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Kapitel 2
ОглавлениеIch stand am Ende der Traube. Vor mir lauter Gesichter, die sich eng aneinander gepresst Richtung Türen schoben, teils gestresst, teils relaxt. Ich bemerkte einen jungen Mann kurz vor mir, der zwischen zwei dicken Frauen eingeklemmt zur Tür geschoben wurde. Sein Gesichtsausdruck war verkrampft, fast ängstlich zwischen diesen zwei Türmen von Frauen. Ich musste bei dem Anblick dieses Sandwiches das erste Mal an diesem Morgen lachen.
Ich kam als einer der letzten in den Transporter, der sich kurz darauf in Bewegung setzte. Ich war durch meine Nachlässigkeit beim Einsteigen im Perfume-3, dem Parfümwagen, gelandet. Ein mosig-herber Duft lag im Abteil, nicht gerade dezent. Er wirkte auf mich erdrückend, fast schon bedrohend. Dazu klassische Musik und ein sich dauernd wiederholender Werbetrailer: „…das neue Perfume-Power 35 verzaubert Ihre Umgebung in ein Powerspielfeld und macht Sie zu einem ganz besonderen Spieler darauf…“ Der Spruch war so dämlich und oberflächlich, dass er durchaus von einem Putzroboter erfunden worden sein könnte. Vorausgesetzt, dieser hätte schon so viel Staub auf seiner Hauptplatine, dass es zu Fehlschaltungen kam. Dämlicher war eigentlich nur die Werbeära Anfang des Jahrhunderts gewesen. An der Universität wurde dies am Rande in Mediengeschichte erwähnt. Es galt als das übelste Jahrzehnt der Menschheit, was die Werbewirtschaft betrifft. Quasi das kriegerische, experimentelle Jahrzehnt der Werbung. Gut gegen Böse wurde dort auf den Fernsehbildschirmen der Menschheit ausgetragen. Damals stand die Verdummung des Konsumenten im Mittelpunkt. Die Botschaften sollten sich durch regelmäßige Abfolgen stupide wiederholen. Der gleiche Scheiß sollte wieder und wieder das Hirn erweichen, ähnlich wie bei einer Folter. Am Schluss kaufte man das Produkt wohl schon aus Mitleid. Ding! Ein Klingeln hallte in meinem Kopfhörer. „Hallo James, möchtest du auch unwiderstehlich werden? Dein jetziges Parfüm verrät mir, dass der hohe Anteil an Citrus beim weiblichen Geschlecht nur zu 20% auf Wohlgefallen trifft. Mit Perfume-Power 35 kannst du diesen Anteil auf über 80% steigern. Willst du das? Soll ich dir eine Packung an die 150-4-3 liefern lassen?“ Die freundliche Stimme in meinem Ohr versuchte nun, mir diesen Scheiß zu verkaufen. Werbung war heutzutage zwar subtiler und diffiziler geworden, wirkte aber leider immer noch nicht bei 100% der Humanoiden. Die Richtung der Personalisierung war erschreckend, ich bekam immer wieder Gänsehaut, wie bei einem Horrorfilm. Die kleinen Härchen richteten sich auf, als wollten sie gegen diese Botschaften kämpfen, die da auf mich einwirkten. Mein Körper wollte sich gegen diese Werbung zur Wehr setzen. Ein gutes Zeichen, dachte ich.
Noch fünf Minuten, dann erreichten wir die Zentralstation, mein Ziel. Dann hatte dieser Werbehorror ein Ende. Und ich hatte meine Lektion der Abteilwahl auch gelernt. Aus dem Fenster konnte ich den Himmel sehen. Ein kleines Wolkenfenster öffnete sich und ein Sonnenstrahl richtet sich auf den Freedom Tower in Mitten der Stadt. Er begann an der angestrahlten Seite weißlich zu leuchten, ein schöner Anblick. Im Abteil starrten nun viele aus ihren Fenstern, die schillernde Fassade zog ihre Blicke magisch an und ihr Gesichtsausdruck wurde friedlich. Das Bild erinnerte an einen legendären Zombiehorrorfilm, in dem die Zombies wie versteinert den Himmel erblickten, als die letzten Überlebenden sie mit Feuerwerk überlisteten.
Die Türen öffneten sich und ich wurde durch die ungeduldig drängelnden Mitfahrer zur Tür hinausgeschoben. Ich stand an Track 13. Über mir schloss sich eine weiß leuchtende Hallendecke aus fluoreszierendem, wärmeabstrahlendem Glas. Eine angenehme Wärme, gepaart mit verschiedensten Düften aus kleinen Brotfilialen empfing den Reisenden. „James“, eine freundliche, süß klingende Frauenstimme schallte durch die Halle. Dieses Mal dröhnte es nicht aus dem Parfümabteil. „James, Hi, guten Morgen. Was machst du denn schon so früh hier?“ Eine gute und berechtigte, aber zugleich ungerechte Frage. Warum sollte ich nicht hier stehen? Wie alle anderen, denen ihre Karriere und ihr Job etwas bedeuteten? Sah ich so aus, als wollte ich dies nicht auch? Dabei wurde mein Bart heute Morgen extra auf die Grenzlänge meines Arbeitgebers gestutzt! „Guten Morgen, Susan“, mit einer krächzenden Stimme versuchte ich, die sanft und schön klingenden Worte ihrer zauberhaften Stimme zu erwidern. Zu mehr war ich in diesem Moment nicht fähig, ganz im Gegensatz zu Susan: „Schön dich hier zu sehen. Ich bin heute auch früher dran als sonst, wir haben heute eine Vorstellung unser ersten Entwürfe bei Y-Move. Ich muss dafür noch ein paar Unterlagen erstellen für unsere Lightpresentation am Abend. Heute entscheidet der Markenvorstand von Y-Move über diese Kampagne. Sie ist immens wichtig für uns…“ Was für ein verbaler Überfall auf einen Mann, der sich heute aus dem Bett quälen musste und mit kleinen Pupillen und halb geschlossenen Augen um kurz vor acht auf dem Track stand. „Ein großer Tag heute für dich Susan, da kann ich dir nur viel Erfolg wünschen!“, den ich selbst für mein Controllermeeting auch gut gebrauchen könnte. „Danke James, du hast Recht, damit hätten wir einen der Größten in der Modebranche bei uns als Kunde.“ Susan strahlte mich mit ihren blitzend weißen Zähnen an, als hätte sie gerade 10 Millionen in der Lotterie gewonnen. Toothy schien bei ihr perfekt zu funktionieren. Eigentlich schien bei ihr alles perfekt zu funktionieren. Anfang zwanzig, eine zarte, reine, weiße Haut ohne Falten, Sommersprossen oder sonstigen Makeln. Hellblondes, mittellanges, gesträhntes Haar, in das sich unauffällig noch zwei, drei Farbnuancen geschlichen hatten. Eine Figur, die einen Mann sofort zum Träumen brachte. Sie war, wie Edward sagen würde, der Inbegriff einer Werbegöttin. Manchmal nannte er diese Frauen auch einfacher Werbebitches oder Plakatschlampen, abhängig von seiner persönlichen Stimmung und Situation. Ihr Arsch saß perfekt in einer eng anliegenden schwarzen Stoffhose, klein und rund, wie ich es liebte. Einfach 180 cm Perfektion. Um dieses Gespräch beneideten mich jetzt mindestens 90% der Männer hier in der Station. Schlussendlich durfte aber auch ich sie nicht ficken, obwohl das einer meiner liebsten Träume war. Am liebsten würde ich das jetzt in die umstehenden Gesichter schreien und ihre Reaktionen darauf beobachten. Ein dickerer Herr neben mir im dunklen Anzug fixierte Susan schon eine Weile mit seinen dicken braunen Augen. Wie gerne würde ich diesem nun ins Gesicht schauen und sagen, ich ficke diese junge Frau gleich richtig durch! Aber könnten Sie sie mit Ihren Blicken bitte für mich vollends ausziehen, dann habe ich weniger Aufwand später und wir sehen beide, was darunter steckt!
Das Fickprivileg gebührte ausschließlich dem Leiter unser Businessunit, Gerhard Wagner. Keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, diese Frau zu bekommen, aber der Erfolg schien sich bei ihm nicht nur im Beruflichen widerzuspiegeln. Ich war im Moment gut beraten, meine Finger von Susans schönen Arsch fern zu halten, da meine Qualitäten am Arbeitsmarkt aktuell eher nicht gefragt waren. Wir liefen zum Ausgang der Station. Von dort aus waren es zu Fuß noch 10 Minuten bis zur Firma. Kein größerer Aufwand, da man selbst nicht mehr laufen musste. Vor einem Jahr wurden hier die Transportbänder installiert. Sie verliefen außerhalb der Station zu allen Gebäuden und hatten eine durchschnittliche Geschwindigkeit von 20km/h. Sie beförderten einen in Joggingtempo ins Büro, während man sich gemütlich mit einer hübschen Susan unterhalten konnte, oder besser gesagt von dieser unterhalten wurde. Denn seit wir uns getroffen hatten, prasselten ununterbrochen Worte, Sätze und Phrasen auf mich ein, wie der Regen, der eigentlich vom Wetterbericht vorhergesagt worden war. Mal stärker mal schwächer, mal langsamer mal schneller, plitsch platsch, plitsch platsch. Noch zwei Minuten, dann sollten sich unsere Wege trennen. Die Abteilung „Werbung-Mode“ saß im Komplex AC-4, ich mit meiner Abteilung im AC-6. „Also James, war nett mir dir zu reden. Vielleicht sehen wir uns mal beim Mittagessen oder gehen zusammen joggen. Die haben doch seit zwei Wochen ein neuen, gelenkschonenden Parcour im Park eröffnet.“ „Ja, können wir machen“, erwiderte ich, „aber diese Woche sieht es schlecht bei mir aus. Vielleicht nächste, ich melde mich bei dir. Und viel Erfolg bei deiner Show heute.“ In diesem Moment bog sie auch schon ab und ihr geiler Arsch bewegte sich mit 20kmh von mir weg. Es wurde ruhig und ich lauschte wieder entspannt den Gesprächen der Anderen um mich herum. Noch acht Stunden bis zu meinem Meeting. Mein Magen begann zu grummeln. Für mich zog heute ein Sturm auf und die Vorzeichen dafür waren nicht zu übersehen.
Im Büro war heute Morgen noch nicht besonders viel los. Auf dem Weg zu meiner Workstation begegnete ich nicht mehr als einer Handvoll Leute. Ein Meer aus leeren Schreibtischen füllte den Großraum. Der Blick aus den Fenstern war so grau wie die Schreibtischoberflächen hier drinnen. Überall verwaiste Schreibtische und leere Container. Bei so einem Wetter würde man am liebsten zuhause bleiben und schlafen. Nicht aber wenn ein Meeting anstand. Am Ende des leeren Büros türmte sich eine undurchsichtige Milchglaswand wie eine Nebelbank auf. Um diese zu erreichen lief man etwa 35 Meter durch den Vorhof, wie er von mir immer genannt wurde; der Vorhof zur Hölle. Hinter der Wand lagen die Büros der Werbedesigner, die durch eine milchige, undurchsichtige Tür vom Vorhof der Sachbearbeiter getrennt wurde. An einer dieser Türen stand auf einem titanfarbenen Schild der Name James Corner, direkt unterhalb des Namens Edward Meyers. „James, scheiß die Wand an, was machst du denn schon hier? Hat dich eine Frau frühzeitig aus dem Bett geworfen weil du so scheiße darin warst?!“ Mit diesen Worten empfing mich Meyers überrascht.
„Meyers, hi, schön deinen fetten Arsch so früh am Morgen zu sehen.“ Meyers saß wie immer schon ab sechs Uhr im Büro. Es war, als ob er sein Leben hier in diesem glasigen, durchdesignten Büro verbringen wollte. „Ho ho ho, da ist einer aber ganz schön beschissen drauf heute. Hat dich dein kleiner James mal wieder nach zwei Minuten im Stich gelassen, oder will er gar nicht mehr?“ Sein Lachen und seine Sprüche um diese Zeit waren mindestens so hart wie mein Schwanz beim Duschen heute Morgen, nur eben nicht annähernd so erfrischend. „Meyers, du Penner, ich habe heute unser Meeting mit dem Controlling und die Unterlagen sind nicht annähernd da, wo sie vom Bearbeitungsstand sein sollten. Mal abgesehen davon, dass deine Schuhsohlen voller Dreck sind, sodass ich mal davon ausgehe, dass du zu Fuß vom Puff hierher gelaufen bist.“ Seine Füße zuckten vom Schreibtisch zurück. Normalerweise war das das Bild, welches sich einem Besucher erschloss, der in unser Büro eintrat - die Sohlen von Meyers auf seinem Glasschreibtisch. “Corner, du Arsch, das sind ganz neue Schuhe, Mann. Die waren sau teuer und strahlen dir mit ihren neuen braunen Ledersohlen in dein hässliches Gesicht. Sie leuchten auf dich, also respektier das und freu dich.“ Er stand auf und wackelte auf mich zu, klopfte mir auf die Schulter und stellte die obligatorische Frage: „Kaffee, Trottel?“. Dies war und blieb wohl der Höhepunkt unseres morgendlichen Treffens. Wir hatten uns im Selling-Net eine alte Schweizer Kaffeemaschine bestellt, die wie ein heiliger Schrein in unserem Büro stand. Ein alter, silberfarbener Vollautomat, der verschiedene Kaffeearten zubereiten konnte. Aufgrund seines Alters funktionierte nur noch sein Mahlwerk, so dass die Auswahl auf schwarzen Kaffee begrenzt wurde. Sein Display zeigte nichts an, da die Beleuchtung nicht mehr funktionierte. Meyers hatte über einen Kumpel Connections nach Afrika zu irgendeinem kleinen hinterwäldlerischen Schwarzen, der noch auf klassische Art und Weise Kaffeebohnen anpflanzte und röstete. Einer, der die wenigen Kaffeeliebhaber noch belieferte. Ein Foto von diesem schrägen Vogel hing über der Maschine mit den Worten „Enjoy this original coffee“. Ich weiß nicht, wer diesen scheiß Text erfunden hatte, aber er hing darüber mit handsignierten Unterschriften von William Ernest Tyler und Edward Meyers. Jedes Mal dachte ich mir, dass dieser dubiose Händler ein Vermögen an uns verdiente. Aber dieser Geschmack und der süchtig machende Faktor kamen den guten alten Zigaretten gleich. Diese Kaffeebohnen waren trotzdem illegal, da deren Anbau die Umwelt zerstörte und Europa nur noch synthetisierten Kaffeeimport erlaubte. Unsere Kollegen störte dies nicht, es wurde mehr oder weniger von den meisten geduldet.
Mein Vater hatte auch eine Schwäche gehabt: Zigaretten. Nur konnte er es im Gegensatz zu mir und meiner Kaffeesucht überhaupt nicht kontrollieren. Das war wohl auch der Grund, warum er daran starb. Er war einer der letzten, die an Lungenkrebs starben, bevor das Totalverbot für Zigaretten griff. Genossen hatte er aber jede einzelne seiner zig tausenden Zigaretten. Er war ein Lebemensch, bis er vom Krebs zerfressen wurde. Dabei sah er selbst auf dem Totenbett aus, als zog er gerade noch genüsslich an einer Zigarette. Das lag nun schon 10 Jahre zurück. Meyers schalte die Maschine an. Ein kurzes Klackern ertönte und das Mahlwerk drehte dreimal testweise. Meyers leerte die Bohnen in den Behälter und goss das Wasser aus seiner Wasserbox in den Tank der Maschine. „Yeah Babe, zauber uns nen Kaffee…“ Meyers war schon ziemlich abgedreht, vom Typ her ein Kumpel mit Arschlochmanieren, aber dafür liebte ich ihn. Wir waren uns ähnlicher, als uns lieb war.
„Corner, ich werde heute Abend mit den zwei Mäusen aus der Sensation-Bar ausgehen. Die, die dich so süß fanden!“ Er lachte, weil er merkte, dass er mir damit wirklich voll auf die Eier ging. „Bist du dabei? Wir wollten Richtung Clubbing Xperience im Edison Tower losziehen.“ Meyers hatte vor kurzem bei unserer letzten Bartour zwei Frauen angegraben. Besoffen war er ein Meister im Flirten. Da ich nur halb so besoffen gewesen war wie er, hatte ich die Rolle des Gesprächspartners übernommen. Es waren zwei Sekretärinnen, die unweit unseres Büros arbeiteten. Ihren Geschichten zufolge war zumindest Anna offen für Sex. Sie vögelte gerne nebenher mit ihrem Chef. Dieser hatte ein Büro im 30.Stock. Beim Vögeln konnte sie seine Aussicht genießen. Es bot ihr auch sonst noch weitere Annehmlichkeiten in ihrer Firma.
Sie war dennoch kein Mädchen, das einfach ins Bett zu bekommen war, was sich schnell herausstellte. Sie wollte klassisch erobert werden. Schneller als andere, aber klassisch. An diesem Abend hatte ich aber keine Ambitionen gehabt und der Abend verlief entsprechend. Ich nahm keine Nummer von ihr, nur Edward wollte sie unbedingt wieder sehen. Sie war eine ansehnliche Frau. Etwas zu kleine Brüste, aber das wäre für mich auch okay, zumindest für ein paar Mal. Der Versuch, sie ins Bett zu kriegen, würde mich maximal ein paar Drinks kosten und wenn es nicht klappen sollte, wäre ich von dort aus immer noch schnell in der „Shag Station 6“, um eine billige Nummer durchzuziehen. Nach kurzem Überlegen sagte ich zu, der Tag heute war eh schon bescheiden, da konnte der Abend mit Meyers einen beschissenen Höhepunkt dessen darstellen: „Ich bin dabei, Edward“, erwiderte ich. „Nur lässt du dieses Mal die Finger von Anna, du konzentrierst dich auf ihre Kollegin! Und dieses Mal wird nicht auf dem Klo nachverhandelt, mein Freund!“ Er lachte und hob seine Hand zum Einschlagen. „Corner, schlag ein, wir machen heute die Bräute klar, ohne zu saufen!“. Dieser Satz schallte durch das Büro als auch in dieser Sekunde simultan die Tür aufging und Kollege Walters eintrat. „Guten Morgen, Herr Meyers, Herr Corner. Sie sind schon wieder fleißig am Texten, wie ich sehe.“ Meyers erstarrte, während Walters seinen Überraschungsangriff sichtlich genoss. Meyers sah in seiner Pose kurz vor dem Einschlagen nur dämlich aus. „Klar und guten Morgen Walters, wir haben schließlich hier einen der bedeutendsten Aufträge der ADVERTISING PILOT AG“, erwiderte Meyers. „Was würden wir sonst tun, als unsere Firma in neue Sphären zu katapultieren. Wenn es so weiterläuft, Herr Kollege, ist mein Insidertipp für Sie, kaufen Sie Aktien, Mann…“ Ich unterbrach Meyers mit einem lauten Husten. „Guten Morgen, Walters“, ich reichte ihm meine Hand, um die Aufmerksamkeit von diesem Chaoten Meyers wegzulenken. „Walters, ich brauche heute noch Ihre Hilfe. Wir sind mit der Cellphoning-Kampagne kostenmäßig am Anschlag. Wir stehen an der Wand! Unser Auftraggeber macht Druck, wir brauchen aber mehr Budget. Das wird die größte Kampagne seit der Impfwerbung gegen Aids. Aber eben nur, wenn wir entsprechend Zeit und Geld bekommen. Heute sitzen wir beim Controlling zum Review.“ „Wie soll ich euch dabei helfen?“, fragte Walters. „Wir brauchen Ihre Fachexpertise im neuralen Marketing. Ich habe auch schon einen Plan, zumindest eine grobe Vorstellung.“ Ich klang plötzlich so euphorisch, als würde mir meine Arbeit Spaß machen und ich kurz vor dem nächsten Karriereschritt stehen. Als müsste ich mich in dieser Sekunde bei Walters profilieren, nach dem Motto „Jetzt oder nie!“ „Wir müssen zum CEO von ADVY und ihm diese Kampagne persönlich erläutern.“ ADVY war der Kosename unseres Konzerns. „Die Kampagne darf nicht durch die trägen Ärsche, drei Hierarchiestufen über uns gefiltert werden!“, rief ich. Meyers begann zu lachen. „Meyers, das ist unsere einzige Chance! Das Controlling stoppt heute die Kampagne. Zumindest, was meinen Teil und meine Person angeht“.
Ich hatte die Kampagne vor einem Dreivierteljahr übernommen. Bis dahin war sie von einem Kollegen betreut worden, der bei einem Mobibikeunfall ums Leben kam. Er hieß Vince Jackson und hinterließ nach diesem tragischen Unfall dieses Projekt sowie eine Frau mit drei kleinen Kindern. Ein Systemausfall seines Mobibikes hatte ihn gegen die Glasfront eines Modegeschäfts katapultiert. Beim Durchschlagen der Scheibe schnitt er sich so ziemlich alle obenliegenden Venen auf, weswegen er in kürzester Zeit verblutete. Die Bilder bei Cell-TV zeigten eine Blutlache, als hätte man einen überbesetzten Schweinestall zum Explodieren gebracht. Zu seiner Zeit war diese Kampagne relativ unbedeutend, ähnlich wie Jackson hier im Unternehmen. Sie entstand als Nebenprodukt zu einer Hauptwerbekampagne eines Kunden, der sich an uns wandte, um eine klassische Kampagne für sein Mobiltelefon zu entwerfen. Wir sollten für Noky Cell Phone eine Kampagne entwickeln, die eine neuartige Technik benutzte. Damals war diese Technik noch weit vom Durchbruch entfernt, zumindest wurde dies zu dieser Zeit so an uns weitergegeben. Da ich zu diesem Zeitpunkt im Vision-Phonemarketing war, kam unser Chef nach Jacksons Tod auf mich zu, um mir dieses Projekt beiläufig unterzujubeln. Ich nahm es an, weil ich mehr über diese Technik erfahren wollte und mein Stand in der Abteilung nicht gerade der Beste war.
Ich hatte vor vier Jahren das erste Mal in ScienceVision darüber gelesen, als eine Vision und Möglichkeit in der Zukunft. Ein chinesischer Forscher hatte damals versucht, das neurale Netz des Menschen mit einem Chip zu verbinden. Er wollte diesen über die Neutronentransmitter der menschlichen Nervenbahnen steuern. Anscheinend, so war die Meinung damals, wäre dies in absehbarere Zeit nicht möglich.
Der damalige Ansatz stammte auch aus der pharmalogischen Branche und diente dem Ansatz, den Umgang mit schweren Krankheiten zu erleichtern. Nun stand unglaublicher Weise gerade dieser Durchbruch kurz bevor. Noky Cell Phone hatte einen wichtigen Schritt in diese Richtung geschafft. Gerade ein Telekommunikationsunternehmen! Sie pflanzten einem Menschen einen Chip unter die Haut, der es ihm ermöglichte, ohne Einsatz eines Zusatzgerätes zu telefonieren. Er konnte, einfach gesprochen, diesen Chip über Gedanken bedienen, beziehungsweise diesen durch seine Neurotransmitter steuern. Es war unglaublich. Der Chip empfing diese Transmitter und konnte die Botschaften umsetzen. Ähnlich wie diese uralten Telefone, in die man die Nummern über einen Zahlenblock eintippen musste und der Chip im Gerät diese Informationen verarbeitete. Nur dass die Finger nun durch Neuronen der Nervenbahnen ersetzt wurden. Ein uraltes Prinzip von Anfang des Jahrhunderts, aufgegriffen und perfektioniert. Als Akku diente dabei die Bluttemperatur von 36,3° Grad, die den Chip mit Energie füllte. In einer streng geheimen Besprechung innerhalb des Noky Forschungskomplexes wurde uns ein Prototyp des Chips kurz vorgestellt. Anscheinend war es dadurch dem Nutzer möglich, ein Telefon zu steuern. Dies war nach Meinung der Experten wahrscheinlich die Erfindung in diesem Jahrhundert. Nicht, weil sich dadurch ein Telefon steuern ließ, es stellte einen Durchbruch in der Kybernetikforschung dar. Eine weitere Symbiose der Technik mit dem Menschen.
Und meine Idee war perfekt dazu. Ich überlegte mir vor einem halben Jahr, wie sich eine solche Technik vermarkten ließe. Da fiel mir eine Vorlesungsstunde an meiner Universität ein. Eine der wenigen Vorlesungen, an die ich mich noch erinnern kann. Damals hatten wir in Kommunikationswissenschaften einen jungen Professor. Er glich ein wenig Prof. Merger aus der Fernsehserie „Dead or Alive in Space“. Ein junger, hochaufgeschossener Jüngling, der eher wie achtzehn als fünfunddreißig wirkte. Kein Bart, kurze schwarze, dichte Haare und dunklere Haut. Meist trug er ein einfach gestreiftes Hemd, das für gewöhnlich hinten an seiner Stoffhose heraus hing. Er war ein offener Zukunftsvisionär. Stets schwärmte er von Mobibikes und den transatlantischen Gleitern. Der Professor hatte an einem Donnerstag eine Slideshow aufgelegt. Sie trug den Titel „Transneurales Marketing - der Weg durch das Gehirn zu den Wünschen des Einzelnen“. Eine Unterlage über die gezielte elektromagnetische Stimulation von Hormonen im Gehirn. Dabei werden bestimmte Hirnregionen bestrahlt, um die Neurotransmitter Dopamin und Serotonin zu stimulieren. Diese lösen dadurch ähnlich wie Sex oder Essen Glücksgefühle aus. Zeitgleich wird ein Bild oder Tonsignal an die Ohren und das Auge gesandt, um das Gefühl mit dem Produkt zu verbinden. Dies kann über ein klassisches Bild geschehen oder mittels eines Laserlichts auf die Netzhaut projiziert werden, ohne dass man es wahrnimmt.
Und genau diese Innovation war meine Idee für die Kampagne. Es war für mich eine Symbiose der fortschrittlichsten Techniken. Obgleich ich beide als pervers erachtete und keine von beiden für mich nutzen würde. Aber in mir war diese Schizophrenie aus Technikliebe und Zukunftsangst. Vielleicht trieb mich genau diese Schizophrenie in diese verlogene Branche.
Es gab diese Art des Marketings noch nicht, aber ich wusste von Kongressen, dass einige daran fieberhaft arbeiteten. Im letzten Jahr gab es im Rahmen der Marketing Convention in Hamlin einem Vortrag zu diesem Thema. Dabei sprach Professor Sonnenberg von der Chemical Solutions, einem Biotechnologietochterunternehmen unseres Konzerns, darüber. Ich lernte ihn damals spät abends an der Hotelbar kennen und er erzählte mir sehr viel darüber. Er war eine Koryphäe auf diesem Gebiet. Er widmete sein ganzes Leben dieser Forschung und war zeitgleich einer ihrer größten Kritiker. Er fürchtete den Missbrauch dieser Technik mehr als alle anderen. Dies war für ihn die Motivation, daran zu arbeiten und es als Erster zu schaffen, eine kontrollierte und gewollte Stimulation zu erreichen. Der zufällige Kontakt ermöglichte es mir, diese Technik in meiner Kampagne zu verwenden. Professor Sonnenberg wurde ab diesem Tag mein Coach in neuralem Marketing. Außerdem bot er mir an, als Berater zu fungieren. Ich konnte ihn bei Tag und Nacht kontaktieren.
Walters hingegen lehnte seine Unterstützung ab. Er wollte sich nicht für uns einsetzen. Das wurde durch seine stotternde und stümperhafte Gegenargumentation klar. Er würde wahrscheinlich nicht mal für seine Ehefrau, wenn es um Leben und Tod ginge, einen Termin bei unserem CEO vereinbaren. Damit würde er auffallen, was für ihn eine Katastrophe darstellte. Er hatte nicht das Rückgrat, sich für irgendjemanden einzusetzen. Er war der Inbegriff einer Arbeitsdrohne. Nach weiteren drei bis vier Minuten Smalltalk verließ er den Raum wieder. Wahrscheinlich war auch er erleichtert, als er die Tür hinter sich zuzog. Das Problem war nur, mit ihm schwang auch mein Plan zur Tür hinaus. Ich musste mir etwas Neues überlegen.