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1. Verortung des Milderungsgebots im Grundsatz „nullum crimen sine lege“ (Art. 7 EMRK) durch den EGMR

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In der Europäischen Menschenrechtskonvention findet sich keine explizite Regelung des Milderungsgebots. Art. 7 EMRK nennt lediglich das Gesetzlichkeitsprinzip und verbietet rückwirkende Strafschärfungen. Allerdings hat die Große Kammer des EGMR[231] in der Rechtssache Scoppala/Italien aus dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot das Milderungsgebot hergeleitet und als Leitsatz formuliert:

„Inzwischen besteht in Europa und darüber hinaus ein Konsens, dass die Anwendung eines späteren milderen Strafgesetzes ein Grundsatz der Strafrechtspflege ist. Dem trägt der Gerichtshof, der früher anders entschieden hatte, Rechnung und bekräftigt, dass Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) nicht nur garantiert, dass strengere Strafvorschriften nicht rückwirkend angewendet werden dürfen, sondern auch, dass mildere Strafgesetze rückwirkend anzuwenden sind.“

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Dabei stützte sich die Große Kammer maßgeblich auf die internationalen Entwicklungen in Bezug auf das Milderungsgebot, die seit der Entscheidung der EKMR in der Rechtssache „X/Deutschland“[232] stattgefunden haben. Das gelte insbesondere für das Inkrafttreten der Amerikanischen Menschenrechtskonvention, die in Art. 9 die rückwirkende Anwendung eines nach der Tat ergangenen milderen Gesetzes garantiert. Zu erwähnen sei weiter „die Europäische Menschenrechtserklärung, die in Art. 49 I im Wortlaut von Art. 7 EMRK abweicht, und das kann nur bewusst geschehen sein (s. mutatis mutandis EGMR, Slg. 2002-VI Nr. 100 = NJW-RR 2004, 289 = FPR 2004, 275 L – Christine Goodwin/Vereinigtes Königreich), und bestimmt: ,Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe angedroht, so ist diese zu verhängen.‘“ Schließlich habe der EuGH im Fall Berlusconi[233] ausgesprochen, dieser Grundsatz sei Teil der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten. Auch der französische Kassationshof habe diesen Grundsätzen im Urteil vom 19. September 2007 (06–85899) zugestimmt. Schließlich sei die Anwendung des milderen Gesetzes im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs bestimmt und in der Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien bekräftigt. Aus diesen Gründen sei anzunehmen, dass sich in den letzten 40 Jahren in Europa und allgemein international ein Konsens entwickelt habe, dass es ein Grundsatz des Strafrechts ist, das mildere Strafgesetz anzuwenden, auch wenn es nach der strafbaren Handlung in Kraft getreten ist.[234]

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Zur Fundierung des Milderungsgebots legt die Große Kammer[235] dar, dass Art. 7 EMRK zwar nicht ausdrücklich die Pflicht der Konventionsstaaten erwähne, dem Beschuldigten die Anwendung einer nach der strafbaren Handlung ergangenen Gesetzesänderung zugutekommen zu lassen. Es entspreche aber dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, von dem Art. 7 EMRK ein wesentlicher Teil sei, von einem Strafgericht zu erwarten, dass es für jede strafbare Handlung die Strafe verhängt, die der Gesetzgeber für angemessen hält. Zu einer schwereren Strafe nur deswegen zu verurteilen, weil das zur Zeit der Tat vorgesehen war, würde bedeuten, dass man zum Nachteil des Beschuldigten die Regeln über die zeitliche Folge von Strafgesetzen anwendet. Es würde außerdem bedeuten, eine dem Beschuldigten vorteilhafte Gesetzgebung vor der Verurteilung außer Betracht zu lassen und fortzufahren, Strafen zu verhängen, die der Staat und die Gemeinschaft, die er repräsentiert, jetzt für übermäßig hält. Die Verpflichtung, unter mehreren Strafvorschriften die dem Beschuldigten günstigste anzuwenden, sei eine Klarstellung der Regeln über die zeitliche Folge von Strafgesetzen, die einem anderen wesentlichen Element des Art. 7 EMRK entspricht, nämlich der Vorhersehbarkeit von Strafen. Aus diesen Gründen sei es notwendig, von der durch die EKMR im Fall X/Deutschland (1978, DR, Bd. 13 S. 70 ff.) begründeten Rechtsprechung abzuweichen und zu bekräftigen, dass Art. 7 EMRK nicht nur den Grundsatz garantiert, dass strengere Strafvorschriften nicht rückwirkend angewendet werden dürfen, sondern stillschweigend auch den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung milderen Strafrechts. Dieser Grundsatz ergebe sich aus der Regel, dass die Gerichte das Strafrecht anwenden müssen, dessen Vorschriften für den Beschuldigten am günstigsten sind, wenn es Unterschiede zwischen dem Strafrecht gibt, das zur Tatzeit galt, und späterem, das vor dem rechtskräftigen Urteil in Kraft getreten ist. Es soll also das Meistbegünstigungsprinzip gelten.

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Nach Ansicht der Richter Pintol de Albuquerque und Vicinic verstößt die Verhängung eines schärferen Tatzeitrechts nach Erlass eines milderen Gesetzes nicht gegen nullum crimen sine lege und die Vorhersehbarkeit strafrechtlichen Strafens, sondern gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Die Rechtsprechung dürfe das schärfere Tatzeitrecht nicht mehr anwenden, weil die Legislative ihre Bewertung über das Verhältnis zwischen strafbarem Verhalten und Schwere der anwendbaren Strafe geändert habe. Die Anwendung des schärferen Gesetzes trotz entgegenstehenden Legislativaktes führe zu einer widersprüchlichen und deshalb willkürlichen Bewertung desselben Unrechts.[236]

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Auf der Grundlage der Entscheidung Scoppola, dass „Art. 7 Abs. 1 nicht nur das Verbot der rückwirkenden Anwendung schärferen Strafrechts beinhalte, sondern implizit auch das Gebot der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes“[237], bekräftigte der EGMR in mehreren nachfolgenden Entscheidungen die Geltung des lex mitior-Grundsatzes. Hiervon gebe es keine allgemeingültige Ausnahme, da Art. 7 Abs. 2 EMRK „lediglich als kontextuelle Klarstellung der Verpflichtungskomponente“ des in Abs. 1 niedergelegten allgemeinen Rückwirkungsverbots anzusehen sei.[238] Der EGMR konkretisierte die Anforderungen an die Bestimmung des milderen Strafgesetzes dahingehend, dass ein Vergleich der Höchst- mit der Mindeststrafe in abstracto oder der sich an die Höchst- oder Mindeststrafe annähernden nationalen Strafzumessungspraxis nicht genüge[239], sondern Art. 7 Abs. 2 EMRK, wie bereits in der Entscheidung Maktouf and Damjanovi festgestellt, eine konkrete Prüfung der anwendbaren Strafgesetze im Einzelfall erfordere, um die zu erwartenden Strafen für jeden Angeklagten zu ermitteln und die günstigste Strafe anzuwenden.[240]

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