gegenstand an. Wir haben gerade formuliert, dass dies die deutsche Sprache in all ihren Dimensionen ist. Damit stellt sich sofort die Frage: Was genau sind diese Dimensionen? Um die Gliederung der (Germanistischen) Linguistik in ihre Teilgebiete nachvollziehen zu können, sollte man sich zunächst bewusst machen, was Sprache eigentlich ausmacht. Sprache dient offenbar der Kommunikation. Wir wünschen uns einen guten Morgen, indem wir »Guten Morgen!« sagen, wir bestellen uns mit den Worten »Ich hätte gerne einen Cappuccino« einen Cappuccino und wir entnehmen der Schlagzeile »Frankreich ist Weltmeister« auf z. B. Zeit Online (15. 7. 2018), dass Frankreich Weltmeister ist. Form und Inhalt sprachlicher AusdrückeSprache hat also zunächst eine inhaltliche Seite: Mit »Ich hätte gerne einen Cappuccino« bestelle ich eben einen Cappuccino und keinen Apfelsaft, ganz einfach weil ich mich mit dem Wort Cappuccino auf Cappuccino beziehe und nicht auf Apfelsaft. Die sprachlichen Äußerungen haben dabei aber immer auch eine bestimmte Form oder Struktur. Ich kann nicht sagen: »Frankreich bist Weltmeister«. Diese Äußerung würden wir als nicht akzeptabel, als ungrammatisch bezeichnen, auch wenn wir die damit verbundene Aussage vielleicht verstehen. Das Problem ist, sprachwissenschaftlich gesprochen, dass der Eigenname Frankreich in der dritten Person steht, die Kopula bist aber in der zweiten Person. »Frankreich, du bist Weltmeister« wäre dagegen wieder akzeptabel. Sprachwissenschaftler stehen also vor mindestens zwei Herausforderungen: Sie müssen zum einen die Struktur, den Aufbau sprachlicher Ausdrücke beschreiben, also die Regeln, nach denen diese Ausdrücke gebildet werden. Zum anderen müssen sie den inhaltlichen Bezug, also die Bedeutung dieser Ausdrücke beschreiben. Und am Ende wird man auch erklären wollen, wie die Ausdrücke zu ihrer Bedeutung kommen. Für ein Wort wie Cappuccino ist das vielleicht noch recht naheliegend: Wir haben einfach gelernt, dass wir uns mit dem (eigentlich italienischen) Wort Cappuccino auf Cappuccino beziehen. Nicht ganz so einfach zu erklären ist aber, was die Bedeutung des Satzes ich hätte gerne einen Cappuccino ist und wie diese Bedeutung auf der Basis der einzelnen Wörter zustande kommt.
Was die Struktur sprachlicher Ausdrücke betrifft, werden in der Linguistik im Wesentlichen drei Ebenen unterschieden: die Struktur von Sätzen, die Struktur von komplexen Wörtern und der lautliche Aufbau sprachlicher Ausdrücke. Mit der Struktur von Kerngebiete der (Germanistischen) LinguistikSätzen beschäftigt sich die SyntaxSyntax, mit der Struktur von komplexen Wörtern die MorphologieMorphologie und mit dem lautlichen Aufbau die PhonetikPhonetik und die PhonologiePhonologie. (Was genau der Unterschied ist zwischen Phonetik und Phonologie, darauf werden wir in Kapitel 9 noch zu [9]sprechen kommen.) Fragen des inhaltlichen Bezugs, der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, sind schließlich Gegenstand der SemantikSemantik. Untersucht man die Bedeutung von Wörtern, dann spricht man von der lexikalischen Semantik. Wird die Bedeutung komplexerer Ausdrücke untersucht, spricht man von Satzsemantik.
Abb. 1.2: Kerngebiete der (Germanistischen) Linguistik
DieGrammatikKompetenz genannten Bereiche der Linguistik werden in dem Sinne als Kerngebiete bezeichnet, als sie das Grammatik und Kompetenzgrundlegende grammatische System einer Sprache beschreiben, das die Basis unserer sprachlichen Kompetenz darstellt. Mit ›grammatisches System‹ ist hier aber keine präskriptive Grammatik gemeint, also eine Grammatik, die wir aus dem Regal nehmen können und in der steht, was ›richtiges‹ Deutsch ist. Was wir hier meinen, ist das System, das wir als Kinder gewissermaßen nebenbei erwerben und das in unserem Gehirn in irgendeiner Form als eine mentale Grammatik repräsentiert sein muss. Da wir zu diesem System leider keinen direkten Zugang haben, muss das Ziel sprachwissenschaftlicher Forschung sein, dieses System auf der Grundlage sprachlicher Äußerungen zu rekonstruieren, zu beschreiben und letztlich zu modellieren.
Eine GebrauchFunktionweit verbreitete Vorstellung ist dabei, dass diese mentale Grammatik in einer konkreten Situation den Gedanken eines Sprechers gewissermaßen ›in Worte kleidet‹, also einen sprachlichen Ausdruck generiert (erzeugt), der den Gedanken des Sprechers möglichst präzise wiedergibt. Von diesem sprachlichen Ausdruck selbst ist dann zu unterscheiden, wie der Sprecher diesen Ausdruck in der konkreten Situation verwendet, welche Funktion der Ausdruck in der konkreten Situation hat. So werde ich in der Regel mit der Äußerung »Guten Morgen!« jemanden morgens begrüßen. Wenn ich aber »Guten Morgen!« zu meinen Studierenden sage, denen gerade in meiner Vorlesung die Augen zugefallen sind (was natürlich ein rein hypothetischer Fall ist), dann hat diese Äußerung sicherlich eine ganz andere Funktion (und wäre auch zum Beispiel an einem Nachmittag angemessen). Mit Fragen des Gebrauch und FunktionGebrauchs [10]und der Funktion von sprachlichen Ausdrücken beschäftigt sich die PragmatikPragmatik und bis zu einem gewissen Grad auch die TextlinguistikTextlinguistik. Die Pragmatik fällt im Allgemeinen auch unter die Kerngebiete der Linguistik, ist aber nicht Teil des grammatischen Systems im engeren Sinne.
Neben den genannten Kerngebieten gibt es noch eine Reihe weiterer Weitere zentrale TeilgebieteGebiete, die Berührungspunkte zu allen Kerngebieten aufweisen. (Man sagt auch, dass sie quer zu den Kerngebieten liegen.) So untersucht der ErstspracherwerbErstspracherwerb zum Beispiel, wie wir als Kinder zu unserer Muttersprache kommen. Zum Erwerb unserer Muttersprache gehört aber natürlich nicht nur der Erwerb von bestimmten Lauten oder von bestimmten Wörtern, sondern auch die Kompetenz zur Bildung von Sätzen und deren angemessene Verwendung in einer konkreten Situation (dass man jemanden mit »Guten Morgen!« eben normalerweise morgens begrüßt und nicht abends). Ähnlich ist es im Fall der OrthographieOrthographie: Wenn ich das Schriftsystem des Deutschen untersuche, dann kann das bei der Worttrennung die Struktur von Wörtern betreffen und bei der Zeichensetzung die Struktur von Sätzen. Und so weiter und so fort. Während wir im ersten Teil dieser Einführung die Kerngebiete in ihren Grundzügen darstellen, werden wir im zweiten Teil auf einige dieser quer liegenden Gebiete eingehen. Neben dem Erstspracherwerb und der Orthographie sind dies Sprachverarbeitung, Sprachwandel und dialektale Variation: Die SprachverarbeitungSprachverarbeitung beschäftigt sich mit den kognitiven Prozessen, die bei der Produktion und bei der Rezeption von sprachlichen Ausdrücken ablaufen. In der SprachgeschichteSprachgeschichte wird untersucht, wie sich Sprache über die Zeit verändert, vom Alt- über das Mittel- und Frühneuhochdeutsche bis hin zum Gegenwartsdeutschen. Und unter dialektaler VariationDialektologie sollte sich jeder etwas vorstellen können, der nicht gerade im Raum Hannover/Braunschweig aufgewachsen ist. Es ist klar, dass wir hier aus verschiedenen Gründen eine Auswahl treffen mussten (so konnte z. B. der Bereich des Zweitspracherwerbs nicht berücksichtigt werden), aber wir denken dennoch, ein so breites Feld abgedeckt zu haben, dass man einen guten Eindruck von der Vielfalt des Faches bekommt.
Abb. 1.3: Weitere Gebiete der (Germanistischen) Linguistik