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[30]2.6 Vom Text zur Textsorte

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Die in Kapitel 2.1 skizzierte Klassifikation von Kommunikationsformen auf der Grundlage zentraler Eigenschaften der Kommunikationssituation führt zunächst nur zu einem vergleichsweise groben (wenn auch wohlfundierten) Raster. Auch die Diskussion der konstitutiven Eigenschaften von Texten (Kohärenz, Kohäsion, Diskurstopik) in den Kapiteln 2.4 und 2.5 führt naturgemäß zu keiner weiteren Ausdifferenzierung des Textbegriffs. Tatsache ist aber auch, dass wir in unserem Alltag eine Vielzahl von Texten unterscheiden, die die verschiedensten Funktionen haben und auch in formaler Hinsicht stark voneinander abweichen können. Wir sprechen z. B. von einer Anhörung, einem Verhör, einem Vortrag oder einer Rede, wir sprechen von einem Artikel, einer Schlagzeile, einem Rezept oder einer Kleinanzeige, wir sprechen von einem Brief, einer Mitteilung, einem Gutachten oder einer Steuererklärung.

Um diese vortheoretische Binnendifferenzierung von Texten zu erfassen, hat sich in der Textlinguistik der Begriff Textsorteder Textsorte herausgebildet. Textsorten können dabei im Wesentlichen als weitgehend konventionalisiertes Muster zur Erreichung eines bestimmten kommunikativen Ziels definiert werden. Oder in den Worten von Schwarz-Friesel & Consten (2014: 22): »Es ist typisch für einen Text, dass er als Exemplar einer Textsorte mit einer grammatischen Oberflächenstruktur, einem inhaltlichen Zusammenhang und einem globalen Sinngehalt von jemandem (für jemanden) mit einer bestimmten Intention in einer bestimmten Situation produziert wurde.«

Mit dem Begriff der TextsorteTextsorte bezeichnen wir vortheoretisch Muster von Texten, die sich zur Erreichung eines bestimmten kommunikativen Ziels herausgebildet haben.

Aufgrund der erwähnten Konventionalisierung können sich Textsorten formal auf zwei Ebenen unterscheiden, einer textstrukturellen Ebene und einer grammatischen Ebene. Machen wir uns das wieder an einem Beispiel klar, vgl. hierzu Abbildung 2.10.


Abb. 2.10: Beispiel für den strukturellen Aufbau eines Artikels

Abbildung 2.10 zeigt den typischen Aufbau eines Zeitungsartikels: Eine Schlagzeile betitelt den Artikel, gefolgt von einem Schlagzeile, Lead und BodyLead mit zusammenfassendem Charakter und dem eigentlichen Body des Artikels. Dieser strukturelle Aufbau ist konventionalisiert und in diesem Aufbau unterscheidet sich ein Zeitungsartikel wesentlich von einem Rezept, einem Wetterbericht oder einer Kleinanzeige. Innerhalb dieser textuellen Strukturierung gibt es aber einen wesentlichen Unterschied zwischen Lead und Body einerseits und der Schlagzeile andererseits: In Schlagzeilen ist die Auslassung des Artikels bei Nomen im Singular möglich, im Lead und Body dagegen nicht. So ist z. B. die Schlagzeile Kuh springt durch Fenster in Küche (dapd vom 22. 6. 2012) im Body eines Artikels schlicht kein akzeptables Deutsch. In einer Schlagzeile dagegen nehmen wir die Auslassung der Artikel in der Regel gar nicht wahr.

Das Kulturelles WissenWissen über die textstrukturellen und grammatischen Eigenschaften einer Textsorte ist etwas, das erlernt werden muss: Ein Journalist muss lernen, wie man einen Artikel schreibt, ein Meteorologe muss lernen, wie man einen Wetterbericht verfasst, und ein Personalchef muss wissen, wie ein Arbeitszeugnis auszusehen hat. In manchen Fällen erwerben wir dieses Textsortenwissen mehr oder weniger nebenbei (z. B. durch das Lesen von Zeitungen oder das Hören von Wetterberichten), in anderen Fällen muss dieses Wissen bei Bedarf bewusst erworben werden (z. B. das Schreiben einer Hausarbeit oder das Verfassen eines Gutachtens). Über dieses Wissen zu verfügen, heißt allerdings wiederum nicht, in jedem Fall klar entscheiden zu können, ob im Fall zweier gegebener Texte auch unterschiedliche Textsorten vorliegen.

Geben wir auch hier ein Beispiel zur Illustration. Die meisten von uns haben eine recht klare Vorstellung davon, was einen Geschäftsbrief und E-MailGeschäftsbrief ausmacht. [32]Tatsächlich gibt es hier sogar eine DIN-Vorgabe (DIN 5008, Abschnitt 17): Ein Brief enthält unter anderem ein Adressfeld und eine Rücksendeangabe. Ein Brief ist datiert und es gibt eine Betreffzeile. Der Textteil beginnt mit einer abgesetzten Anrede und schließt mit einer abgesetzten Grußformel, wobei der Grußformel kein Komma folgt. Das im Hinterkopf kann man nun die Frage stellen, ob eine (geschäftliche) E-Mail eine andere Textsorte darstellt oder nicht. Tatsächlich ist diese Frage gar nicht so einfach zu beantworten. Zunächst kann man sicher festhalten, dass das kommunikative Ziel in beiden Fällen im Wesentlichen dasselbe ist (die Kommunikation mit einer Geschäftspartner*in). Auch auf grammatischer Ebene unterscheiden sich klassische Geschäftsbriefe nicht wesentlich von geschäftlichen E-Mails. Bleibt also die textstrukturelle Ebene. Auch hier ist natürlich eine große Ähnlichkeit festzustellen: E-Mails verfügen ebenfalls über ein Adressfeld und eine Rückadresse, sie verfügen über eine Betreffzeile und einen Zeitstempel. Und der Textteil einer geschäftlichen E-Mail folgt ebenfalls demselben Muster eines Geschäftsbriefs. Im Gegensatz zum Geschäftsbrief ist bei einer E-Mail jedoch standardmäßig die Möglichkeit von Blindkopien vorgesehen, der (meist versteckte) Header enthält noch zusätzliche Informationen über die Kodierung des Textes, über Servernamen und IP-Adressen. Und nach der Grußformel folgt meist noch eine Signatur mit der klassischen Postadresse und der eigenen Webseite. Möchte man von unterschiedlichen Textsorten sprechen, dann wird man diese Unterschiede als wesentliche einordnen müssen. Kommt man jedoch zu der Auffassung, dass diese Unterschiede nicht wesentlich (und letztlich primär auf Eigenschaften des Mediums zurückzuführen) sind, dann liegt hier lediglich ein Unterschied in der Kommunikationsform vor: elektronisch vs. nicht-elektronisch.

Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung

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