Читать книгу Winterbreak - James Corner - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеPiep piep piep piep piep…!
„Guten Morgen Hamlin, es ist sechs Uhr in der Früh und die Stadt erwacht! Im Moment sind die Straßen noch frei, aber es scheint, als beginne der Stau in den kommenden Minuten! Heute erreichen wir Temperaturen von 12 bis 15 Grad im Tagesverlauf, je nachdem, wo ihr euch heute aufhaltet. Der Regen wird uns aber ganzen Tag erhalten bleiben und erst gegen Abend schwächer. Der Wind nimmt im Tagesverlauf ab und wir können endlich darauf hoffen, dass uns das triste Wetter..." Zack! Mit einem Schlag verstummte das Radio, während meine Handfläche am Display entlang hinabglitt. „Ahhh!“ Diese beschissenen Kopfschmerzen von gestern waren immer noch da. Ein unerträgliches Hämmern in meinem Schädel, das mich noch völlig krank machte.
Ab dieser Sekunde begann mein täglicher Kampf ums Wachwerden. Der Kampf, der Morgen für Morgen mit jedem weiteren Jahr schwerer, länger und härter wurde. Vergleichbar mit einer Armee, die gegen einen übermächtigen Dämonen antritt und dabei Stunde um Stunde tapfere Krieger verliert. Selbst die X112-Easy Wake Up Pills wirkten nicht mehr. Ein klassisches Beispiel für eine der Lügen der Werbeindustrie. Klagen half nichts in dieser ausweglosen Situation, ich musste raus aus diesem Bett. Ein beherzter Sprung Richtung Fensterfront leitete den Tag vollends ein. „Jalousie öffnen." Das Sprachkommando löste den morgendlichen Helligkeitsschock aus. Der Blick hinaus war trist, grau in grau. Wieder Regen. Das war nun schon der zwanzigste Tag in Folge. Draußen glich die Welt einer Dusche, die seit Tagen auf Hochbetrieb lief. Meine Dusche hingegen war zehn Schritte von mir entfernt und mein nächster Stopp im morgendlichen Aufstehprozess.
Der Prozess, der meiner Erfahrung nach jeden von uns morgens quälte und folterte. Es war eine Routine, die uns schleichend tötete. „35°Grad Wassertemperatur, bitte mit Wellnesslevel fünf, Dauer fünf Minuten." Die Kommandos hallten durch das weiß geflieste Bad aus hellem Smaranit. Helles, von der Decke emittiertes Diodenlicht erhellte die Dusche. Der Sprachbefehl „Radio an, Station Hamlin 1922", erlöste mich von der unheimlich herrschenden Stille. Ich konnte es nach all den Jahren immer noch nicht leiden, meinen Atem zu hören, und nichts außer mir selbst wahrzunehmen. Es war mir unangenehm. Mit dem Fließen des Wassers nahm der Tag seinen Lauf. Ich fragte mich, welcher Termin heute anstehen würde. Irgendein beschissener Termin am Mittag musste es sein, aber es fiel mir nicht ein. Vielleicht sollte ich mir doch den neuen Applikation-Planer holen? Zumindest wäre dann das Problem mit meinem beginnenden Gedächtnisverlust kompensierbar. Schließlich bin ich auch nicht mehr der Jüngste, dachte ich mir, während das Wasser über meinen Schwanz lief. Beim Duschen hingegen zu wichsen blieb auch mit 33 Jahren ein Hochgenuss am Morgen, der an diesem Tag nach sehr kurzer Zeit abrupt endete. Ein tägliches Highlight, dachte ich mir, während unterdessen schon der Countdown meines Toothcleaners Sekunde für Sekunde weniger wurde. „In zwei Minuten zu strahlend weißen Zähnen, mit dem Toothy UVA. Toothy wünscht Ihnen einen schönen Tag." Vielleicht hätte ich doch ein paar Eurocoins mehr für das werbefreie Modell ausgeben sollen. Generell wäre der Umzug in eine werbeärmere oder gar -freie Zone eine sinnvolle Investition gewesen, anstatt in diese verdreckte Ecke der Stadt. Heute erkannte ich, dass der günstige Mietpreis nur die Rückseite der Medaille war. Das lernte ich durch diese täglichen, unendlichen Botschaften der Industrie, die Jahr für Jahr schlimmer wurden. Selbst im dreißigsten Stock konnte man sich diesem Terror nicht entziehen. Überall war man umgeben von schillernden, audiovisuellen Werbeflächen, Werbelasershows und fliegenden Drohnen mit beschissener Computerwerbung. Wie pervers das Ganze gewuchert war! Wie ein Virusgeschwür, das sich stillschweigend in deinem Hirn ausbreitete, bis es zu spät war. Das Baddisplay zeigte ein Gesicht, das mittlerweile die ersten Falten aufwarf. Seit mehr als drei Jahren erschien nun schon die tägliche Meldung, die Falten bei Eurocosmetics behandeln zu lassen. „Für ein schöneres Aussehen und besseres Leben", so lautete die tägliche Botschaft. Falten schienen also auf unser Bewusstsein mehr Einfluss zu haben als ich mir eingestehen wollte.
„James Corner, Ihre Bartlänge überschreitet die Toleranz Ihres Arbeitgebers und sollte angepasst werden!" Die freundliche Frauenstimme wies einen Mann auf alles Mögliche hin, je nach Konfiguration. Ein meines Erachtens furchtbares Feature, das durch eine Frauenstimme wirkungsvoll unterstützt wurde. Ich hatte mich oft gefragt, wie die Person zu dieser Stimme wohl aussehen würde. In meiner Fantasie steckte eine große Blondine, schlank, mit kleinen Brüsten und vollen Lippen dahinter. Gerne würde ich Sie eines Tages gerne kennenlernen und Ihr meine Bewunderung entgegenbringen. Meine Bewunderung für ihren täglichen, frustprovozierenden Infotainment-Dienst. Kein Mann würde diese Kommandos jeden Morgen von seiner Frau ertragen ohne sie irgendwann zu erschlagen, diese Unbekannte schaffte es dennoch über Jahre.
„James, Ihr Urin weist einen hohen Anteil an Creatinin auf, bitte kontaktieren Sie Ihren Urologen.“ Die Werte zeigten, dass keine akute Gefahr bestand. Fünf mögliche Krankheiten konnten den erhöhten Creatininanteil auslösen. „Ich werde für Ende der Woche einen Check-Up-Termin für Sie vereinbaren!" Große Scheiße, dachte ich mir, dieses System kontrolliert alles. Durch die Einführung von GMS, des Gesundheitsmanagementsystems im letzten Jahrzehnt, wussten dann wirklich alle, wie es um meine Gesundheit stand. Begonnen hatte es mit einfachen, automatischen Krankmeldungen an den Arbeitgeber. Alle waren damals begeistert, wieder eine Erleichterung des sowieso schon leichten Lebens. Über jeden neuen technischen Scheiß, der den Menschen etwas abnahm, freute sich die Nation. Für mich war das nicht gerade die schöne neue Welt. Nun durfte ich mich beim Mittagessen auf die angepasste Speise freuen, die meinen Creatininspiegel senken sollten. Was war eigentlich Creatinin? Scheiße, es interessierte mich eigentlich nicht, eher wohl meine Altersversicherung, meinen Arbeitgeber und meinen Arzt. Ich musste mich beeilen. Der Prozess durfte nicht geändert werden. Die Kleider lagen von gestern noch auf dem Sofa. Sowieso sah das Wohnzimmer sehr heruntergekommen aus, wie alles in meinem Leben. Als ich zur Tür lief, traf mich ein Gedanke wie ein Blitz: der Termin! Heute um 14 Uhr stand ein Meeting mit der Controllingabteilung an und die Unterlagen dafür waren noch lange nicht fertig. Also war doch nicht alles in meinem Leben fertig. Wie ich diese Controller hasste, bohrende, kleine, fiese Nervensägen. Controlling war für mich ein Beruf für Sadisten und Kontrollfanatiker, deren Ziel es war, die Kreativen mit ihrer Kostenarbeit zu versklaven. Kosten waren noch nie mein Thema, und es interessierte mich auch nicht sonderlich. Der Tag heute wurde ein wirklich toller einzigartiger Tag, genauso, wie es die neueste VehicleTransportSystem Werbung, die durch die Wohnung schallte, versprach.
Als ich die Tür unten öffnete, schlug mir wider Erwarten kein Regen ins Gesicht. Der Wetterbericht schien also fehlbar zu sein. Gott sei Dank, dachte ich und schnappte mir ein Mobibike, obwohl diese Dinger bei Nässe der reinste Horror waren. „Bitte geben Sie Ihr Ziel ein", eine freundliche Stimme forderte den Mobibikelenker auf, sein Ziel anzusagen. „6-3-25 Station Metro Süd 6“, sagte ich. „Wählen Sie bitte Ihr Infotainmentprogramm - Wählen Sie bitte Ihr Infotainmentprogramm, keine InEarphones erkannt, bitte nutzen Sie Ihre herkömmlichen Kopfhörer", quäkte die nervige Stimme. Wie jeden Morgen wählte ich den OneWorldChannel. Ich war wahrscheinlich der Einzige, der diesen Sender nutzte. Nachrichten interessierten heutzutage wenig Menschen, stattdessen wollte jeder die Musikvideos von MusicStream mit den perfekten Bodies und eingänglichen Melodien sehen. Um mich herum füllten sich die Straßen. Langsam realisierte ich, dass ich nicht alleine in der Stadt war, nicht einmal kurz vor sieben. 25 Millionen Menschen waren doch nicht zu übersehen. Sie stanken und verbrauchten den Sauerstoff der erwachenden Stadt.
Kurz vor der Magnettrack-Haltestelle verdichtete sich der Verkehr und kam kurze Zeit später zum Erliegen. Das Infotainmentsystem zeigte eine Zwanzig an, die Zeit, die nun für den Stau reserviert war. Nach dem ersten Stopp übernahm der automatische Staupilot die Steuerung. Dieses System wurde entwickelt, um die Stauzeiten maximal zu reduzieren und es wirkte. Zumindest bis die Zahl der Vehicles enorm anstieg. Zwei- oder Vierräder, egal, der Bestand stieg und damit auch wieder die Zeit im Stau. Mein Blick richtete sich nach oben, wo ein wolkenverhangener Himmel aus einer graublauen Farbmischung die Stadt bedeckte. Von hier unten wirkte es, als wanderte ein dicker alter Teppich von links nach rechts und schlug dabei hier und da Wellen auf. Der Counter auf dem Display zeigte eine Zwei an. Mein Ausflug zum Himmel hatte mich mein Umfeld komplett vergessen lassen. „Parkpilot aktiviert – Suche beginnt – bitte warten“. Auch hier schlug mir wieder die tägliche Routine des Prozesses entgegen. „Herr Corner, Sie parken heute in A10-5-53, wir wünschen Ihnen einen schönen Tag, Ihre AutoParking AG.“ Nachdem mein Mobibike nun endlich zum Stehen kam, rannte ich wie vom Sensenmann persönlich verfolgt in Richtung Magnettrack. Dort hatte sich schon eine Traube aus Hunderten von Menschen gebildet, die alle mit dem Transporter ins Industriezentrum wollten.