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DIE INNERE HALTUNG IN DER ERZIEHUNG

Alu und Konstantin haben ihre Entscheidung auf der Basis von drei Haltungen getroffen, die der Pädagoge Otto Friedrich Bollnow (1903–1991) als bedeutsam für eine Erziehungsbeziehung benannt hat: Liebe, Geduld und Vertrauen. Oder wie es Friedrich Fröbel (1782–1852), ein anderer deutscher Pädagoge, formulierte: »Erziehung ist Vorbild und Liebe.«

Liebe, Geduld, Vertrauen und Vorbild als Basis

Mit Vorbild ist gemeint, authentisch zu sein und Werte wie Achtung und Respekt vorzuleben. Das bedeutet, dass Eltern ihre Kinder in ihren Alters- und Entwicklungsbesonderheiten respektieren, sie verstehen und ihrer Erziehungsverantwortung nachkommen, wo es wichtig ist.

Liebe umfasst zunächst Selbstliebe. Das bedeutet, sich als Bezugsperson so anzunehmen, wie man ist. Dann kann man die Kinder in ihrer Einzigartigkeit achten, wertschätzen und respektieren, sie so lieben, wie sie sind.

Dann ist da noch die Geduld. Erziehung bedeutet, sich selbst und den Kindern Zeit zu geben, sich zu entwickeln. Und Entwicklung bedeutet für Eltern wie Kinder nicht, dass es stetig aufwärtsgeht. Es ist vielmehr ein Gemenge aus Fortschreiten, Innehalten und Rückwärtsgang.

Und schließlich ist da noch das Vertrauen – das Vertrauen in sich selbst und das Vertrauen, das man in das Kind setzt. Vertrauen ist verbunden mit der Gewissheit, dass die Wirkung von Erziehung nicht vorhergesagt werden kann. Und trotzdem gilt es, in Beziehung zum Kind zu bleiben.

BINDUNG DURCH BEZIEHUNG

Beziehung ergibt sich vor allem dann, wenn ein Kind sich von seinen Eltern so angenommen weiß, wie es ist, und nicht, wie die Eltern es gern hätten. Sichere Bindung ist also keine Frage von zeitlicher Rundumbetreuung, sondern eine Frage der Qualität der Beziehung.

Wenn Kinder spüren, dass die Eltern starke, authentische Persönlichkeiten sind, weil sie sich nicht nur als Eltern definieren, sondern auch als Frau und Mann, stärkt sie das. Sie freuen sich, wenn Eltern da sind, halten aber deren längere Abwesenheiten auch selbstbewusst aus.

Geschwisterkinder wie Clemens müssen sich auf ihre Eltern dann verlassen, wenn diese Entscheidungen treffen, deren Konsequenzen die Kinder nicht zu überblicken vermögen. Das gehört zu einer partnerschaftlichen Erziehung dazu. Eltern und Kinder sind gleichwertig – »gleichwürdig« nennt es der Familientherapeut Jesper Juul (1948–2019) –, die Erwachsenen haben aber eine Erziehungsverantwortung.

Eine Erzieherpersönlichkeit …

… zeichnet sich durch drei Eigenschaften aus:

 Sie übernimmt Verantwortung für die Geschwisterkinder und stellt sich ihr.

 Sie lebt den Kindern Verlässlichkeit vor und ist für sie da, wenn die Kinder Nähe und Geborgenheit brauchen.

 Sie hat Ecken und Kanten, ist authentisch. Sie respektiert die Grenzen der Kinder, zeigt aber auch eigene Grenzen auf.

Eine Erzieherpersönlichkeit sorgt angemessen für sich, weil sie nur dann angemessen für die Kinder da sein und für sie sorgen kann. In diesem Sinne bedeutet Verlässlichkeit nicht, sich den selbst auferlegten Verpflichtungen und Aufgaben unterzuordnen und in der Erziehung aufzugehen wie die Hefe im Kuchen, die dann, wenn der Kuchen gelungen ist, nicht mehr zu sehen ist. Nähe und gebührende Distanz finden gleichermaßen ihren Platz in der Beziehung.

Eine Erzieherpersönlichkeit sieht auch Kinder als Persönlichkeiten an, achtet und respektiert deren Individualität. Das gilt insbesondere für Geschwister. Achtsamkeit und Respekt sind zwei zentrale Pfeiler, auf denen sich tragfähige Erziehungsbeziehungen gründen – Beziehungen, die Krisen und Zumutungen, wie sie das Zusammenleben mit mehreren Kindern mit sich bringt, aushalten.

Über Macht und Verantwortung

Eine Erzieherpersönlichkeit hat Macht, die sich aus ihrer Verantwortung für die Kinder ableitet. Es geht mithin, so hat es Jesper Juul einmal formuliert, nicht darum, ob man als Erwachsener Macht hat, es geht vielmehr darum, wie diese Macht eingesetzt wird – ganz im Sinne von Verlässlichkeit, Verbindlichkeit und Verantwortung.

Man muss sich als Eltern dieser Machtfrage stellen, besonders dann, wenn man es mit mehreren Kindern zu tun hat. Wer das nicht tut, bekommt Probleme beim erzieherischen Handeln: Entweder man handelt autokratisch, von oben herab, und lässt die verbalen Muskeln spielen, im Sinne von: »Wir wollen doch mal sehen, wer hier gewinnt!« Dann begibt man sich mit dem Kind in einen Machtkampf, der nur zu Verletzungen führt. Oder man zieht sich aus der Erziehung zurück, weil man keine Macht ausüben will. Da aber Erziehung mit Beziehung zu tun hat, bedeutet diese Haltung, dass man sich aus der Beziehung zurückzieht und die Kinder allein lässt. Kinder brauchen jedoch Bindung, Nähe und Zuwendung. Daher machen sie in diesem Fall so lange auf sich aufmerksam, bis man sie wahrnimmt und ihnen Aufmerksamkeit schenkt.

Rudolf Dreikurs (1897–1972), seit den 1960er-Jahren einer der wichtigsten Erziehungsberater, hat in diesem Zusammenhang auf einen wichtigen Punkt verwiesen: Wenn Kinder durch positive Handlungen keine Aufmerksamkeit bekommen, versuchen sie es auf andere Weise. Durch negative, durch störende, grenzüberschreitende Aktionen ist ihnen Zuwendung gewiss. Ein Geschwisterkind, das übersehen wird, handelt nach diesem Grundsatz. Auch eine negative Zuwendung ist eine Zuwendung, besser so eine als gar keine.

PARTNERSCHAFTLICHE ERZIEHUNG

Dreikurs, ein Schüler des Wiener Individualpsychologen Alfred Adler (1870–1937), hat in all seinen Veröffentlichungen für eine »partnerschaftliche Erziehung« plädiert. Partnerschaftlichkeit in der Erziehung sei nicht gleichzusetzen mit Gleichrangigkeit, aber mit Gleichwertigkeit. Jesper Juul spricht – wir haben es erwähnt – von »Gleichwürdigkeit« von Eltern und Kindern. Um die beiden Begriffe »Gleichrangigkeit« und »Gleichwertigkeit« unter dem Gesichtspunkt der Erzieherpersönlichkeit nochmals differenzierter zu beleuchten: Eltern und Kinder sind nicht gleichrangig. Eltern sind – so auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes – älter als ihre Kinder. Sie verfügen über Lebenserfahrungen, auf die sich die Heranwachsenden verlassen müssen. Eltern haben einen Erfahrungsvorsprung gegenüber Kindern. Solch ein Erfahrungsvorsprung ist wichtig, wirkt allerdings kontraproduktiv und belastend auf die Erziehungsbeziehungen, wenn er als elterliche Besserwisserei oder Bevormundung daherkommt.

»Solange deine Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln, wenn sie größer werden, schenk ihnen Flügel.« Dieser Satz, der unter anderem Khalil Gibran zugeschrieben wird, bildet ein zentrales Anliegen einer bindungsorientierten Pädagogik, wie sie Nora Imlau vertritt: Eltern stellen die Wurzeln dar, die den Kindern Halt geben. In welche Richtung die Kinder aber tatsächlich wachsen, darauf haben Eltern nur begrenzt Einfluss, denn es gibt trotz aller Erziehungsbemühungen keine Garantie. Das bedeutet freilich nicht, auf Erziehung zu verzichten. Aber sie stellt eben eine andauernde Bemühung dar. Das weiß jeder, der Kinder – zumal in der eigenen Familie – ins Leben begleitet.

Geschwister - eine ganz besondere Liebe

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