Читать книгу Rechtsmedizin - Ingo Wirth - Страница 25

4.2 Schätzung der Todeszeit

Оглавление

Jede Todeszeitschätzung basiert auf dem Versuch, unter Berücksichtigung der Umgebungsbedingungen die Ausprägung der Leichenveränderungen in einen zeitlichen Zusammenhang mit dem Todeseintritt zu stellen. Wie bereits erläutert, werden die Art und die Entwicklung der einzelnen Leichenerscheinungen durch eine Vielzahl von Einflussfaktoren bestimmt. Ihre tatsächliche Bedeutung, insbesondere das Zusammenwirken der einzelnen Faktoren, lässt sich im konkreten Fall nur schwer interpretieren. Zudem gibt es keinen momentanen Übergang vom Leben zum Tod, sodass der Todeszeitpunkt biologisch ein Todeszeitraum ist. Aus diesen Gründen muss man sich des Wahrscheinlichkeitscharakters jeder Todeszeitschätzung bewusst sein.

Trotz dieser Einschränkungen ist die Schätzung der Todeszeit für die kriminalistische Praxis unverzichtbar, vorrangig für die Feststellung möglicher Zeugen, die Alibiermittlung sowie die Aufstellung von Weg-Zeit-Diagrammen. Mitunter erlangt die Kenntnis der Todeszeit eine erbrechtliche oder auch eine versicherungsrechtliche Bedeutung. Wenn bei einem Ereignis mehrere, durch eine Erbfolge verbundene Personen sterben, kann es notwendig sein festzustellen, bei wem der Tod zuerst eintrat.

Die Schätzung der Todeszeit ist eine verantwortungsvolle Aufgabe und muss dem Fachmann überlassen werden. Der Rechtsmediziner verfügt über die notwendigen Spezialkenntnisse, Untersuchungsmethoden und Erfahrungen, benötigt aber Angaben über die Umstände, unter denen die Leichenveränderungen zustande gekommen sind. Einige Faktoren kann er am Leichenfundort selbst feststellen. Nicht selten ist er jedoch auf die Ergebnisse der kriminalistischen Ermittlungen angewiesen.

Von speziellen Fällen auf der Intensivstation abgesehen, ist die Feststellung der Todeszeit zumeist die Schätzung eines Zeitbereichs. Im Interesse der Ermittlungen sollte eher ein größeres Todeszeitintervall angenommen werden. Zudem ist in der Anfangsphase der Ermittlungen bei schriftlichen Äußerungen zum Todeszeitpunkt vorsichtige Zurückhaltung geboten. Einmal aktenkundig geworden, lässt sich eine Angabe nur mit großen Schwierigkeiten korrigieren. Deshalb empfehlen sich Zusätze wie „etwa“ oder „vermutlich“, die in dieser Phase keineswegs Ausdruck fachlicher Unsicherheit sind, sondern verantwortliches Handeln bedeuten.

Je länger das zum Tod führende Ereignis zurückliegt, desto weniger exakt wird die Aussage. Liegen die Angaben unmittelbar nach dem Todeseintritt noch im Stundenbereich, wird man bei fortgeschrittenen Leichenveränderungen den Zeitraum nicht weiter als auf Wochen oder Monate, bei Skelettfunden sogar Jahre oder Jahrzehnte eingrenzen können.

Die Eintragung des Leichenschauarztes zur Sterbezeit auf der Todesbescheinigung ist bei kriminalistisch relevanten Todesfällen mit größter Zurückhaltung zu bewerten. Erlangt die Sterbezeit für die Versionsbildung eine zentrale Bedeutung, darf die Angabe von der Todesbescheinigung keinesfalls ohne Weiteres übernommen werden. Vielmehr sollte der Rechtsmediziner seine Möglichkeiten zur Todeszeitschätzung ausschöpfen. Dessen Ergebnis wiederum muss unbedingt durch kriminalistische Ermittlungen abgesichert werden.

Unter Leichenliegezeit versteht man den Zeitraum zwischen dem Eintritt des Todes und dem Auffinden des Leichnams. Die Todeszeit ist nicht zwangsläufig gleichzusetzen mit der Tatzeit, denn Art, Schwere und Lokalisation der Gewalteinwirkung können eine gewisse Überlebenszeit zulassen. Nur dann sind Tatzeit und Todeszeit identisch, wenn die Überlebenszeit gleich Null ist, wie etwa bei vollständiger Abtrennung des Kopfes.

Zur Schätzung der Todeszeit eignen sich

supravitale Reaktionen,
frühe Leichenveränderungen,
späte Leichenveränderungen,
andere medizinische Befunde und
kriminalistische Ermittlungsergebnisse.

In der Phase des intermediären Lebens lassen sich supravitale Reaktionen auslösen. Diese Erscheinungen beruhen auf der unterschiedlich langen Überlebenszeit einzelner Gewebe und Zellen nach dem Individualtod. Praktisch bewährt haben sich die Prüfung der mechanischen und elektrischen Erregbarkeit der Skelettmuskulatur sowie der Pupillenreaktionen auf Pharmaka (Tabelle 1).

Tab. 1: Supravitale Erscheinungen (nach Dürwald, 1990)[1]

Zsakó-Muskelphänomen bis zu 2 h p. m.
Idiomuskulärer Wulst bis zu 6 h p. m.
Elektrische Erregbarkeit
a) galvanisch bis zu 4 h p. m.
b) faradisch bis zu 5–6 h p. m.
Pupillenreaktionen (Injektion)
a) Verengung bis zu 15 h p. m.
b) Erweiterung bis zu 15 h p. m.
c) Doppelreaktion bis zu 12 h p. m.

Das Zsakó-Muskelphänomen wird durch Beklopfen mit einem harten Gegenstand geprüft. Die mechanische Reizung führt bis zu 2 Stunden nach dem Tod (= post mortem = p. m.) zu einer fortgeleiteten Reaktion (Kontraktion) des gesamten Muskels. Das Anschlagen der Muskeln zwischen den Mittelhandknochen auf dem Handrücken löst eine Annäherung der Finger aus. An der vorderen Oberschenkelmuskulatur bewirkt das Anschlagen im unteren Drittel ein Hochziehen der Kniescheibe, und an der Muskulatur zwischen den Schulterblättern verursacht es eine Annäherung der Schulterblätter.

Bis zu 6 Stunden post mortem reagiert nicht mehr der gesamte Muskel auf eine mechanische Reizung, sondern ein Schlag löst nur noch eine lokale Reaktion in Form einer fingerstarken, sog. idiomuskulären Wulstbildung aus. Bevorzugt wird der Bizepsmuskel geprüft.

Die supravitale, elektrische Reizung der Skelettmuskulatur erfordert spezielle Geräte, von denen einige Modelle käuflich zu erwerben sind. Die Elektroden werden vorwiegend neben den äußeren Augenwinkeln oder neben den Mundwinkeln eingestochen. Die Reizung mit Gleichstrom (galvanisch) führt bis zu 4 Stunden post mortem und die mit gepulstem Gleichstrom (faradisch) bis zu 6 Stunden post mortem zu einem Zusammenziehen der Augenlider oder des Mundes.

Aufgrund des verhältnismäßig kurzen Zeitraums, in dem mechanische und elektrische Erregbarkeit der Muskulatur erhalten bleiben, hat der Rechtsmediziner nur selten Gelegenheit, diese supravitalen Reaktionen bei der Todeszeitschätzung zu berücksichtigen. Selbst wenn ein gerade Verstorbener aufgefunden und der Rechtsmediziner umgehend angefordert wird, können die Benachrichtigung, der nicht selten lange Anfahrtsweg und der Arbeitsablauf am Tatort seinen frühzeitigen Einsatz verzögern.

Über einen längeren Zeitraum als am Muskel sind die supravitalen Pupillenreaktionen nachweisbar. Dabei wird geprüft, ob durch Einspritzen von Pharmaka in das Auge eine Erweiterung oder eine Verengung der Pupillen bewirkt werden kann (bis zu 15 Stunden post mortem). Eine sog. Doppelreaktion, bei der zuerst ein erweiterndes, danach ein verengendes Mittel in das Auge injiziert wird, lässt sich bis zu 12 Stunden post mortem beobachten.

Weitere supravitale Erscheinungen, wie Reaktionen der Schweißdrüsen und der Haarbalgmuskeln auf chemische Mittel, haben sich in der Praxis nicht durchsetzen können.

Die Ausbildung der Totenflecke als frühe Leichenveränderung wird beeinflusst durch die Dauer der Agonie, die Todesursache und die Füllung des Blutgefäßsystems (Blutarmut, Blutverlust). Dementsprechend differieren die Angaben über die zeitliche Abfolge in der Fachliteratur recht deutlich. Dennoch sind gewisse Rückschlüsse für die Todeszeitschätzung ableitbar (Tabelle 2).

Die Totenstarre wird in mehreren Gelenken geprüft, beginnend an Kiefergelenken und Hals, danach an oberen und unteren Gliedmaßen. Sind die Gelenke frei beweglich, kann das bedeuten, dass die Totenstarre noch nicht ausgebildet oder bereits gelöst ist oder manuell gebrochen wurde. Berücksichtigt man die übrigen Leichenerscheinungen, dürfte eine Interpretation möglich sein. Trotz einer großen Schwankungsbreite der zeitlichen Abfolge von Eintreten und Dauer der Totenstarre sind die Angaben bei kritischer Wertung zur Todeszeitschätzung nutzbar (Tabelle 2).

Bei offensichtlich strafrechtsrelevanten Todesfällen empfiehlt es sich für den Leichenschauarzt, lediglich den Eintritt der Totenstarre festzustellen, ohne die Beweglichkeit der Gelenke mit grober Kraft zu prüfen. Alle weiteren Handgriffe sollte der Rechtsmediziner vornehmen.

Tab. 2: Schätzung der Todeszeit in der frühen Postmortalphase (nach Reinhardt und Mattern, 1999)[2]

Totenflecke
Beginn nach 20 – 30 Minuten
Konfluieren nach 2 – Stunden
Umlagerbarkeit 6 – 1 Stunden
Wegdrückbarkeit bis 36 Stunden
Erkalten
Abnahme der Rektaltemperatur um etwa 1°Cpro Stunde bei Zimmertemperaturen
Totenstarre
Beginn nach 2 – 4 Stunden
Vollständige Ausbildung nach 6 – 8 Stunden
(6 – 12 Stunden)
Wiederauftreten nach gewaltsamer Lösung bis 8 Stunden
Spontane Lösung nach 2 – 3 Tagen

Für die frühe Postmortalphase, also die ersten Stunden nach Eintritt des Todes, ist die Temperaturmessung zur Feststellung der Leichenabkühlung die wichtigste Methode der Todeszeitschätzung. Um aus dem Absinken der Körpertemperatur verwertbare Rückschlüsse auf die Todeszeit ziehen zu können, werden folgende Daten gebraucht:

Körpertemperatur,
Umgebungstemperatur,
Körpergewicht,
Auffindungsumstände.

Zur Feststellung der Körpertemperatur wird ein besonderes Thermometer benötigt, ein Fieberthermometer ist ungeeignet. Es lassen sich sowohl Glas- als auch elektronische Thermometer verwenden, die einen besonders langen Messansatz, eine Ablesegenauigkeit von 0,1 °C, einen Messbereich von 0 °C bis 45 °C aufweisen und geeicht sind. Das Thermometer ist mindestens 8–10 cm tief in den Mastdarm (Rektum) einzuführen und darf zum Ablesen nicht entfernt werden. Ein weiterer üblicher Messort ist der Bereich der Darmgekrösewurzel. Hierzu wird in der linken Unterbauchregion ein kleiner Schnitt angelegt und das Thermometer bzw. der Messfühler durch die Bauchdecke eingeführt. Da es sich um einen Eingriff in die Integrität des Körpers handelt, bleibt dieses Verfahren dem Arzt vorbehalten.

Auf die Abkühlung der Leiche hat die Umgebungstemperatur einen entscheidenden Einfluss. Um einen verlässlichen Messwert zu erhalten, muss die Temperatur so bald wie möglich in unmittelbarer Nähe des Körpers gemessen werden. Besonderheiten der Aufliegefläche müssen protokolliert werden (z. B. Fußbodenheizung, Isoliermatte, Betonfußboden). Eine rasche Temperaturfeststellung ist notwendig, um den Einfluss von Veränderungen am Leichenfundort auszuschließen. Auswirken können sich das Öffnen oder Schließen von Türen und Fenstern, das Betätigen der Heizung und nicht zuletzt die Anwesenheit mehrerer Personen. War die Umgebungstemperatur zwischen Todeseintritt und Zeitpunkt der Untersuchung nicht konstant, so ist von einem Mittelwert oder einem Umgebungstemperaturbereich auszugehen.

Das Körpergewicht darf nicht geschätzt, sondern muss exakt bestimmt werden. Im Regelfall erfolgt das Wiegen des unbekleideten Körpers vor der Leichenöffnung.

Schließlich müssen je nach Sachlage verschiedene Faktoren berücksichtigt werden, die Einfluss auf den Abkühlungsverlauf ausüben (z. B. Temperaturschwankungen während des Tages, Körperhaltung, Bekleidung und Bedeckung). Deshalb sind die Auffindungsumstände sorgfältig zu erfassen. Bei Leichenfunden im Freien können Informationen vom zuständigen Wetterdienst eingeholt werden.

Für die Todeszeitberechnung aus Mastdarm- und Umgebungstemperatur gibt es mathematische Formeln, Nomogramme und Computerprogramme. Davon hat sich für praktische Belange das Temperatur-Todeszeit-Bezugsnomogramm von Henßge durchgesetzt. Verwendet werden Nomogramme für Umgebungstemperaturen von 23,2 °C und darunter (Abbildung 4a) sowie für Umgebungstemperaturen von 23,3 °C und darüber (Abbildung 4b). Die Methode erlaubt bis etwa zur 30.–40. Stunde post mortem eine gute Abschätzung der Todeszeit.

Bei Verwendung des Nomogramms werden als Erstes die Rektaltemperatur der Leiche und die Umgebungstemperatur auf der entsprechenden Skala markiert und beide Punkte durch eine Gerade verbunden. Der Schnittpunkt dieser Geraden mit der Diagonalen des Nomogramms und der Mittelpunkt des Fadenkreuzes bilden die Bezugspunkte für eine zweite Gerade, die bis zum Kreisbogen des betreffenden Körpergewichts eingezeichnet werden muss. Am Schnittpunkt der zweiten Geraden mit der Körpergewichtskurve ist die Todeszeit in Stunden ablesbar. Auf dem äußersten Kreisbogen befindet sich der zugehörige 95 %-Toleranzbereich, der durch den Schnittpunkt der zweiten Geraden mit der äußersten Kurvenlinie angezeigt wird.

Als Standardbedingungen gelten:

nackte Leiche, trocken,
gestreckte Rückenlage,
thermisch neutrale Auflagefläche,
ruhende Luft,
Umgebung ohne starke Wärmequellen.

Nichtstandard bedeutet abweichende Abkühlungsbedingungen. Für die Berechnung gibt es zur Berücksichtigung der Abweichungen von den Standardbedingungen der Leichenabkühlung verschiedene Korrekturfaktoren, mit denen das Körpergewicht multipliziert wird.

Abb. 4a:

Temperatur-Todeszeit-Bezugsnomogramm für Umgebungstemperaturen ≤ 23,2 °C nach Henßge [3]


[Bild vergrößern]

Abb. 4b:

Temperatur-Todeszeit-Bezugsnomogramm für Umgebungstemperaturen ≥ 23,3 °C nach Henßge [3]


[Bild vergrößern]

Die Schätzung der Todeszeit mit Hilfe des Nomogramms setzt spezielle Kenntnisse und praktische Erfahrungen voraus und bleibt deshalb dem Rechtsmediziner vorbehalten. Die Schwierigkeit bei der Anwendung des Nomogramms besteht nicht im Ablesen der Todeszeit, sondern vielmehr darin, die der Berechnung zugrunde gelegten Abkühlungsbedingungen qualifiziert einzuschätzen. Dazu werden Korrekturfaktoren angegeben, die zwischen 0,3 (nackte Leiche in fließendem Gewässer) und 3,0 (bekleidete Leiche unter dickem Bettzeug liegend) differieren. Weitere Schwierigkeiten treten auf, wenn die Körpertemperatur bei Todeseintritt von 37 °C abweicht, wie es bei fieberhaften Erkrankungen oder bei Unterkühlung vorkommt. Gleichfalls müssen Schwankungen der Umgebungstemperatur beachtet werden, beispielsweise dann, wenn die Leiche im Sommer im Freien liegt und der Körper nach Abkühlung in der Nacht am Tage durch Sonneneinstrahlung wieder erwärmt wird.

Um im Einzelfall die Ergebnisse der Todeszeitschätzung zu verbessern, empfiehlt sich die sog. Komplexmethode. Dabei dient das Nomogrammverfahren als Leitmethode. Weiterhin werden die Ausprägung der Totenflecke, der Totenstarre sowie der mechanischen und elektrischen Erregbarkeit der Skelettmuskulatur einbezogen. Die Pupillenreaktion auf das Einspritzen von Pharmaka sollte nicht mehr geprüft werden, da neuere Untersuchungen gezeigt haben, dass es auch zu spontanen Veränderungen der Pupillenweite kommen kann.

Als Verschleierungshandlung versuchen Täter gelegentlich die Schätzung der Todeszeit fehlzuleiten, indem sie Leichen vorübergehend in die Tiefkühltruhe oder in die Sauna verbringen. Daraus resultiert entweder eine Veränderung der Bezugsgröße Körpertemperatur oder eine Verzögerung bzw. Beschleunigung der Leichenveränderungen.

Unter der Voraussetzung, dass keine extremen Umgebungsbedingungen bestehen, erlauben folgende Feststellungen an der Leiche eine orientierende Schätzung der Todeszeit:

Körper fühlt sich warm an und ist schlaff = Todeseintritt vor weniger als 3 Stunden.
Körper fühlt sich warm an und ist steif = Todeseintritt vor 3 bis 8 Stunden.
Körper fühlt sich kalt an und ist steif = Todeseintritt vor 8 bis 36 Stunden.
Körper fühlt sich kalt an und ist schlaff = Todeseintritt vor mehr als 36 Stunden.

Die Schätzung der Todeszeit aufgrund später Leichenveränderungen ist wegen der nahezu regellos verlaufenden Abbauprozesse selbst für den erfahrenen Rechtsmediziner außerordentlich problematisch (Tabelle 3).

Deshalb sollte der Leichenschauarzt im Zweifelsfall auf eine Angabe zur Leichenliegezeit gänzlich verzichten und dem etwaigen Drängen des Ermittlungsbeamten auf eine Zeitangabe widerstehen.

Der Einfluss der Umgebungstemperatur auf den Fortgang von Fäulnis und Verwesung ist kaum zu überschätzen. So darf es nicht erstaunen, wenn Leichen in warmen Räumen bereits nach 24 Stunden stark in Fäulnis übergegangen sind. Die Leichenveränderungen können in so kurzer Zeit ein Ausmaß annehmen, das unter anderen Umgebungsbedingungen erst nach Wochen entsteht.

Ebenfalls stark temperaturabhängig sind die Vertrocknungsvorgänge an der Leiche. Während Teilmumifizierungen bevorzugt an Nasenspitze, Ohrmuscheln, Finger- und Zehenkuppen schon nach einigen Tagen erkennbar werden können, dauert eine vollständige Mumifikation Wochen bis Jahre.

Tab. 3: Beziehungen zwischen Fäulnis und Leichenliegezeit (nach Schulz und Hein, 1989)[3]

Bedingungen: Lagerung der Leiche bei einer Raumtemperatur von 18–20 °C, geringe Luftbewegung, keine Infektionskrankheit, keine Antibiotikabehandlung, mittlerer Ernährungszustand, Hausbekleidung.
Nach 2 Tagen: Grau-grünliche Verfärbung der Haut im rechten Unterbauch, anschließend bei Rückenlage der Leiche im linken Unterbauch.
Nach 5 bis 7 Tagen: Flächenhafte Grünfärbung der Haut von Mittel- und Unterbauch. „Durchschlagen“ der Venen, insbesondere an den Schultern vorn, an der Brust und an den Oberschenkeln.
Nach 8 bis 14 Tagen: Bildung flüssigkeitsgefüllter, z. T. auch großflächiger Hautblasen. Auftreibung des Rumpfes. Austritt von rötlicher Flüssigkeit aus Mund und Nase. Auftreibung des Hodensackes.
In der 3. und 4. Woche: Flächenhafte Ablösung der Haut. Haare leicht ausziehbar. Gesicht mit wulstförmigen Auftreibungen der Lider und Lippen. Geschwollene Zunge liegt zwischen den Zahnreihen bzw. ragt aus dem Mund hervor.

Noch seltener wird für den Leichenschauarzt die Situation eintreten, sich aufgrund einer Fettwachsbildung zur Liegezeit äußern zu müssen. Bei der zeitlichen Beurteilung ist das Ausmaß der Umwandlung von körpereigenem Fettgewebe zu berücksichtigen. Das lässt sich nur bei einer Leichenöffnung feststellen. Deshalb sollte der Leichenschauarzt von vornherein die Hinzuziehung eines Rechtsmediziners empfehlen. Lässt sich Fettwachs in geringer Ausbildung nachweisen, so deutet das auf eine Liegezeit von 3 bis 6 Wochen hin. Bei größerer Ausdehnung sind es etwa 8 bis 10 Wochen. Die Umwandlung ganzer Extremitäten läuft in einem Zeitraum von 3 bis 6 Monaten ab. Eine vollständige Fettwachsleiche entsteht frühestens nach 1 Jahr.

Eine exakte Datierung der Liegezeit bei kriminalistisch relevanten Skelettfunden ist nicht möglich. Mit dem Verschwinden der Weichteile im Erdgrab kann frühestens nach etwa 3 bis 4 Jahren gerechnet werden. Nach mehr als 10 Jahren wird der anfänglich fettige und schwere Knochen zunehmend trockener, leichter und morsch.

In der warmen Jahreszeit sind die Ablage von Fliegeneiern auf der Leiche, Madenbefall, Puppen und Puppenhüllen keineswegs selten zu beobachten. Der Entwicklungszyklus der Leicheninsekten und die vorgefundene Artenzusammensetzung lassen ungefähre Rückschlüsse auf die Leichenliegezeit zu. Die Beurteilung erfordert Sachkunde und sollte einem forensisch erfahrenen Entomologen überlassen werden.

Da Pollen und Sporen resistent gegenüber Fäulnis- und Verwesungsprozessen sind, eignen sich diese biologischen Spuren für eine Liegezeitschätzung. Um festzustellen, zu welcher Jahreszeit eine verstorbene Person zuletzt geatmet hat, kann die Spülflüssigkeit aus dem Nasen-Rachen-Raum untersucht werden.

Seit Langem werden verschiedene, insbesondere biochemische Vorgänge, die in Organen und Körperflüssigkeiten nach dem Tod ablaufen, auf ihre Brauchbarkeit für die Todeszeitschätzung untersucht. Dazu liegt eine umfangreiche Spezialliteratur vor. Keines der zahlreichen Verfahren hat sich bisher als praktikabel erwiesen.

Bei der Leichenöffnung können aus dem Verdauungszustand des Mageninhalts und aus der Magen-Darm-Passage gewisse Anhaltspunkte für die Todeszeit abgeleitet werden. Allerdings ist unbedingt zu berücksichtigen, dass Art und Zusammensetzung der Nahrung sowie physische und psychische Einflüsse die Verdauung beschleunigen oder zum Stillstand bringen können.

Neben medizinischen Befunden lassen sich auch kriminalistische Ermittlungsergebnisse heranziehen. Am Leichenfundort können auf die Todeszeit hinweisen: Licht in der Wohnung, zugezogene Vorhänge, benutztes Bett, Zustand von Speiseresten, Kalenderblatt, aufgeschlagene Fernsehprogrammzeitschrift, letztmalige Nutzung elektronischer Medien sowie Zeitungen und Post im Briefkasten. Darüber hinaus liefern Zeugenaussagen (wann zuletzt lebend gesehen, Lebensgewohnheiten) mitunter wichtige Anhaltspunkte für die Todeszeitschätzung.

Rechtsmedizin

Подняться наверх