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Kapitel 8
ОглавлениеIch beschloss, den Mittag zu nutzen, um in die Stadt zu fahren. Ein paar neue T-Shirts oder Schuhe hatte ich seit Monaten nicht mehr gekauft. Ich ging zum Transporter, der mich ins Zentrum bringen sollte. Ich stand am Trailer des Transporters und wartete gemütlich auf den nächsten, der Richtung Zentrum fuhr. Um mich herum waren hauptsächlich ältere Personen. Ich stand ganz in der Nähe zweier Damen, die ihre besten Jahre schon hinter sich hatten, und lauschte ihrem Dialog. Eigentlich waren mir die Probleme und Erfahrungen anderer scheißegal, aber heute war es ein bisschen anders. Ich wollte auf Gedeih und Verderb Informationen erhalten. Im Vorbeigehen hatte ich gehört, dass sich diese Frauen über den Vorfall in der Oldman Facility unterhielten und lauschte. „Anscheinend gab es auch noch weitere Fälle in Europa. In Polen hat ein älterer Herr seine Frau getötet. Ein einfacher Bauer, seit Jahrzehnten mit ihr verheiratet. Den Berichten zufolge hat er sie mit seiner Arbeitsmaschine überfahren, als sie aus dem Haus kam. Es war eine Mähmaschine für die Getreidefelder. Seine Frau wurde durch das rotierende Messer in Stücke gerissen. So etwas ist kein Zufall, Elisabeth, nein, nein! Das ist die Strafe, die wir Menschen bekommen, für unser rücksichtloses Verhalten seit über hundert Jahren. Jetzt müssen wir dafür bezahlen, Elisabeth.“
Ich traute meinen Ohren nicht, ein weiterer Fall. Langsam begann ich daran zu zweifeln, dass alles nur ein Zufall war. Der Transporter fuhr gerade ein und ich rannte in Richtung MediaCenter, sodass ich Elisabeths Antwort nicht mehr hörte. Im MediaCenter des Zuges hatte man mittels großer Projektionsflächen gute Möglichkeiten, sich in Ruhe etwas anzuschauen. Meine Wahl fiel auf die virtuelle Karte von I-Maps, dem größten interaktiven Kartensystem der Welt. Die Karte war ein innovatives System, das dem Nutzer ermöglichte, Anfragen und Abfragen zu erstellen und diese auf einem Kartenausschnitt darzustellen. Das Tool kannte ich von Meyers. Er benutzte es gerne, um sich in Hamlin den Stadtteil mit der höchsten Dichte an Singlefrauen zwischen Zwanzig und Dreißig anzeigen zu lassen, oder wo am meisten Hypermarts waren. Ich konfigurierte mir den Weltkartenausschnitt Europa. „Systembefehl: Zeige alle Morde in Europa von Personen über 75 Jahre.“ Das System arbeitete. „Herr Corner, fünf Matches gefunden, anzeigen?“ „Zeige alle Vorkommnisse an, Darstellung Real 3D und GPS-genau. Bitte diese Suchanfrage in den Messenger für Corner 29-17-17-3 übernehmen.“ Das System baute die Karte auf. Zu sehen waren fünf Fälle verteilt auf Europa. Es gab Punkte in Frankreich, einen in Polen, einen in der Türkei, Schweden und Deutschland. Gut gemacht, Corner, dachte ich mir. Ich fand es einen genialen Schachzug, den ich vollzogen hatte. „Bitte den Zeitverlauf der Meldungen aufzeigen.“ Vielleicht gab es einen zeitlichen Zusammenhang zwischen den Vorkommnissen. Fehlanzeige, die Meldungen waren zeitlich unabhängig voneinander und lagen teils fast eine Woche auseinander. „Bitte Informationen zu den Suchanfragen anzeigen.“ Ich wusste bereits von den Fällen in Frankreich, dem aktuellen bei uns in Deutschland und dem mir durch die älteren Damen bekannte in Polen. Der Fall in der Türkei wurde als Familientragödie angezeigt. Ein älterer Herr war bei einer traditionellen Hochzeit in einem kleinen Bergdorf im Norden der Türkei in die feiernde Menge gestürmt und hatte mit einem alten Dolch zwei Menschen getötet. Er konnte von den Familienangehörigen gestoppt werden. Die Tat wühlte aber solche Emotionen hoch, dass Familienmitglieder den Mann aus Rache erwürgten, bis die Polizei eintraf. Der Fall in Schweden war unklar. Dort hatte sich ein 85-jähriger Mann von einer Klippe in einen Fjord gestürzt und war gestorben. Der Todeszeitpunkt war ungenau, da man den Toten erst spät gefunden hatte. Es handelte sich um einen alleinstehenden alten Herren, der abseits der Stadt für sich alleine wohnte. Er war vor seiner Pension ein Biologielehrer an einem schwedischen Gymnasium gewesen.
Ich dehnte meine Suche mit den gleichen Suchkriterien auf die Weltkarte aus, hatte aber keinen Erfolg. Mit dem Suchkriterium Selbstmord war die Karte überlagert von Punkten, man konnte denken, dass halb Amerika im Alter Selbstmord beging. Auch Russland und Afrika waren übersäht mit Punkten. Ohne das Suchkriterium „Selbstmord“ verringerten sich die Punkte, waren aber immer noch insgesamt zu viele für mich. Ich hatte keine Zeit, um alle Punkte zu untersuchen. Jeromias Johnson, East Coast, USA, Tod durch einen Schlag auf den Hinterkopf, 22 Uhr. Erener Carl Fredrick, Tod durch einen Schuss ins Genick, New York, USA, 7 Uhr. Igor Antscheniov, starb durch einen Kurzschluss in einem SmallCab in Moskau. Die Liste war endlos - endlos grausam. Wenn man darüber nachdachte, wie viele Menschen täglich oder stündlich starben, konnte einem wirklich angst und bange werden.
„Übernehme die Suchanfrage in Messenger, stündliches Update aller Morde von Personen über 75 Jahre in Deutschland“, ich verfeinerte meine Suche, um sie überschaubar zu halten. Somit hatte ich die Möglichkeit, falls es Zusammenhänge gab, diese zu geographisch und zeitlich zu erfassen. Ab dieser Minute konnte ich auf der Deutschlandkarte anhand von Pins sehen, was passierte. Diese Maßnahme beruhigte mich, ich hatte, zumindest glaubte ich das, in diesem Moment, wieder die Kontrolle über das Geschehen. Irgendwie hatte ich aber ein komisches Gefühl. Ich fühlte mich wie ein Schwein auf dem Weg zum Schlachthof. Nicht wissend, was auf mich zukam, nur ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Spürt ein Mensch eine drohende Katastrophe? Bei Schweinen wurde dies in vielen Studien nachgewiesen, bei Menschen nur bedingt. Vielleicht lag das an den verkümmerten Instinkten des Menschen, schließlich war das Leben so angenehm geworden, dass man sich auf alles verlassen konnte. Der Transporter verlangsamte sein Tempo, wir fuhren in die Central Station in Hamlin ein. Hier war viel los, Menschen wimmelten wie ein aufgewühlter Fischschwarm durch die Halle. Die Halle war ein riesiger Komplex aus Glas und sah aus wie eine Käseglocke. Das Glas verdunkelte die einfallende Sonne automatisch und funktionierte wie eine adaptive Brille, nur hatte das Glas eine spezielle Eigenschaft: Es konnte das Licht speichern und bei Bedarf an Regentagen wie heute resorbieren. Dadurch leuchtete die Kuppel und man hatte das Gefühl, als wäre es ein schöner, heller Sommertag. Ich lief Richtung Zentrum. Eigentlich war diese Bezeichnung irreführend, denn Hamlin hatte kein Zentrum. Es bestand aus mehreren Zentren, die Fläche dieser Stadt war einfach zu groß für ein einzelnes Zentrum. Warum es aber von den meisten Menschen als Zentrum angesehen wurde, erschloss sich einem, wenn man die Station nach Osten verließ. Man lief direkt auf eine etwa hundertfünfzig Meter hohe Statue zu. Es war eine Frau, die mit ihren Händen ein Stück Erde hochhielt. An ihrem Fuß stand der Schriftzug “Beloved fatherland, God save the Queen for all times. In memento for all fallen citizens“ geschrieben. Das Stück Erde, das sie gen Himmel streckte, symbolisierte eine Insel, genannt Großbritannien. Fast hundert Jahre zuvor bahnte sich in Europa eine Katastrophe an, die niemand vorausahnen konnte. Vielleicht ein paar Schweine, ansonsten wiegten sich die die Europäer in Sicherheit. Es war nach den zwei Weltkriegen die größte Katastrophe Europas in den letzten fünfhundert Jahren und sollte Europa an den Rande der modernen Zivilisation stellen. Im August 2078 gab es in der Nähe von Plymouth, im Südwesten von England, einen kleinen Allergieausbruch. Menschen bekamen asthmaähnliche Anfälle, wie man sie aus dem Anfang des 21. Jahrhunderts kannte. Das Besondere daran war nur, dass das Asthma nicht mit den vorhandenen Medikamenten behandelt werden konnte. Tag für Tag erkrankten mehr Menschen um Plymouth an dieser seltsamen Form der Allergie. Die Behörden versicherten, dass sie alles unter Kontrolle hatten – in Wirklichkeit aber hatten sie einen Scheißdreck! Der infizierte Ring um die Region wurde täglich größer. Menschen flüchteten aus Plymouth und dem Umkreis nach Norden, da es keine Möglichkeit gab, die Symptome zu behandeln. Die meisten flüchteten nach London. Es verstrichen zwei weitere Monate, in denen die Ursache nicht geklärt werden konnte. Dann kam der Winter und die Symptome verschwanden. Das Medieninteresse ging zurück und die Regierung bereitete die Rückkehr der Flüchtlinge vor. Diese lief perfekt organisiert bis zum 27. März 2079 voran, als plötzlich an einem Tag hunderte Menschen zusammenbrachen und starben. Jeden Tag starben in ganz Großbritannien Menschen, die im Vorjahr in dieser Region gewesen waren und die Symptome zeigten. In London starben Menschen auf der Straße, in der U-Bahn, in den Restaurants, Zuhause, einfach überall. Großbritannien stürzte in diesen Tagen ins Chaos, Bilder von toten Menschen im ganzen Land gingen um die Welt. Aber es kam noch schlimmer. Das Sterben hielt bis Mitte Mai an, als im ganzen Land erneut Menschen diese Symptome des sogenannten Plymouth-Syndroms zeigten. Allergische Reaktionen. Es begann eine Massenflucht. Konvois mit Millionen von Menschen setzten sich Richtung den Niederlanden, Schweden, Dänemark und Deutschland in Bewegung. In diesem Sommer begann der größte Flüchtlingsstrom in der Geschichte Europas. Ein ganzes Land wurde binnen zwei Jahren unbewohnbar. Millionen Menschen starben in den kommenden Jahren, viele von ihnen noch im Exil. Es dauerte fünf Jahre, bis man den Auslöser fand. Eine genveränderte Nutzpflanze war dafür verantwortlich. Ursprünglich war sie gezüchtet worden, um den Anbau medizinischer Nutzpflanzen in regenreichen Regionen zu ermöglichen. Da die Importvorschriften für medizinische Pflanzen streng reglementiert waren, versuchten viele Länder, sie selbst anzupassen und anzubauen. Labore arbeiteten an dem genetischen Code und passten ihn individuell an die Zielregion an. In einem Fall gab es in der Blüte der Pflanze eine ungewollte und nichtentdeckte Mutation. Durch die Mutation produzierte die Pflanze in ihren Blüten Antigene, die diese allergische Reaktion auslösten. Das Grausame daran war, dass sich die Antigene im Muskelgewebe des Herzens anlagerten und nach spätestens zwei Jahren zum plötzlichen Herztod führten. Es gab kein Gegenmittel. Eine Eindämmung der superresistenten Pflanze war unmöglich. Sie verbreitete sich in so kurzer Zeit über das gesamte Land, dass viele Wissenschaftler einen modernen Angriff auf das Land dahinter sahen.
Seit diesen Tagen ist Großbritannien als Sperrgebiet deklariert und steht unter militärischer Kontrolle. Wie viele Menschen überlebten oder noch dort leben, ist ungewiss. Laut Schätzungen gehen die führenden Beobachter von wenigen tausend Menschen aus. Die Folgen für Deutschland waren damals gravierend. Eine Flut von Briten überrollte das Land. Im Norden mehr als im Süden. Nahrungsmittel, Energie, Wohnfläche, alles wurde in diesen Tagen knapp. Es kam zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen in manchen Regionen, niemand war auf einen solchen Menschenstrom vorbereitet. Alle lebten in Angst und Schrecken, keiner wusste, was mit Europa geschehen sollte. Europa und die anderen Kontinente blieben von der Pflanze und ihren Folgen verschont, eine radikale Abschirmung der Insel durch einen internationalen, militärischen Sperrring sicherte den Rest der Welt. Monatelange Diskussionen über eine gezielte nukleare Zerstörung der Insel folgten, die bis heute andauern und nicht entschieden sind.
Die Vereinigten Staaten von Amerika drängten darauf, die Insel atomar zu säubern, da das Restrisiko nach wie vor unkalkulierbar war. Der amtierende Präsident der USA, Carlos Juanes, sprach zu diesem Thema vor einiger Zeit im Weltentwicklungsrat in Mexico City, der aktuellen Hauptstadt Amerikas über das Thema. Er erntete viel Zuspruch, auch von den föderalen chinesischen Ländern, die der europäischen Staatengemeinschaft in diesen Tagen skeptisch gegenüber standen. Im Weltwirtschaftsrat hatte ein europäischer Vorstoß dazu geführt, dass einige chinesische Länder dazu verpflichtet wurden, ihr afrikanisches Engagement zu beenden. Dies missfiel einigen lokalen Politikern und ermunterte sie, sich dem amerikanischen Vorstoß anzuschließen. Da sich die Schwergewichte Indien und die osteuropäischen Staaten im Weltentwicklungsrat aufgrund der engen wirtschaftlichen Beziehungen zu Europa enthielten, blieb die atomare Säuberung Großbritanniens über Jahrzehnte hinweg ein politisches Dauerstreitthema. In Deutschland hingegen entstand in den Jahren nach der Massenflucht eine der größten Metropolregionen Europas, Hamburg-Berlin, für uns heute kurz Hamlin. Beide Städte näherten sich aneinander an und bildeten auf der Karte ein schlauchähnliches Gebilde. Es war die größte Metropole in Europa und aktuell die Hauptstadt der europäischen Gemeinschaft.
Die Statue symbolisierte den Untergang und gleichzeitigen Neuanfang von uns Briten. Meine Vorfahren waren damals unter diesen Flüchtlingen gewesen und waren im Jahre 2080 nach Hamburg gekommen. Diese Generation hatte Europa verändert, insbesondere aber Deutschland. Ab diesem Zeitpunkt war die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe englischsprachig. Eine Kulturrevolution begann, die bis heute die Sprachkultur prägte und veränderte. Diese Statue war die deutsche Antwort auf die Freiheitsstatue in New York und heutzutage einer der Sehenswürdigkeiten für Touristen in Hamlin.
Aus genau diesen Gründen entwickelte der Europäische Zentralrat einen Notfallplan für die zugehörigen Staaten. Im Falle eines Ausnahmezustands gab es nun Notprogramme, um die Bevölkerung zu schützen. Ebenso entwickelten Wissenschaftler ein Weak-Signal-System, das schwächste Signale erkennen sollte, um drohende Katastrophen besser vorhersagen zu können. Seit der britischen Katastrophe gab es aber keine größeren Katastrophen mehr in Europa. Vor zehn Jahren war an den Küsten eine Sturmflut stärker als erwartet, so dass die Küstenregionen evakuiert wurden. Menschen kamen dabei aber nicht um. Das System reagierte vor allem, so wurde es beworben, sehr sensitiv auf Umweltveränderungen. Kein Wunder, dass, nachdem halb England starb, die Entwickler den Fokus darauf legten.
Ich lief an Miss Sickness vorbei, wie wir diese Statue als Jugendliche immer genannt hatten. Von hier aus begann eine der Shoppingzonen der Stadt. Hier war das Paradies für Frauen, und heute auch für mich. Ich wollte unbedingt neue Turnschuhe kaufen. Meine Sneakers sahen mittlerweile aus, als wären sie von meinen Vorfahren auf der Flucht aus England getragen worden. Ich steuerte auf den Sneak-Store zu. Mit Tüten behangene Frauen strömten in den Laden hinein und heraus. Von weitem sah es aus wie ein großes Bienennest, in dem ständig die fleißigen Bienchen mit dem Blütenstaub für ihren Honig ein- und ausflogen. Je näher ich an den Store kam, desto genauer sah ich, dass die Bienchen hier wirklich süß waren. Ich war überrascht, wie viele um diese Uhrzeit hier umherschwirrten, so alleine. Mein Messenger piepste: „Aktualisierte Daten aus Ihrer Abfrage verfügbar.“ Ich nahm den Messenger und ließ die Karte anzeigen. Zwei weitere Pins waren aufgetaucht. Einer im Nordosten Deutschlands, einer in der Mitte. Es gab keine genauen Daten zu den Pins, verblüffend war es aber allemal. Ich ging einen Schritt vom Haupteingang zur Seite und stellte mich an eine der Glasfronten des Stores. Hier war es wind- und regengeschützt. Ich programmierte meine Suche neu. „Zeige die Mordrate für Deutschland, Stand Monat null eins zu aktuellem Monat, Altersgruppe größer fünfundsiebzig, Geschlecht egal.“ Der Messenger übertrug die Daten an I-Maps, was manchmal zeitintensiv war. Ich wollte den Messenger gerade wieder in meine Hosentasche stecken, als ein „Ping!“ das Ergebnis signalisierte und meine Erwartung bestätigte. Die Mordrate stieg seit diesem Monat signifikant an. Im ganzen Jahr gab es zehn Mordfälle in dieser Altersgruppe, einschließlich Selbstmorddelikte. Seit Beginn des Monats gab es bereits über zehn Morde in zwanzig Tagen! Ich bemerkte, wie sich meine Haare an den Unterarmen aufrichteten. War ich eines der Schweine, dem hier etwas auffiel und das eine Katastrophe witterte? Standen wir vor einer nahenden Katastrophe, wie einst in Plymouth? Als Jugendlicher hatte ich oftmals von diesem Szenario geträumt. Ich hatte es mir aufregend vorgestellt und mich gefragt, wie es wohl sein würde, wenn die Zivilisation zu Grunde ginge. Ging nun mein Wunsch in Erfüllung oder bekam ich wie Corinna mittlerweile schon hysterische Anfälle? Vielleicht wurde meine Hysterie durch die Medikamente ausgelöst, die ich bekam? Meine Gedanken wurden wirr. „James Corner, bleib sachlich!“, ich redete mit mir, als wäre ich schizophren. Einige Passanten blickten zu mir, ich hatte also recht laut zu mir gesprochen. Der Store sollte mich ablenken, fast rennend lief ich hinein. Weißes, grelles Licht strahlte von der Decke und wurde durch den Fußboden reflektiert. Ein weißer Steinboden, vermutlich aus poliertem Granitstein, schuf ein modernes Ambiente für hochwertige Schuhe. Auf Säulen aus edlem, weißen Holz wurden die neusten Hologramme der Sneak Rich Series präsentiert. Die Hologramme wurden direkt über den Säulen projiziert. An der Stirnseite des Stores waren zweidimensionale Projektionen aller Modelle zu sehen. Ich lief hinüber, um mir das Modell zu suchen, das ich seit Monaten wollte. Mein Messenger erkannte das Ni-Mess-Communication-Interface und lud meine Daten in das Display des Shops, sodass der Schuh angezeigt wurde. „James Corner, Herzlich willkommen!“, eine virtuelle Sneaklady erschien, um mir den Schuh zu zeigen. Ich konnte mein Bild wählen, ich nahm ein älteres von mir, das im Centralham Park vor ungefähr drei Jahren aufgenommen worden war. Das System berechnete die Schuhe in dieses Bild. Sie waren einfach der Hammer und heute wollte ich sie. „Bitte einmal Sneak Streamwalkers, Lieferung an die Adresse von Corner James Messenger 29-17-17-3“, orderte ich. „Ihre Ansage wurde erkannt, vielen Dank für Ihren Einkauf bei Sneak.“ Nun waren die Schuhe in meinem Besitz. Weiße, glänzende Sneakers, was für ein Tag. Normalerweise war ich für Werbung eher nicht empfänglich, ich kannte schließlich die Methoden. Nur Sneak schaffte es, meine Synapsen zu stimulieren. Ich wollte stets einen dieser scheiß Schuhe haben. Das Marketing funktionierte bei mir perfekt, ich konnte mich nicht dagegen wehren. Nun hatte ich diese Glücksgefühle, die ich den Menschen normalerweise suggerierte, wenn sie ein Produkt meiner Kunden kauften. Ich fühlte mich großartig. Der Schuh trug also dazu bei, meine Depressionen zu heilen. Das hatten teure Medikamente in den letzten Jahren nicht geschafft. Sneak statt die x-te Generation von Zacpro, das bald seinen zweihundertsten Geburtstag feierte. Ich verließ gerade das Bienennest, als mein Messenger klingelte. Es war Carla. „Hi Carla, alles klar bei dir? Ist heute Samstag, habe ich etwas verpasst?“ „James hi, ich wollte deine Stimme hören“, sie lachte „nein, im Ernst, ich wollte dich fragen, ob ich heute Abend bei dir daheim vorbeikommen kann. Ich habe meine SmallCabCard bei dir vergessen.“ Ich lachte, „Ja klar, kannst du, aber eine unauffälligere Methode, um an ein Date mit mir zu kommen, ist dir nicht eingefallen?“ Es herrschte kurze Stille in der Leitung. „James, ich meine es ernst, ich brauche diese Karte und, gut ich gebe dir recht, dich zu sehen macht mir wirklich nichts aus, auch wenn es heute noch nicht Samstag ist! Kann ich gegen neun bei dir vorbeikommen?“ Ich bejahte und freute mich darüber, ohne es ihr zu zeigen. Schließlich wollte ich absolut cool und professionell wirken. Ich hatte die einsamen Abende eh satt. Abend für Abend hing ich zuhause und konsumierte Filme. Einen beschissenen Film nach dem anderen. An manchen Tagen zog ich mir zur Abwechslung Pillen rein, um gleich nach der Arbeit einzuschlafen. Dies waren dann die signifikanten Tiefpunkte meiner Stimmungsleiter. An diesen Tagen bekam ich aufdringliche Warnmeldungen über das installierte Gesundheitssystem, mein Zacpro zu nehmen, andernfalls wäre eine Kontrollpatrouille aus dem Health Care Center vorbeigekommen und hätte mich mitgenommen. Freie Entscheidungen im Gesundheitswesen waren seit diesem Jahrhundert undenkbar. Ich lief noch durch die Passagen und besuchte eine kleine Coffeebar am Rande der Shopping-Zone. Gestärkt durch einen coffeeflavoured Milkdrink verließ ich die City gegen sieben, um nach Hause zu fahren. Der Sonnenuntergang begann, man konnte ihn anhand der abnehmenden Helligkeit hinter den dicken, dunklen Wolken erahnen. Was für ein Frühjahr! Ich musste mich beeilen. Bevor Carla kam, wollte ich mir unbedingt noch einen wichsen. Ich ging zwar nicht davon aus, dass wir heute miteinander vögeln würden, aber mit fast Mitte dreißig bereitete man sich auf alle Eventualitäten vor, zumindest in meiner Professionalitätsstufe.